Magazinrundschau

Mitglied der prophetischen Spezies

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.12.2023. Der New Yorker erforscht mit Microsofts Kevin Scott und OpenAIs Mira Murati die positiven Seiten Künstlicher Intelligenz. Die Autoren Jenifer Becker und Juan S. Guse lassen sich für die Neue Rundschau von ChatGPT - fast - eine Erzählung schreiben. Bei Quillette fragt der Philosoph Michael Walzer, was eigentlich eine angemessene Antwort auf den Überfall der Hamas wäre. Pakistan will Millionen Afghanen deportieren, aus Angst, sie könnten Terroristen sein, berichtet Himal.

New Yorker (USA), 11.12.2023

Seit Jahren arbeiten Microsoft und OpenAI daran, künstliche Intelligenz sicher und für möglichst viele Nutzer zugänglich zu machen, jetzt hätte ein Coup gegen den OpenAI-CEO Sam Altman dem Ganzen beinahe den Garaus gemacht, erzählt Charles Duhigg. Altman war kurz vor Thanksgiving ab- und ebenso schnell wieder eingesetzt worden, an seiner statt müssen nun einige Aufsichtsratsmitglieder gehen, die Angst vor den Möglichkeiten der KI bekommen hatten. Die große Skepsis ist sicher berechtigt, was aber manchmal vielleicht zu kurz kommt - vor allem in der deutschen Berichterstattung - sind die Chancen, die KI bietet: zum Beispiel für jemanden wie den 1972 geborenen Kevin Scott, der in einer armen Familie aufwuchs und als erster in der Familie ein College besuchte. Heute ist Scott Chief Technology Officer von Microsoft und maßgeblich für die Zusammenarbeit mit OpenAI verantwortlich. Ein Teil seiner Agenda war von Anfang an, wie er in einem Memo an seinen Chef erklärte, "Menschen zu fördern, die normalerweise von der Technologiebranche ignoriert werden. Für Hunderte Millionen von Menschen, so sagte er mir, seien die Vorteile der Computerrevolution weitgehend unerreichbar, es sei denn, man könne programmieren oder arbeite für ein großes Unternehmen. Scott wollte, dass die künstliche Intelligenz die Art von einfallsreichen, aber digital ungebildeten Menschen, unter denen er aufgewachsen war, befähigt." Sein Optimismus wird geteilt von der 1988 in Albanien geborenen Mira Murati, die ihm bei OpenAI am nächsten steht. "Wie er war sie in Armut aufgewachsen. Als sie 1988 in Albanien geboren wurde, hatte sie mit den Folgen eines despotischen Regimes, dem Aufstieg des Gangsterkapitalismus und dem Ausbruch des Bürgerkriegs zu kämpfen. Sie bewältigte diese Umwälzungen durch die Teilnahme an Mathematikwettbewerben. Ein Lehrer hatte ihr einmal gesagt, dass, solange sie bereit war, um Bombenkrater herum zu navigieren, um zur Schule zu kommen, er dies auch tun würde. Als Murati sechzehn Jahre alt war, erhielt sie ein Stipendium für eine Privatschule in Kanada, wo sie hervorragende Leistungen erbrachte. 'Ein großer Teil meiner Kindheit bestand aus Sirenen und Menschen, die erschossen wurden, und anderen schrecklichen Dingen', erzählte sie mir im Sommer. 'Aber es gab auch Geburtstage, Verknalltheit und Hausaufgaben. Das lehrt einen eine gewisse Hartnäckigkeit - daran zu glauben, dass die Dinge besser werden, wenn man weiter an ihnen arbeitet.'"

