Magazinrundschau - Archiv

H7O

8 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 09.01.2024 - H7O

Die tschechische Schriftstellerin und Russistin Alena Machoninová, die überwiegend in Moskau lebt, berichtet im Gespräch mit Jan Němec von der Atmosphäre in der russischen Hauptstadt in den vergangenen zwölf Monaten: "Moskau ist ein riesiger komplexer Organismus, den nichts so schnell erschüttern kann. In den ersten Wochen des Kriegs schien die Stadt immer leerer zu werden. Unsere Bekannten sind einer nach dem anderen geflohen. Es schien, als wäre keiner mehr da geblieben. Aber das war eine Täuschung, nur die privilegierte Mittelschicht war geflohen. Und die Stadt lebte weiter ihr Leben - engagiert und gleichgültig. Offensichtlich beschloss die Stadtverwaltung, die Bewohner nicht zu sehr durch den Krieg aufzustören. Deshalb gab es in Moskau, anders als zum Beispiel in der umgebenden Region, zu Beginn fast keine Kriegssymbolik. Das gigantische Z in den Farben des St.-Georgs-Bands an einzelnen Gebäuden war eine private Initiative. Während des ersten Kriegsjahrs hat sich die Stadt krampfhaft um eine sorglose Atmosphäre bemüht - auf den Boulevards fanden alle möglichen Aufklärungs- und Unterhaltungsveranstaltungen statt, und an Sonderständen wurden Erdbeeren verkauft. Aber in den privaten Gesprächen blieb der Krieg präsent. Im Herbst hat dann die Mobilisierung in der Stadt wie auch im ganzen Land Panik geschürt. Da hat sich Moskau zum zweiten Mal 'entvölkert'. Es hat sich immer stärker von der Außenwelt abgeschnitten. Und das Moskauer Kulturleben ist völlig zusammengebrochen, denn es hat sich gezeigt, wie sehr es auf Offenheit, internationalem Dialog und Zusammenarbeit beruhte. Das alles wird noch sehr lange nicht möglich sein."

Magazinrundschau vom 29.08.2023 - H7O

Lucie Řehoříková unterhält sich mit der ukrainischen Galeristin und Kuratorin Viktorie Nikitina, die gerade einen Residenzaufenthalt im tschechischen Brno abgeschlossen hat. Nikitina begann schon kurz vor dem Krieg mit der Aktion "Buy art to support Ukraine", bei der durch die Versteigerung von Grafiken ukrainischer Künstler medizinische Versorgungen der Armee finanziert werden, und kurariert Ausstellungen im Zentrum für Gegenwartskultur in Dnipro. "In den ersten Tagen [des Krieges] schien uns, dass alles, was wir bisher gemacht hatten, jeglichen Sinn verliert", erzählt Nikitina. "Wie soll man Ausstellungen planen, wenn Raketen fliegen? Doch nach einem Monat (…) wurde uns bewusst, dass Kulturinstitutionen in so tragischer Zeit viel Nützliches für das Land tun können und sollten." Bei der ersten Ausstellung war sie sich nicht sicher, wie das Publikum reagieren würde, "die Leute waren ja nicht nur von den Nachrichten traumatisiert, sondern von wirklichen Verlusten, denn in unserer Stadt leben etwa vierhunderttausend umgesiedelte und geflüchtete Personen, die nach und nach aus den bombardierten und besetzten Gebieten gekommen sind. Aber es hat sich gezeigt, dass das Durchleben persönlicher Traumata gerade mittels der Kunst sehr wichtig und erwünscht ist." In den ersten Monaten hätten die meisten ukrainischen Künstler das direkte Geschehen um sich herum ins Bild gesetzt. "Das war ein Moment, in dem Künstler und Publikum das gleiche Informationsfeld verband, gemeinsame Ängste und Leiden. Jetzt, im zweiten Kriegsjahr, verarbeiten die Künstler ihre vom Krieg hervorgerufenen Traumata sehr unterschiedlich. Sie blicken allmählich vorsichtig in die Zukunft, suchen Antworten darauf, wie unser Land, seine Kultur und die Einstellung seiner Gesellschaft aussehen werden. Viele Ukrainer interessieren sich nun mehr als jemals zuvor für die eigene Geschichte und Kultur und entdecken dabei etliche weiße Flecken und historische Mythen, die ihnen vom russischen Imperium und der Sowjetunion aufgedrückt wurden. Es handelt sich um einen sehr wichtigen Moment der Selbsterkenntnis und der Stärkung der ukrainischen Nation. Es ist tieftraurig, dass der Anreiz zu all dem ein Krieg sein musste …"
Stichwörter: Ukraine

