Magazinrundschau - Archiv

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23 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 3

Magazinrundschau vom 23.04.2024 - New Lines Magazine

In den USA boomt die "Reproduktionsindustrie", stellt Paige Bruton fest und erhält in ihren Gesprächen mit verschiedenen Akteuren zum Teil dystopische Einblicke in die Branche. Das Geschäft mit Eizellen-Spenden ist sowohl für Unternehmen als auch für Spenderinnen eine lukrative Sache: ein kalifornisches Unternehmen, das im Beitrag nicht identifiziert werden will, sagt Bruton, dass eine Frau mit dem Abschluss einer renommierten amerikanischen Universität bis zu 150.000 US-Dollar für ihre Eizellen-Spende bekommen kann. Nicht nur den Uni-Abschluss können sich die Eltern bei ihren Spenderinnen aussuchen, sondern auch Haar-und Augenfarbe, Körperbau, Größe, Ethnie und bei manchen Agenturen sogar Eigenschaften wie eine musikalische Begabung. Bei den sogenannten Designerbabies gilt auf jeden Fall, so Bruton, je spezifischer desto teurer. Dr. Wendy Chavkin, Professorin an der Columbia-University, erzählt Paine, dass nicht nur genetische Merkmale, die konventionellen Schönheitsidealen entsprechen, als höherwertig eingestuft werden, sondern auch manche Ethnien den Vorzug erhalten: "Weiße, jüdische oder ostasiatische Spender werden von Kliniken und Wunscheltern bevorzugt behandelt und manchmal auch besser bezahlt. Sie argumentiert, dass die Industrie nicht nur die Körper von Frauen zu Waren macht, sondern auch rassistische und exklusive Schönheitskonventionen bedient, die 'gegen jedes Glaubenssystem verstoßen, das wir haben'. Wie in jeder Branche, so Bruton weiter 'hat sich auch hier ein Angebot an vermeintlich besseren oder Nischenleistungen entwickelt. Wenn wir auf Mädchen stoßen, die als Spenderinnen in Frage kommen oder die ein frohes Herz haben, sprechen wir sie an', sagt Alexis Fuller, die Geschäftsführerin von Golden Egg Donation, einer Agentur mit Sitz in Calabasas, Kalifornien, die sich auf das spezialisiert hat, was sie auf ihrer Website als 'Top-Qualitätsfrauen von innen und außen' bezeichnet."

Michal Kranz beleuchtet das Schicksal vieler Tadschiken, die vor Repression und Verfolgung aus ihrem Heimatland fliehen müssen. Vor allem Mitglieder der "Pamiri", einer ethnischen Minderheit in Tadschikistan, werden vom Regime Emomali Rahmons, der das Land seit dreißig Jahren regiert, marginalisiert, so Kranz. In den letzten Jahren steigerte sich die Unterdrückung zu einer systematischen Zerstörung der pamirischen Kultur: Die Pamiris haben ihre eigene Sprache, berichtet Kranz, und im Gegensatz zur Mehrheit in dem mehrheitlich sunnitischen Land praktizieren sie den Ismailismus, eine Untergruppe des schiitischen Islam. Ihre Art muslimische Feiertage zu feiern, wirkt auf andere Muslime befremdend, meint Kranz, oft werden dabei Lieder gesungen. Ziel der Flucht der meisten Pamiri ist Polen, was angesichts der rechten Regierung der letzten Jahre überraschen kann. Doch das Land hat unkomplizierte Aufnahme-Regelungen für die Schutzsuchenden und wird für viele so zu einer neuen Heimat. Die Angst vor Verfolgung können viele allerdings nicht ablegen, wird Kranz bei seiner Recherche bewusst: "Nach einem kürzlichen Treffen von Gemeindeleitern strömten Menschen aller Altersgruppen in ein unscheinbares Gemeindezentrum im Süden Warschaus, um dort zu feiern. Obwohl der freiwillige ismailitische Sicherheitsbeamte mir nicht erlaubte, die Versammlung von oben zu beobachten, sah ich ältere Frauen, die Teller mit Essen trugen, junge Männer mit Akustikgitarren in der Hand und modisch gekleidete Frauen, die sich untereinander unterhielten, als sie hineinströmten. Wie üblich trug fast keine der Frauen einen Hidschab oder eine andere Kopfbedeckung. 'Wir waren uns einig, dass dies ein Ort sein sollte, der frei von Politik ist, ein Ort, an dem man sich trifft, isst und zusammen ist', sagte mir ein Mann, der aus Angst vor Konsequenzen seinen Namen nicht nennen wollte."

