Frontline hat ein dickes und überaus informatives Dossier zu "
Ehrenmorden"
in Indien zusammengestellt. Und nein, hier geht es nicht um Muslime und die Opfer sind Männer ebenso wie Frauen. "Ehrenmorde" gibt es vor allem in den nordwestlichen, von
Jats bewohnten Bundesstaaten Indiens. Die
Jats sind eine ethnische Volksgruppe und in Indien (es gibt sie auch in Pakistan) zumeist Hindus oder Sikhs. Inoffiziell werden sie in ihren Dörfern von selbsternannten Kasten-Fünferräten (Caste panchayats,
mehr hier) regiert, die über die Einhaltung sozialer und traditioneller Regeln wachen. Dazu gehören vor allem die unglaublich komplizierten
Regeln fürs Heiraten,
erklären V. Venkatesan und T.K. Rajalakshmi am Beispiel eines Dorfes in Haryana (
Karte): "Nach dem 'Bruderschafts'-Prinzip in dem die khaps sich selbst organisieren, darf es keine Heiraten zwischen
verschiedenen Kasten geben. Innerhalb einer Kaste darf es keine Heiraten zwischen Menschen des selben Gotras (
Klans) geben. Und selbst wenn sie aus verschiedenen Gotras stammen, dürfen Menschen nicht heiraten, die aus dem
selben Dorf oder angrenzenden Dörfern stammen." Es versteht sich, dass unter solchen Bedingungen Braut und Bräutigam sich gar nicht kennen können, sondern in von den Alten arrangierte Ehen mit Fremden getrieben werden. Tausende junge Paare, die sich diesen Regeln widersetzten - einige Beispiele werden in dem Artikel beschrieben - wurden von einem solchen Fünferrat zum Tode verurteilt, vom
Dorfmob gelyncht und ihre Verwandten bedroht und verjagt.
Weitere Artikel: Wie hoch die
Anzahl der "Ehrenmorde" genau ist, weiß niemand, erklärt
Brinda Karat, Parlamentsabgeordnete der Kommunistischen Partei Indiens, im
Interview. Ihre Anfrage im Parlament wurde mit der Antwort beschieden, "dass es eine
solche Kategorie nicht gebe und deshalb auch keine Daten darüber erhoben würden". Der Politologe Ranbir Singh
erklärt die historischen und politischen Hintergründe der
Khap panchayats. Die Juristin und Frauenrechtlerin
Kirti Singh erklärt im
Interview, warum diese "Ehrenmorde" Ausdruck einer "tiefen Verachtung für die
Wünsche junger Menschen" sind, und sie fordert ein spezielles Gesetz "dass diese Morde als
Gemeinschaftsmorde betrachtet und auch die Panchayats dafür verantwortlich macht und bestraft". Venkitesh Ramakrishnan
berichtet über einige barbarische Morde an jungen Paaren (die Opfer wurden in Stücke gehackt) im nördlichen Bundesstaat
Uttar Pradesh (
Karte) und beschreibt
das Schweigen, dass diese Morde umgibt: Nicht nur die Dörfler, auch die politischen Parteien wollen sich nicht dazu äußern. Vor allem wollen sie nicht zugeben, dass ein Caste panchayat "eine ungesetzliche Einrichtung ist, die keine rechtsstaatliche Gültigkeit beanspruchen kann". T.K. Rajalakshmi
zitiert verschiedene
Gerichtsentscheidungen, die sich mit "Ehrenmorden" befassen.
Und S. Dorairaj
hält fest, dass es "Ehrenmorde" nicht nur im Norden Indiens gibt, sondern auch in dem an der Südostspitze Indiens gelegenen Bundesstaat
Tamil Nadu (
Karte). Hier sind allerdings fast immer Frauen die Opfer. Und dann gibt es noch eine lokale Besonderheit:
Nach ihrer Ermordung erklärt man die Frauen zu
Göttinnen. "S. Madasamy, ein ehemaliger Koordinator der
'Arivoli Iyakkam' (Alphabetisierungs-Bewegung), der eine großflächige Studie über die Geschichte wenig bekannter Göttinnen durchgeführt hat, sagt, Ehrenmorde gebe es hier noch immer, und sie würden zumeist von
intoleranten Verwandten von Frauen begangen, die ihr Leben selbst bestimmen und selbst einen Partner hatten wählen wollen. Um der Polizei und juristischen Nachforschungen zu entgehen, verherrlichen die Täter ihre Opfer, indem sie in den Dörfern einen 'putam' errichten, einen Erdhügel oder einen kleinen Bau aus Backsteinen, um sie dann als Göttinnen zu verehren, sagt er. ... Die Verehrer und Priester dieser Tempel behaupten, dass die vergötterten Frauen aufgrund
übernatürlicher Kräfte verschwunden seien und nicht ermordet wurden." Madasamy hat in den 1990ern
über 300 solcher Altäre gefunden.