Weiteres: Parul Seghal überlegt, was einen guten Kritiker ausmacht. John Adams denkt über musikalische Denkmäler nach. Alex Ross hörte "eine schillernde Auswahl neuer Musik" beim California Festival unter Esa-Pekka Salonen. Anthony Lane sah im Kino Yorgos Lanthimos' Film "Poor Things" mit Emma Stone, Willem Dafoe und Mark Ruffalo.
Archiv: New Yorker

Neue Rundschau (Deutschland), 01.11.2023

Die Neue Rundschau, ehrwürdiges Institut des S. Fischer Verlags, will sich neu ins Spiel bringen und stellt neuerdings zwei Texte pro Nummer online. Die Autorin Jenifer Becker und ihr Kollege Juan S. Guse, beide einigermaßen jung, stellen in einem faszinierenden Text ein Experiment vor, das die Verlagsbranche, die Feuilletons und die Autorenschaft wird erschauern lassen: Sie erstellen mit ChatGPT eine Erzählung. Dabei machen sie es sich nicht einfach: Sie füttern das Programm mit "Prompts", Handlungsanweisungen, nehmen sich aber vor, so wenig wie möglich in den dann entstehenden Text einzugreifen. Offen berichten sie, dass das ganz schön ruckelt, und dennoch ist das Ergebnis, das nicht ganz ohne Hilfestellung von Autoren und Lektoren auskommt, unheimlich (im Wortsinn) beachtlich. Auch die Verlagsabteilungen besonders für jene Bereiche, die man mal "Trivialliteratur" nannte, werden aufmerken: denn ChatGPT liferte "beeindruckende hundert Normseiten in nur zwei Stunden". Die so entstandene, in Australien spielende Erzählung "Alpha Centauri in Ewigkeit" beginnt so: "Die Sonne senkte sich am westlichen Horizont und tauchte die australische Wildnis in warmes orangefarbenes Licht. Ich rieb mir den Staub aus den Augen und starrte auf die verblasste Landkarte, die auf meinem Schoß lag. Thomas' Blick fixierte den sich langsam verdunkelnden Himmel. Mit einer berechnenden Ruhe versuchte er, unsere Position anhand der ersten sichtbaren Sterne zu bestimmen. Seine Handbewegungen, präzise und methodisch, skizzierten unsichtbare Linien zwischen den funkelnden Punkten. 'Wir sollten etwa hier sein', sagte er und zeigte auf einen unscheinbaren Punkt auf der Karte. Thomas war gut darin, selbst in den chaotischsten Momenten Stabilität zu suggerieren."

Ebenfalls online: ein Text von Kathrin Röggla über das Zuhören.
Archiv: Neue Rundschau

Quillette (USA), 01.12.2023

Kann man angemessen und proportional auf einen Angriff wie den der Hamas am 7. Oktober reagieren? Nicht, wenn es nach dem Willen der Hamas geht. Israel ist in Gaza in einem asymmetrischen Krieg gefangen, und die Hamas tut alles, damit das so bleibt, schreibt der Philosoph Michael Walzer. "Die gesamte Zivilbevölkerung absichtlich in Gefahr zu bringen, ist eine militärische und politische Strategie. Sie zielt darauf ab, es dem Feind unmöglich zu machen, zu kämpfen, ohne Zivilisten zu töten. Dies war die Strategie der Hamas in all ihren Kriegen mit Israel; sie verankert ihre Kämpfer in den Wohnvierteln der Städte des Gazastreifens und in den Einrichtungen, die der Zivilbevölkerung dienen. Sie lagert Raketen in Moscheen und Schulen, stellt ihre Kommunikations- und Kontrollzentren in oder unter Krankenhäusern auf und feuert Raketen von Schulhöfen und Krankenhausparkplätzen ab. Das ist Makro-Imoral. Jeder tote Zivilist ist ein politischer Gewinn für die Hamas, und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass sie keine zivilen Schutzräume baut (im Gegensatz zu den Tunneln, die nur Kämpfer schützen). Je mehr tote und verletzte Zivilisten es gibt, desto mehr wird Israel für das Töten verantwortlich gemacht. Es verliert an politischer Unterstützung und gerät zunehmend unter Druck, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, bevor es den Krieg gewonnen hat - was der Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen überlassen würde, triumphierend und bereit, den nächsten Terroranschlag zu starten. Und dann müssten wir sagen, dass die Strategie funktioniert hat." Israel hingegen "profitiert definitiv nicht" von toten palästinensischen Zivilisten, erinnert Walzer. "Was auch immer es militärisch gewinnt, wenn es Ziele trifft, die in der Zivilbevölkerung eingebettet sind, es verliert politisch durch den Tod von Zivilisten, den es verursacht. Es ist also äußerste Vorsicht geboten. Wenn man davon ausgeht, dass die militärische Führung Israels zumindest ein Mindestmaß an Vernunft an den Tag legt (und die moralische Verrücktheit der politischen Führung außer Acht lässt), hat Israel heute nicht die Absicht, Zivilisten zu töten. Aber die Moral erfordert mehr als das: Israel muss die Absicht haben, keine Zivilisten zu töten. Es muss positive Maßnahmen ergreifen, um die Zahl der Toten, die es verursacht, zu minimieren. Auch das ist ein Erfordernis der Rationalität."
Archiv: Quillette