Magazinrundschau vom 26.03.2024 - New Lines Magazine

Floriana Bulfon offenbart die dunkle Seite der malerischen toskanischen Landschaften: unter der Aufsicht sogenannter "caporali", Bandenchefs, die mit den Obst-und Gemüsefarmern kooperieren, arbeiten geflüchtete Frauen unter fürchterlichen Bedingungen. Vielen von ihnen kommen aus dem subsaharischen Afrika, berichtet Bulfon, haben keine Arbeitserlaubnis und werden vom Staat im Stich gelassen. Auf den Plantagen und Feldern arbeiten sie bis zu 13 Stunden am Tag, so Bulfon, sie erhalten kaum Lohn (noch weniger als männliche Arbeiter) und sind oft der sexuellen Belästigung und Missbrauch durch die "corporali" ausgeliefert. Sonya, eine 30-jährige Wanderarbeiterin aus Indien, die Bulfon getroffen hat, erzählt, dass sie aufgrund der harten Arbeit in der Kälte eine Fehlgeburt erlitt: "Der Agrarsektor in diesen Provinzen ruht nie. Im Winter werden Luxusgemüse wie violette Artischocken und Fenchel geerntet. Und die Kälte ist erbarmungslos. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, holten ein Reporter und ein Mitarbeiter einer humanitären NRO Sonya in einem Auto an einem abgelegenen Kreisverkehr ab, den sie mit dem Fahrrad erreicht hatte, und fuhren mit ihr zu einem Café neben einer Tankstelle in einer abgelegenen Gegend der Toskana, um das Interview zu führen. ... Über ihre Fehlgeburt sagte Sonya: 'Der Arzt in der Notaufnahme sagte, dass ich zu viele Stunden auf den Beinen war. Ich habe auch viele Stunden damit verbracht, meine Hände in eiskaltes Wasser zu tauchen, um Gemüse zu waschen. Wir hatten keine Handschuhe, wir haben alles mit bloßen Händen gemacht. Das Wasser friert nicht nur die Hände, sondern den ganzen Körper ein, vor allem im Winter oder bei Regen. Dann war oft Wasser auf dem Boden, und ich hatte nicht immer Stiefel. Drei oder vier Tage lang hatte ich normale Schuhe, weil die Stiefel kaputt waren und ich keine Zeit hatte, neue zu kaufen." Sie zeigte mir ihre Hände, die mit Wunden übersät waren, die von der Kälte und den Erntegeräten verursacht wurden."

Elois Stark erinnert an ein beschämendes Kapitel der französischen Kolonialgeschichte: 1761 kentert das Schiff L'Utile mit 160 Sklaven - Männern, Frauen und Kindern - in den Korallenriffen der Ile de Sable, heute bekannt als Tromelin-Insel, im Indischen Ozean. Einem Teil der Besatzung und etwa siebzig der Madagassen gelang es, sich auf die naheliegende Insel zu retten. Zu guter Letzt konnte die Schiffsbesatzung mit einem Boot fliehen, dass die Sklaven für sie gebaut hatten - die blieben allerdings auf der Insel zurück. Doch den anführenden Lieutnant Barthelemy Castellan du Vernet schienen immerhin Gewissensbisse zu quälen, so Stark, zurück in der Heimat warb er unermüdlich für eine Rettung der Ausgesetzten - die fand statt, allerdings erst Jahre später: "Ende November 1776 ging die La Dauphine, ein Schiff unter dem Kommando von Kapitän Jacques-Marie Lanuguy de Tromelin, in der Nähe vor Anker und schickte zwei Ruderboote an den Strand. Sie fanden sieben Frauen und ein Baby vor - eine Überraschung angesichts der Abwesenheit von Männern. Die Frauen gingen zum Beiboot und stiegen ohne ein Wort ein. Sie blickten nicht zurück." Lange Zeit wusste man nicht viel darüber, wie das Leben der Zurückgebliebenen genau ausgesehen hatte, so Stark, erst Ausgrabungen des Archäologen Max Guerout im Jahr 2012 offenbarten eine "Mikrogesellschaft", die entstanden war: "Es war nicht nur ein Ort der Verzweiflung, sondern auch ein Ort, an dem Kultur und Traditionen gepflegt wurden...Darüber hinaus benutzten die Überlebenden eine Schmiede, um Metalle einzuschmelzen und die Dinge herzustellen, die sie brauchten: Schalen und Löffel, aber auch Schmuck und Amulette. Die Kultur blühte auch in den schwierigsten Zeiten weiter auf. Interessanterweise erinnerten die sozialen Normen Frankreichs - und die Fähigkeit der Seeleute, die versklavten Menschen dem Tod zu überlassen - viel mehr an 'Herr der Fliegen' als an die um ihr Überleben kämpfenden Individuen, die sich in beeindruckendem Maße organisierten und kooperierten."

Magazinrundschau vom 19.03.2024 - New Lines Magazine

Ylenia Gostoli berichtet über die Probleme, auf die philippinische Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen stoßen, wenn sie Jobs im Ausland annehmen, um ihre Familien zu ernähren. Die von der philippinischen Regierung als "moderne Helden" gefeierten Exilarbeiterinnen landen zumeist im Nahen Osten. Dort sind sie einerseits Arbeitgebern ausgeliefert, die sie nicht selten schlecht behandeln und um Löhne prellen; und andererseits windigen Arbeitsagenturen, die falsche Versprechungen machen. Besonders schlimm war die Lage in den Covid-Jahren, als eine Gruppe von Frauen in einer Notunterkunft der philippinischen Botschaft in Syrien landete: "Zu Beginn der Pandemie klopften sie alle an die Tür der Botschaft und baten um Hilfe. Cayamba, Sidik und Alcala erinnern sich, dass sie am Empfang gebeten wurden, ihre Telefone abzugeben, weil das die übliche Prozedur für Besucher sei. Die drei Frauen waren allerdings alles, nur keine Besucher. Sie blieben über ein Jahr lang in der Botschaft und waren in dieser Zeit, sagen sie, von der Außenwelt komplett abgeschnitten. Die Notunterkunft, die philippinischen Staatsangehörigen, die in Gefahr geraten, Schutz bieten soll, befindet sich im Keller des Gebäudes. Für die Frauen war die Zeit, die sie hier verbrachten, gleichbedeutend mit einer Gefängnisstrafe, niemand redete mit ihnen oder teilte ihnen mit, wie lange sie ausharren werden müssen. (...) In diesem Jahr füllte sich die Unterkunft mehr und mehr mit weiteren Frauen, die Hilfe suchten. Sie hatten in den Häusern von Regierungsbeamten und Militärs gearbeitet, oder für reiche Geschäftsmänner. 'Es gab zwei Räume, einer war nicht größer als so', sagt Cayamba, und streckt ihre Arme aus, deutet einen Raum an, der kaum zwei mal drei Meter groß ist. Im anderen, größeren Raum befanden sich die meisten Betten. 'Sie hatten vielleicht 20 Betten, und wir waren mehr als 50 Leute', so Cayamba."

Und Freshta Jalalzai stellt Tova Moradi vor, die letzte Jüdin in Afghanistan, die jetzt auch geflohen ist: "Ihr Weggang bedeutete nicht nur das Ende ihrer acht Jahrzehnte in Afghanistan, sondern auch den Verlust der gesamten afghanisch-jüdischen Gemeinschaft, die dort seit rund 2.700 Jahren überlebt hatte. Moradi war die letzte Angehörige ihres Glaubens, die Afghanistan verließ; Tausende andere waren in früheren Jahrzehnten ausgewandert, darunter ihre Eltern, Geschwister und drei ihrer zehn Kinder. In vielerlei Hinsicht verkörpert ihre Reise die Notlage von Juden, die aus Afghanistan entwurzelt wurden, und die Herausforderungen, denen sie sich stellen mussten, um zu überleben und anderswo eine Heimat zu finden. Doch ihre Lebensgeschichte ist noch viel schmerzhafter. Als Mädchen wurde sie ihrer Familie entrissen und mit einem muslimischen Mann verheiratet, der dreimal so alt war wie sie. Sie zog zehn Kinder in einer mehrheitlich muslimischen Gemeinschaft auf, in der religiöse Minderheiten seit langem unter Stigmatisierung und Diskriminierung zu leiden haben. Moradi ging heimlich in Kabul zum Gottesdienst und schlich sich in die Synagoge. Sie erzählte ihren Kindern, dass sie jüdisch seien, und versuchte, sich an die Gebete zu erinnern, die ihr Vater abends am Sabbat sprach. Sie erklärte ihren Kindern, was hohe Feiertage wie Jom Kippur bedeuten. Anhand der wenigen Familienfotos, die sie versteckt hielt, machte sie sie mit einer Seite ihrer Identität bekannt, die verborgen bleiben musste. Ihre Bemühungen, an ihrem Glauben festzuhalten, zeugen sowohl von ihrer Verletzlichkeit als auch von ihrer Widerstandsfähigkeit: Moradi war nicht nur Jüdin, sondern auch eine Frau, die versuchte, in einer patriarchalischen Gesellschaft zu überleben, die sie als Bürgerin zweiter Klasse behandelte."