New Lines Magazine (USA), 05.12.2023

Jessica Roy wirft einen Blick auf den allerneuesten Tik Tok Trend, dem sich die Generation Z in der Folge der aktuellen Ereignisse in Nahost widmet: Influencer haben nach den Massakern der Hamas und der darauffolgenden Militäroffensive Israels den Islam für sich entdeckt, manche konvertierten sogar. Klingt verrückt? Ist aber so. Am 20. Oktober postete die Influencerin Rice Folgendes auf Tik Tok, erzählt Roy: "'Nein, aber können wir kurz über den palästinensischen Glauben sprechen? Weil ich so etwas noch nie gesehen habe. Ich habe buchstäblich Videos von Menschen gesehen, die alles verloren haben, sogar ihre Kinder, und sie halten ihre toten Kinder in den Armen und danken Gott immer noch und bitten ihn, sich von dort aus um ihre Kinder zu kümmern.'" Ihr Post erhält zahlreiche Kommentare, Menschen, die ihre Faszination für den unbedingten Gottglauben der bombardierten Palästinenser teilen. Wenig später, erzählt Roy "nahm Rice ihre Schahada" und legte das muslimische Glaubensbekenntnis ab. Die Zahl ihrer Follower hat sich seitdem verdreifacht, und immer mehr folgen ihrem Beispiel, was Roy ziemlich problematisch findet: "Dies wurde besonders deutlich, als Osama bin Ladens 'Brief an Amerika' am Mittwoch, dem 15. November, auf TikTok und im Discord-Kanal des World Religion Book Club viral ging und von einer großen Zahl von Menschen - von denen viele zu jung waren, um unmittelbar nach dem 11. September politisch aktiv zu sein - gelobt wurde. 'Dieser offene Brief von Osama Bin Laden ist sehr verdammenswert für Amerika', schrieb ein Discord-Nutzer, 'Er enthält nur Fakten.'" Rice hat TicToc inzwischen aufgegeben, weil strenggläubige Muslime sie immer wieder kritisiert hatten, "wie sie in einem neuen Video erklärt, das sie mit '#harampolice really don't want reverts to stay in Islam! 😂 Y'all need HALP.' 'Die Haram-Polizei - Mann, sind die furchtbar", sagt sie und bezieht sich dabei auf ultrakonservative Muslime, die damit begonnen haben, ihr Verhalten online zu überwachen. "Sie sind so schlimm. Ich bekomme ständig Mails und Kommentare von Leuten, die mir sagen: 'Du musst jedes einzelne Video auf deiner Seite löschen, in dem du keinen Hijab trägst.' Eigentlich, Sir und Ma'am, muss ich nichts von dem tun, was Sie mir sagen. Diese Videos waren vor meiner Shahada, kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten. Es ist eine Frechheit, dass Leute, die mich nicht persönlich kennen, sich berechtigt fühlen, mein Leben und meinen Glauben zu kommentieren und mir sagen, was ich tun soll.'"

Larisa Jasarevic besucht Imker in Bosnien, die verzweifelt versuchen, ihre Honigbienen durch den Winter zu bringen. Der durch den Klimawandel verursachte Temperaturanstieg verändert die Flora des Landes, die Bienen finden nicht mehr genug Blüten, um den Honig zu produzieren, der nicht nur die Imker, sondern auch sie selbst am Leben erhält. Es sind kleine Zeichen, wie die Haselnusskätzchen, die viel zu früh im Jahr blühen, die "ein verräterisches Zeichen für eine leise, sich anbahnende Katastrophe sind, die den örtlichen Honigbienen zum Verhängnis wird", weiß die Forscherin. Den Imker Mehmed hat sein Glaube zu den Bienen gebracht, verrät er Jasarevic: "Mehmed ist der Sohn eines Imkers, aber er hat sich den Bienen zugewandt, wie er oft sagt, weil er an der Universität Islamwissenschaften studiert hat. Als junger Mann, der sich zum Imam ausbilden ließ, grübelte Mehmed über Koranzeilen nach: 'Und dein Herr offenbarte der Honigbiene'. Dann fiel es ihm auf: Jede Biene, der er auf seinem heimischen Bienenstand begegnete, war ein Mitglied der prophetischen Spezies. In der Gegenwart der Bienen konnte er die Offenbarung beobachten, nicht als Schrift, nicht als abstraktes Konzept der Rede Gottes, sondern als einen fortlaufenden Akt der Erhaltung der Welt."

Desk Russie (Frankreich), 25.11.2023

So irreführend die postkoloniale Sicht auf den Nahostkonflikt ist, so fruchtbar ist sie im Blick auf den anderen aktuellen Krieg - nur dürften Russland und die Ukraine in der Agenda der meisten Postkolonialisten kaum vorgekommen sein, weil die Täter nicht im Westen und die Opfer weiß waren. Mykola Rjabtschuk analysiert die falschen, von Russland geprägten Schemata, in denen viele westliche Historiker, Politologen und Politiker über Osteuropa dachten und denken. Gerade die "politischen Realisten", die im Westen in "Einflusssphären" dachten und viele westliche Politiker sind in ihrer angeblichen Nüchternheit dem Irrationalismus des russischen Imperialismus auf den Leim gegangen: Denn "es handelt sich um einen 'Kulturkrieg', einen Krieg um Geschichte und Identität, der nicht in die Theorie der politischen Realisten passt, die glauben, dass es in den internationalen Beziehungen in erster Linie um die Anhäufung von Macht und Reichtum und um die Stärkung der Sicherheit geht. Sie verfügen über wenig oder gar keine fachliche Expertise zur Ukraine oder zu Russland, geben aber reichlich Ratschläge, wie man den Krieg beenden und eine 'Verhandlungslösung' erreichen kann. Sie sind davon überzeugt, dass alle politischen Akteure rational und kompromissfähig sind, und können einfach nicht davon begreifen, dass einige Führer irrational und paranoid handeln."
Archiv: Desk Russie