Magazinrundschau vom 12.03.2024 - New Lines Magazine

Gioia Shah stellt eine Gruppe vor, die seit langer Zeit in Kenia lebt, aber nicht von dort stammt: Es sind Nachfahren ehemaliger Sklaven aus ganz Afrika, die im späten 19. Jahrhundert der Sklaverei entkamen und sich mit Hilfe der Briten auf einem Grundstück niederließen, das sie Frere Town nannten und das heute Teil von Mombasa ist. Mit der Unabhängigkeit Kenias 1963 wurde ihr Status kompliziert: "'Leider erkennen sie uns nicht an', sagt Uledi über die Freretownianer. Mit 'sie' meint Uledi die kenianische Regierung. Ohne Zugehörigkeit zu einem der offiziell anerkannten Stämme in dem ostafrikanischen Land ist es schwierig, eine nationale ID-Karte zu erhalten. Und ohne eine ID-Karte haben sie keinen Zugang zu öffentlichen Diensten wie der Gesundheitsversorgung. 'Wir haben bis jetzt dafür gekämpft', sagt Mwambila, der Vorsitzender der Frere Town Descendants Community Association ist. Sie vertritt die Nachkommen der Sklaven, die befreit wurden und sich in Frere Town niederließen. Um sich zu integrieren und einen Ausweis zu erhalten, haben sich die meisten Nachkommen dafür entschieden, jemanden aus den lokalen Gemeinschaften zu heiraten oder einfach zu lügen und einen ihrer Namen anzunehmen. 'Wenn du dich keinem Stamm zuordnest ... dann bist du erledigt', sagt er."
Stichwörter: Kenia, Frere Town, Sklaverei

Magazinrundschau vom 05.03.2024 - New Lines Magazine

Der deutsch-iranische Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad beleuchtet die Details der iranischen Regime-Propaganda nach dem Anschlag in der Stadt Kerman am 3. Januar 2024. Innerhalb eines Tages bekannte sich der IS zu dem Attentat, bei dem während der Gedenkfeier für Qassem Soleimani, der als Offizier einer Abteilung der Islamischen Revolutionsgarden vorstand, mehr als 90 Menschen starben und über zweihundert verletzt wurden. Das Regime machte stattdessen Israel und die USA verantwortlich und "argumentierte, dass die Erklärung unter der Leitung von Zionisten herausgegeben wurde'". Fathollah-Nejad legt dar, dass diese Behauptungen unhaltbar sind und hat stattdessen einen anderen Verdacht: "Die im Vorfeld der Soleimani-Gedenkfeier festgestellten Sicherheitsrisiken lassen ernsthafte Zweifel an der Darstellung des Regimes aufkommen. Die staatsnahe iranische Studenten-Nachrichtenagentur veröffentlichte einen Artikel - den sie eine Stunde später wieder löschte -, in dem sie den Staatsanwalt von Kerman zitierte, der erklärte, Sicherheitskräfte hätten im Vorfeld der Feierlichkeiten eine Autobombe und 16 weitere Bomben entdeckt. 'Verschiedene Gruppen, einschließlich des IS und der Heuchler' hätten 'etwas unternehmen wollen'... Er sagte auch, dass später zwei weitere Attentäter später verhaftet wurden, mit Selbstmordwesten, die für 'einen weiteren Anschlag bei der Trauerfeier für die Märtyrer des Attentats' in Kerman gedacht waren. Mit anderen Worten: Obwohl die Sicherheitskräfte eindeutig über das extrem hohe Risiko von Bombenanschlägen am Vorabend der Zeremonie zu Ehren des verstorbenen Soleimani informiert waren, wurde diese nicht abgesagt. Dies könnte erklären, warum hochrangige Vertreter des Regimes letztendlich nicht daran teilnahmen. Es stellt sich auch die Frage, warum die Anschläge trotz der erhöhten Sicherheitsvorkehrungen nicht von den Sicherheitskräften abgewehrt werden konnten... In der Zwischenzeit fragen sich viele Iraner innerhalb und außerhalb des Landes, ob vielleicht das Regime selbst dafür verantwortlich war. Nach dem Bombenanschlag tauchten in mehreren iranischen Städten Videos auf, auf denen zu sehen war, wie Menschen Soleimani-Plakate und andere Schilder im öffentlichen Raum zerstörten - eine wichtige Erinnerung daran, dass entgegen der Darstellung der Islamischen Republik nicht alle Iraner ihn als Nationalhelden verehren."

Magazinrundschau vom 20.02.2024 - New Lines Magazine

Liz Cookman and Emre Çaylak schildern das Schicksal der Mescheten, einer türkischsprachigen Volksgruppe, die ursprünglich in Georgien angesiedelt waren, und nun in den ehemaligen UDSSR-Staaten, aber auch den USA und der Türkei leben. Wie die vieler ethnischer Minderheiten ist die Geschichte der Mescheten eine der Vertreibung und Verfolgung, "viele haben ein so unstetes Leben geführt, dass sie drei oder mehr Sprachen sprechen, darunter Türkisch und entweder Ukrainisch oder Russisch. Jede Generation wurde in einem anderen Land geboren als die letzte..." Die Ukraine ist allerdings für viele zu einer neuen Heimat geworden, schreiben die Autoren, so auch für Serhan Halilovic, der im Krieg gegen Russland kämpft und ständig hofft, nicht einen anderen Mescheten zu erschießen: "'Der Unterschied zwischen hier und dort besteht darin, dass die Mescheten in Russland nicht aus eigenem Antrieb in den Krieg ziehen', sagte Halilovic, was die Ansicht vieler Ukrainer widerspiegelt, dass sich ihre Männer und Frauen aus Patriotismus freiwillig zur Verteidigung ihres Landes melden, während die Russen zum Einmarsch gezwungen werden. In Russland werden Männer in Wellen eingezogen; in der Ukraine ist es Männern im wehrfähigen Alter verboten, das Land zu verlassen, aber es gibt keine allgemeine Wehrpflicht, obwohl ein neues Mobilisierungsgesetz zur Einberufung von bis zu 500.000 Soldaten führen könnte. Halilovics einst enger Cousin aus Rostow am Don kämpft für Moskau auf der besetzten Krim. Offiziere kamen eines Morgens zu seinem Haus und nahmen ihn gewaltsam mit, wie sein Vater der Familie erzählte. Wegen der damit verbundenen Risiken haben die Cousins keinen direkten Kontakt mehr. Auch die Mescheten aus Russland, denen Halilovic im Kampf begegnete, erzählten ihm, dass sie zum Militär gezwungen worden waren. Russische Truppen aus Dagestan, Burjatien und Krasnodar (wo die Mehrheit der meschetischen Bevölkerung Russlands lebt) haben nach einer Untersuchung des russischen Dienstes der BBC die meisten Soldaten im Krieg verloren. Die unverhältnismäßig hohen Zahlen zeigen, dass der Kreml gezielt ethnische Minderheiten zum Kampf und zum Sterben in der Ukraine einberufen hat. Halilovics Vater Halil, der 63 Jahre alt ist und zwischen der Türkei und seiner Gemüsefarm in der Ukraine pendelt, telefoniert regelmäßig mit seinem Bruder in Russland. Sie streiten sich oft. Sein Bruder sagt ihm, dass er trotz der Mobilisierung seines Sohnes an einen gerechten Krieg gegen den westlichen Imperialismus und die NATO glaubt, eine Vision, die von Moskau vorgegeben und streng kontrolliert wird. Halil, der zuvor sechs Jahre in Russland verbracht hat, meint, sein Bruder habe den Verstand verloren. 'Putin hat seine Soldaten in die Ukraine geschickt, um Menschen abzuschlachten', sagt er ihm am Telefon. 'Nicht andersherum.' Er versucht, ihm ein Verständnis dafür zu vermitteln, was ein anhaltender Konflikt zwischen den beiden Ländern bedeutet. 'Ich sage ihm: Wenn dein Sohn und mein Sohn sich in diesem Krieg begegnen, wird einer von ihnen den anderen töten', sagt Halil. 'Wenn sie es nicht tun, werden ihre Waffenbrüder sie erschießen. Unsere Söhne sind jetzt Feinde.'"