American Purpose (USA), 20.11.2023

Jeffrey Herf geht jener "bizarren Verschmelzung der islamistischen Rechten und der säkularen Linken" auf den Grund, in der Linke zum ersten Mal seit dem Hitler-Stalin-Pakt gemeinsame Sache mit einer Bewegung der extremen Rechten machen. Die Ideologie der Hamas wurzele einerseits in einer radikalisierten Religion und andererseits im Faschismus, mit dem die Muslimbrüder, aus denen die Hamas hervorgegangen ist, in der Nazizeit paktierten. In seinem Artikel erzählt Herf, wie sich diese religiösen Nazis mit großen Erfolg für die westliche Linke schön machten, indem sie die krassesten antisemitischen Verschwörungstheorien aus der Charta von 1988 in der neuen Charta von 2017 strichen. Der extreme religiöse Fundamentalismus und das Bestreben, sämtliche Juden aus Israel zu vertreiben, blieben zwar, waren aber für die postkoloniale Linke fortan viel leichter zu verdrängen. In der Charta, die sich teilweise wie die "Jeruslamer Erklärung" liest, "stellt sich die Hamas einen Staat vor, der sich 'vom Jordan im Osten bis zum Mittelmeer im Westen und von Ras Al-Naqurah im Norden bis bis Umm Al-Rashrash im Süden' erstreckt. Dieses Gebiet umfasst das gesamte Gebiet des heutigen Staats Israel. Daher ist der Ruf 'vom Fluss bis zum Meer', der seit 2017 an den Universitäten und nun auch auf den Straßen von Washington, D.C., New York und London erschallt, eine Abkürzung für den 'Das Land Palästina' betitelten Absatz der Hamas-Charta von 2017."
Stichwörter: Herf, Jeffrey, Hamas

HVG (Ungarn), 30.11.2023

Die ungarische Regierungspartei brachte unter dem Namen "Souveränitätsverteidigung" ein Gesetzesvorhaben vor das Parlament, nachdem durch eine einzurichtende Behörde Organisationen, Personen aber auch einzelne Produkte als für die ungarische Souveränität bedrohlich eingestuft werden können, zumal wenn diese finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Von der Regierung unabhängige Medien aber auch Kulturinstitutionen sind auf solche Gelder angewiesen, anderenfalls ist ihr Überleben lediglich eine Frage der Zeit. Die ehemalige Chefredakteurin des einstmals größten unabhängigen Nachrichtenportals Index.hu, Veronika Munk, gründete nach der Übernahme des Portals durch regierungsnahe Unternehmer zunächst die unabhängige Nachrichtenseite telex.hu und ging dieses Jahr dann in die Slowakei zu Denník N. Zum Vorhaben der ungarischen Regierung meint sie: "Das 'Büro zum Schutz der Souveränität', das eingerichtet werden soll, wäre in der Lage, nicht nur die Kandidaten zur Wahl zu überprüfen, sondern auch Organisationen, die aus dem Ausland finanziell unterstützt werden und in der Lage sind, 'den Wählerwillen und die demokratische Debatte zu beeinflussen'. Wer soll das sein? Kann man den Zeitungsartikel, den Journalisten oder die Redaktion, vielleicht auch den Geistlichen, den Bürgeraktivisten, den Gewerkschaftsführer als Gestalter der demokratischen Debatte oder des Wählerwillens bezeichnen? In dem Vorschlag wird nicht präzisiert, was mit 'Organisationen', was mit 'demokratischer Debatte', was mit 'Beeinflussung des Wählerwillens' gemeint ist. (...) Das Souveränitätsgesetz zielt genau darauf ab, wen oder was die Behörden jetzt oder in den kommenden Jahren als Bedrohung betrachten möchte. Es ist nicht geschrieben worden, für wen das Damoklesschwert bestimmt ist, damit möglichst viele Menschen es sich über ihren Köpfen vorstellen können."
Archiv: HVG