Magazinrundschau vom 06.02.2024 - New Lines Magazine

Die indische Filmkritikerin Ishita Sengupta begrüßt einen triumphalen Boom des bangladeschischen Kinos. Lange Zeit unbeachtet, bekommen Filme und Serien nun internationale Aufmerksamkeit und erhalten Preise bei den großen Filmfestivals, wie beispielsweise Rezwan Shahriar Sumits Erstlingswerk "Nonajoler Kabbo" ("The Salt In Our Waters"), das auf dem BFI-Filmfestival in London gezeigt und später auf dem schwedischen Filmfestival in Göteborg für den renommierten Ingmar-Bergman-Preis nominiert wurde. Was hat den Wandel herbeigeführt? Neben den kontinuierlichen Bestrebungen der Filmemacher, endlich relevante Themen verarbeiten zu können, spielten auch die Streaming-Plattform Chorki und Hoichoi eine wichtige Rolle, so Sengupta: "Es war nicht so, dass Bangladesch kein Talent gehabt hätte, aber es fehlte die richtige Infrastruktur, um es zu unterstützen. Selbst mit den riesigen Budgets, die malaysische und indische Streaming-Plattformen zur Verfügung stellten, wurden immer wieder dieselben Geschichten verfilmt, mit denen das Publikum bereits vertraut war. In den letzten drei Jahren haben Streaming-Dienste jedoch relevante Geschichten aus Bangladesch in den Vordergrund gerückt, die sich mit dringenden Themen wie sexuellem Missbrauch, öffentlicher Unzufriedenheit mit den politischen Machthabern, alltäglichen Kämpfen und den Bestrebungen der Mittelklasse befassten. Anindo Banerjee, der bei Chorki für die Inhalte zuständig ist, aber bis letztes Jahr bei Hoichoi arbeitete und mehrere dieser Sendungen auf den Weg gebracht hat, sagte, dass er immer, wenn ihm ein Filmemacher eine Sendung vorschlägt, fragt, ob sie auch woanders als in Bangladesch spielen könnte. 'Wenn sie das bejahen, lautet mein Gegenargument, warum sollten wir es hier machen. ... Je lokaler man vorgeht, desto globaler ist die Reichweite', sagte er. Mohammad Touqir Islams Erstlingswerk 'Shaaticup' ('Remain Hidden'), eine achtteilige Serie, die sich um eine gestohlene Drogenlieferung dreht, hat beispielsweise genau aus diesem Grund für Aufsehen gesorgt. Alle Schauspieler stammen aus der Stadt Rajshahi, in der die Serie spielt, und sprechen den lokalen Dialekt, was im Mainstream-Kino Bangladeschs ungewöhnlich ist. Auch in 'Mohanagar' ('Metropolis'), bei dem Ashfaque Nipun Regie führte, spielte ein korrupter Polizeibeamter die Hauptrolle - ein Novum in Bangladesch. Dies veranlasste die Polizei, Nipun vorzuladen, der sich stundenlang rechtfertigen musste. 'Am Ende waren sogar die Polizisten müde, weil sie andere wichtige Aufgaben hatten', so der Filmemacher gegenüber New Lines."

Magazinrundschau vom 30.01.2024 - New Lines Magazine

Kingsley Charles erklärt in einem Essay, warum es ausgerechnet die Pfingstbewegung war, die in Nigeria einen Hype um Horrorfilme auslöste und so das Phänomen "Nollywood" ins Leben rief. Nachdem die nigerianische Filmindustrie während der siebziger Jahre einen wahren Boom erlebt hatte, folgte in den Achtzigern durch die Schwächung des weltweiten Ölmarktes die wirtschaftliche Krise. Nigeria befand sich in einer nicht enden wollenden wirtschaftlichen und ökonomischen Abwärtsspirale - das führte zu zwei Entwicklungen: Zum einen sprossen im ganzen Land neopentekostalistische Kirchen wie "Pilze aus einem feuchten Boden", so Charles, die mit ihrer religiösen Botschaft Halt gaben. Zum anderen verbreitete sich die Angst vor okkulten Sekten. Denn die Wirtschaftskrise hatte eine neue Elite hervorgebracht, die zum Teil auf sehr rätselhafte Weise an ihr Geld gekommen war - Höhepunkt dieser Entwicklungen waren die sogenannten Otokoto-Proteste, die 1996 ausbrachen "nachdem der 11-jährige Anthony Okoronkwo von Mitgliedern einer als Black Scorpion bekannten Sekte ermordet worden war. Diese - benannt nach dem Hotel, in dem Okoronkwo enthauptet, sein Penis abgetrennt und seine Leber entnommen worden war - lösten eine weit verbreitete Empörung aus, als weitere verstümmelte Leichen entdeckt wurden, die auf die gleiche grausame Weise ermordet und von Sektenmitgliedern begraben worden waren." Hoffnung gegen dieses teuflische Treiben versprachen die Prediger der Pfingstbewegung: "Die Verbreitung von Videokassetten in den nigerianischen Haushalten durch die Neo-Pfingstpastoren und die im Gegensatz zu Zelluloidfilmen niedrigen Produktionskosten von Videos läuteten die Geburtsstunde von Nollywood ein. Dieser soziale und politische Hintergrund inspirierte die Produktion von 'Living in Bondage' und anderen Filmen, die den Weg für das Horrorkino in Nollywood ebneten. Die blutigen Erzählungen waren oft visuelle Darstellungen des in den 1990er Jahren weit verbreiteten Glaubens, dass sich der Reichtum weitgehend auf einen engen Kreis gefährlicher Männer konzentrierte, die Menschen auf dem Altar des Geldes opferten. 'Last Burial', ein Horrorthriller von Lancelot Imasuen aus dem Jahr 2000, war ein Paradebeispiel dafür, wie diese Filme die christliche Lehre untermauerten, dass dauerhafter Wohlstand nur von Gott kommen kann und dass man nur erlöst wird, wenn man sich Christus unterwirft und über sein Wort meditiert."

Lange interessierte sich die israelisch-amerikanische Forscherin Ilana Cruger-Zaken nicht für die seltsame Sprache, die ihre Großmutter sprach, die aus Zakho stammt, einer Stadt in der überwiegend kurdischen Region im Nordwesten des Irak: "Sie gehörte zur letzten Generation jüdischer Babys, die auf einer kleinen Insel in der Mitte des Flusses Khabur geboren wurden." Aber irgendwann macht Cruger-Zaken sich auf die Suche nach den Überresten von "Lishana Deni", einen Zweig des Judäo-Neo-Aramäischen, einer der letzten überlebenden Formen des antiken Aramäischen, das die Verkehrssprache der neoassyrischen, neobabylonischen und achämenidischen oder persischen Reiche war. Bei ihrer Suche stößt sie auf die Tonaufnahmen eines Geschichtenerzählers aus Zakho: "Schon früh in seiner akademischen Laufbahn wurde Sabar dafür bezahlt, Interviews mit Ältesten aus Zakho auf Band zu dokumentieren und zu übersetzen. … Das besondere Dokument, das ich gefunden habe, ist eine transkribierte und übersetzte Reihe persönlicher Anekdoten von Mammo Yona Gabbai, die seine letzten Jahre in Zakho und die Migration der Gemeinschaft nach Israel beschreiben. Ich greife Wörter heraus, die ich wiedererkenne, vertraute Kopulas und Konstruktionen. Ich habe keinen großen Wortschatz, aber ich verstehe die Laute. Und dann stoße ich auf ein Wort, das ich mit meinem ganzen Wesen kenne und das genau so verwendet wird, wie ich es kenne. Mein Körper vibriert. Es ist ein einfaches Wort: 'chayet', was 'Leben von' bedeutet. Es war der Kosename, mit dem mein Vater mich immer bezeichnete: 'Chayet Abba' (Papas Leben). Und jetzt nennt er mein Kind 'Chayet Saba'. Ich hatte angenommen, der Ursprung dieses Wortes sei hebräisch, denn חי (Leben) ist ein gängiges hebräisches Wort. Aber hier steht es in jüdischem Aramäisch, in genau derselben Form und in demselben Zusammenhang, in dem mein Vater es verwendet."

Magazinrundschau vom 23.01.2024 - New Lines Magazine

Nach den jüngsten Ereignissen ist eine Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern für die israelische Schriftstellerin Maya Savir eigentlich unvorstellbar. Ihre Aufenthalte in Ruanda gaben ihr jedoch den Hauch einer Hoffnung, dass es, trotz allem, eines Tages möglich sein könnte. Sie berichtet von den "Gacaca", Gemeinschaftsgerichte, die eingerichtet wurden, um nach den unvorstellbaren Grauen des Völkermordes ein Zusammenleben zwischen Hutu und Tutsi erneut möglich zu machen. Bei den Gacaca kommen Menschen zusammen und sprechen über Erlebtes, auch über ihre Verbrechen. Sie bitten um Vergebung, die ihnen dann auch meistens gewährt wird, erzählt Savir. Ein junger Mann, den sie bei einer ihrer Reisen trifft, erzählt ihr, wie er bei diesen Anhörungen dem Sohn des Mörders seiner Großmutter begegnete: "B sagte, dass auch er, wie alle anderen, an den Gacaca-Anhörungen teilgenommen habe. Ich stellte ihm dieselbe Frage, die ich jedem stellte, mit dem ich in Ruanda sprach, denn egal wie oft ich diesen Erinnerungen aus erster Hand begegnete, ich stellte fest, dass es immer noch schwer war, sie sich vorzustellen: 'Ist Eure Versöhnung echt? Ich meine, Ihr lebt zusammen, Opfer und Täter. Wie funktioniert das?' Zunächst gab er mir die routinemäßige Antwort, die man Wort für Wort von jedem bekommt, mit dem man in Ruanda spricht: 'Es ist passiert, wir haben uns versöhnt. Früher waren wir Hutu und Tutsi, jetzt sind wir alle Ruander und blicken in die Zukunft.' Aber ich bestand darauf, denn es war wirklich schwer zu begreifen, und nachdem ich noch ein paar Variationen derselben Frage gestellt hatte - 'Vertraut ihr einander?' 'Seid ihr Freunde?' - antwortete er auf alle Fragen mit Ja und schwieg dann. Ich glaube, er versuchte, einen Weg zu finden, um in meinen sturen Kopf einzudringen. Er wies diskret auf zwei junge Männer hin, die mit uns das Gewächshaus bauten und sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Hörweite von uns befanden.'Siehst du den da?' Ich nickte. 'Er ist wie ich. Er ist Tutsi. Wir sind Partner, wir haben eine Kooperative und wir züchten zusammen Pilze.' Er richtete seinen Blick auf einen anderen jungen Mann. 'Siehst du diesen Mann?' Ich nickte. 'Er ist auch unser Partner, und er ist Hutu. Aber er ist nicht nur irgendein Hutu. Sein Vater hat meine Großmutter ermordet. Ich habe gehört, wie sein Vater bei den Gacaca-Anhörungen darüber gesprochen hat, aber ich musste ihn nicht hören. Denn ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, wie er meine Großmutter in Stücke geschnitten hat." Ich versuchte den Würgereiz zu verbergen, den die Bilder auslösten, die seine Worte in meinem Kopf erzeugten. 'OK, ich verstehe - ihr seid Partner. Aber seid ihr auch Freunde? Vertraust du ihm?' B bejahte erneut, fügte dann aber nach einem stillen Moment leise hinzu: 'Ja, natürlich. Natürlich ist es schwer für unsere Eltern. Für sie ist es fast unmöglich, aber sie tun es für uns. Verstehst du das?'"