The Insider (Russland), 05.12.2023

"Damit Russland souverän und stark sein kann, muss es mehr von uns geben", zitiert Anna Sidorewich Wladimir Putin in The Insider. Der Präsident versuche in seinem Land durch restriktive Maßnahmen, zum Beispiel den beschränkten Zugang zu Abtreibungen und Medikamenten, die Geburtenrate anzukurbeln. Das erinnert Sidorewich an die junge Sowjetunion: "In den 1920er Jahren legalisierte der junge Sowjetstaat als erstes Land der Welt die Abtreibung - nur um sie 1936 erneut zu kriminalisieren, und zwar fast 20 Jahre lang, bis sie schließlich 1955 legalisiert wurde. Da es keine Sexualerziehung gab und es an hochwertigen und erschwinglichen Verhütungsmitteln mangelte, wurde die Abtreibung zum wichtigsten Mittel der Geburtenkontrolle für sowjetische Frauen. Und sie nutzten sie ausgiebig: Mit durchschnittlich drei bis vier Abtreibungen pro Frau stand die UdSSR weltweit an erster Stelle der Abtreibungsrate." Die erneute Kriminalisierung änderten daran nur kurzfristig etwas. "Die vorhandenen Statistiken weisen auf einen deutlichen Rückgang der Abtreibungsrate in den ersten beiden Jahren nach der Kriminalisierung der Abtreibung in der UdSSR im Jahr 1936 hin, aber die Zahlen stiegen bald wieder an. Was die Geburtenrate betrifft, so hat das Verbot nur zu einem kurzzeitigen Anstieg geführt: Die Kriminalisierung der Abtreibung war ein Schock, aber die Frauen haben sich mit der Zeit an die neuen Gegebenheiten angepasst, und die durchschnittliche Geburtenrate hat sich nicht dramatisch verändert. In der Zwischenzeit wurden kriminelle Abtreibung und Selbstabtreibung zur Normalität, und die Zahl der sepsisbedingten Todesfälle bei Frauen vervierfachte sich."
Archiv: The Insider
Stichwörter: Russland, Abtreibung

Himal (Nepal), 27.11.2023

Fast unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit hat Pakistan entschieden, Millionen Afghanen, die zum Teil seit 1980 im Land leben, nach Afghanistan zu deportieren. Der Grund ist laut Premierminister Anwar-ul-Haq Kakar, dass die afghanischen Taliban seit 2021 Terrorgruppen wie Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), den Islamischen Staat Khorasan (IS-K) und zahlreiche separatistische Gruppen der Belutschen unterstützten, berichtet Salman Rafi Sheikh. "Die TTP hat in den letzten Jahren mehrere Anschläge in Pakistan verübt, ebenso wie der IS-K, bei dessen äußerst raffinierten Anschlägen unter anderem im Juli 2023 54 Menschen getötet wurden. Separatistische Gruppen der Belutschen, die in dem seit langem andauernden Aufstand gegen die pakistanische Herrschaft in Belutschistan aktiv sind, haben in der Vergangenheit Zufluchtsorte in Afghanistan gefunden. Politische Entscheidungsträger in Pakistan scheinen zu glauben, dass Afghanistan für anti-pakistanische Elemente attraktiver geworden ist, und machen dafür eindeutig die Taliban verantwortlich. Ein Beamter des pakistanischen Innenministeriums sagte mir unter der Bedingung der Anonymität: 'Alle in Afghanistan ansässigen Gruppen haben es nur auf Pakistan abgesehen. Der IS-K hat China und Russland nur einmal in Afghanistan angegriffen. Aber Pakistan wird seit dem Abzug der USA sowohl innerhalb Afghanistans als auch innerhalb seiner eigenen Grenzen angegriffen.' Der Beamte bezog sich dabei auf Anschläge innerhalb Pakistans sowie auf die pakistanische Botschaft in Kabul im Dezember 2022, für die der IS-K die Verantwortung übernahm. Die militante Gruppe bekannte sich auch zu einem Selbstmordanschlag auf das Außenministerium in Kabul im Januar 2023, an einem Tag, an dem eine chinesische Delegation Gespräche mit den Taliban in der Region führen sollte. Zuvor, im September 2022, hatte sie einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul verübt, bei dem zwei russische Diplomaten ums Leben kamen. Der Beamte sagte, dass 'dies möglich geworden ist, weil - und wir haben Gründe dafür, dies zu glauben - die afghanischen Netzwerke, die in Pakistan ansässig sind' - d.h. afghanische Flüchtlinge - 'als Kanäle für Terrorgruppen fungieren, um einzudringen und Anschläge zu verüben ... Ihr Ziel ist es, die Grenze [gemeint ist die Durand Line, d.Red.] irrelevant zu machen und pakistanisches Gebiet zu kontrollieren'."
Archiv: Himal