Der Journalismus im Iran ist geschwächt, aber er lebt, ruft Kourosh Ziabari. Auch wenn die staatlichen Repressionen immer drastischer werden, darf auf keinen Fall übersehen werden, betont Ziabari, dass es immer noch unabhängige, mutige Journalisten und Zeitungen gibt, die sich gegen den Autoritarismus stellen. So wie die Zeitung Shargh Daily. "Gegründet im August 2003, ist sie eines der letzten Überbleibsel eines Kollektivs vielversprechender liberaler Zeitungen, die während der Reformära gegründet wurden und versuchten, in einer ansonsten düsteren öffentlichen Sphäre, in der es keine widersprüchlichen Stimmen gab, Hoffnung zu wecken. Seit Beginn ihrer Tätigkeit wurde Shargh viermal vorübergehend verboten. Zuletzt wurde sie 2012 geschlossen, weil sie eine Karikatur veröffentlicht hatte, die nach Ansicht der Behörden die Kämpfer des iranisch-irakischen Krieges, die im Inland als 'heilige Verteidigung' bekannt sind, verunglimpft hatte... Doch Shargh ist nach wie vor ein Bollwerk des kritischen, zukunftsorientierten Journalismus, wenn auch ein geschwächtes, das den marginalisierten intellektuellen Strömungen eine Plattform bietet und das Damoklesschwert der Rechenschaftspflicht über dem Kopf der Regierung schweben lässt. Zu den bemerkenswerten Berichten der letzten Zeit gehören die Untersuchung eines Ghettos in der Stadt Mashhad, in dem viele Leprakranke leben, die Untersuchung des Massensterbens von Grenzgängern, die von den Streitkräften angegriffen werden, die Aufdeckung der Vergiftung von Schulmädchen nach den Aufständen von 'Frau, Leben, Freiheit' und ein vernichtender Bericht über die Häufigkeit von Ehrenmorden."

Magazinrundschau vom 09.01.2024 - New Lines Magazine

Tiara Sahar Ataii schildert die fatale Wirkung der Droge Qat auf den Jemen. Sicher, es gibt härtere Substanzen, und doch trägt Qat, das quasi von der ganzen Bevölkerung gekaut wird, zur Katastrophe des kriegstraumatisierten Landes bei: "Die Verwendung von Qat einzuschränken ist allerdings kein leichtes Unterfangen, wenn große Teile des Landes umkämpft sind, Steuern nur schwer durchzusetzen sind, die Gehälter der Beamten nicht gezahlt werden, die Mittel für den Umweltschutz knapp sind. Die Auswirkungen auf den Jemen sind verheerend: 90 Prozent der erwachsenen Männer, 50 Prozent der jungen Frauen und 15-20 Prozent der Kinder kauen täglich drei bis vier Stunden Qat. In den letzten fünfzig Jahren ist die Durchschnittstemperatur im Jemen um 1 Grad Celsius gestiegen. Jährlich gehen zwischen 3 und 5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch Wüstenbildung verloren. Eine verheerende Dürre im Jahr 2022 stürzte mehr als die Hälfte der jemenitischen Bevölkerung in eine krisenhafte Ernährungsunsicherheit. Felix Arabia, wie die Römer den Jemen, die Kornkammer der arabischen Halbinsel, nannten, steht ständig am Rande einer Hungersnot." Und die landwirtschaftlichen Flächen gehen für Qat drauf, das übrigens auch in Dürren gut gedeiht.
Stichwörter: Qat, Jemen