Magazinrundschau vom 08.08.2023 - H7O

Der polnische Journalist und Literaturwissenschaftler Aleksander Kaczorowski, der gerade ein Buch über die tschechische Literatur des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hat, musste dabei feststellen, wie männlich geprägt die Literatur dieser Zeit war, weshalb er zu seinem Leidwesen nur männliche Autoren aufgenommen habe. "Würde ich das gleiche Buch über das 21. Jahrhundert schreiben, wären dort hingegen überwiegend Frauen vertreten", sagt er im Gespräch mit Michaela Merglová. "Die tschechische Literatur hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren ein weibliches Gesicht erhalten - und das ist ein völlig neues Phänomen." (Tatsächlich sind auch unter den aktuellen Übersetzungen ins Deutsche in der Mehrheit Frauen vertreten, etwa Radka Denemarková, Petra Hůlová, Markéta Pilátová, Kateřina Tučková, Anna Bolavá, Alena Mornštajnová, Lucie Faulerová, Viktorie Hanišová - hier und hier - oder Sylva Fischerová.) Kaczorowski erklärt es sich dadurch, dass die Frauen mit den Veränderungen um 1989 auf andere Weise über sich nachzudenken begannen und diese Erfahrungen in Literatur gossen, während die Männer in eine gewisse Erstarrung verfielen und unter dem Druck standen, sich "aus dem Schatten der großen literarische Väter" wie Kundera, Hrabal oder Václav Havel herauszuschreiben. Die weiblichen Schriftstellerinnen hätten nicht diese erdrückenden Vorbilder. Ihr Thema sei oft die persönliche Geschichte im Konflikt mit der großen Historie - und der weibliche Blick bringe hier etwas Läuterndes und erfrischend Neues mit, so Kaczorowski.

Magazinrundschau vom 27.09.2022 - H7O

Die tschechische Journalistin Barbora Votavová wünscht sich in ihrem Land mehr Bekenntnisse zum Feminismus in Literatur und Gesellschaft. Autorinnen, die über weibliche (Problem-)Themen schrieben, stellten das meist als individuellen Fall, aber nicht als gesellschaftlich relevant dar. "Angesichts der Tatsache, wie widerstrebend sich Schriftstellerinnen oder andere Personen des öffentlichen Lebens zum Feminismus bekennen oder eher nicht bekennen, lässt sich die Haltung von Autorinnen, die über weibliche Traumata schreiben, eher als leichte Form des Stockholmsyndroms verstehen", meint Votavová und verweist auf eine österreichische Studie, nach der das Bekenntnis zum Feminismus im ehemaligen Ostblock Ähnlichkeiten aufweise mit dem Coming-out von LGBTQ-Menschen - offen feministische Texte würden demnach nicht nur persönlichen Mut und ein verständnisvolles Umfeld erfordern, sondern vor allem eine Gesellschaft, in der es ungefährlich sei, sich zum Feminismus zu bekennen. Votavová (die sich nebenbei darüber ärgert, dass in einer tschechischen Nachrichtensendung über die aktuellen Proteste im Iran ein männlicher Experte die Moderatorin darüber belehrte, es gehe bei diesen Protesten "nicht nur um Frauenrechte" - so als zählten Frauenrechte nur unter ferner liefen) zitiert eine Reihe misogyner Äußerungen anerkannter tschechischer Literaturkritiker, die man ihrer Meinung nach nicht unwidersprochen lassen sollte. "Wenn Schriftstellerinnen ihre laue Haltung zum Feminismus begründen, sagen sie oft, sie wüssten nicht, was sie sich genau darunter vorstellen sollten, es gebe ja viele Arten von Feminismus (…). Damit haben sie im Grunde recht, als Feministinnen bezeichnen sich Liberale, Sozialistinnen, Materialistinnen, Essenzialistinnen, Esoterikerinnen, und all diese Spektren begreifen den Feminismus leicht verschieden. Doch andere Schriftstellerinnen hindert das nicht daran, sich dazu zu bekennen - auch die Zögerlichen hätten ja die Möglichkeit, genauer zu erklären, was sie darunter verstehen, wenn man sie nach ihrer Haltung zu Frauenrechten befragt. Die Pluralität des Feminismus spiegelt in gewisser Weise die Pluralität weiblicher Erfahrungen wider, und darin liegt ein weiteres Argument, warum es nötig ist, gegen die Geringschätzung weiblichen Schreibens und einer feministischen Literaturkritik aufzubegehren." Votavová stellt immerhin fest, dass man in der Slowakei anders als in Tschechien problemlos Schriftstellerinnen finde, die sich zum gesellschaftlichen Aspekt ihres Werks bekennen, und fragt sich, woran das liegt. "Slowakische Belletristik, die von Frauen geschrieben wird, erscheint von Tschechien aus gesehen engagierter, expliziter feministisch oder radikaler. Vielleicht ist sie von einem größeren Bedürfnis motiviert, sich von der konservativeren Gesellschaft abzugrenzen, vielleicht ist es auch ein reiner Zufall."

Magazinrundschau vom 06.10.2020 - H7O

In einem Beitrag zum Thema Genderneutralität schreibt die tschechische Lektorin und Übersetzerin Lucie Bregantová mit einem gewissen Neid und Bewunderung über die englischsprachige Literatur, die es sich ihrer großen Leserschaft wegen erlauben könne, sich Minderheitenthemen zu widmen, vor allem aber den "riesigen Vorteil" habe, schon sprachimmanent quasi genderneutral zu sein. Denn während man im Englischen - und bis zu einem gewissen Grad auch im Deutschen - lange Abschnitte eines erzählenden Ichs lesen kann, ohne dabei zu ahnen, ob es sich um ein männliches oder weibliches Ich handelt, ist das im Tschechischen schon aus grammatisch-morphologischen Gründen schier nicht möglich, da zum Beispiel die Vergangenheitsform von Verben automatisch von einer weiblichen oder männlichen Endung markiert wird. (Ein Aspekt, der übrigens auch die romanischen Sprachen betrifft.) Auch die Dichterin Kateřina Matuštíková hat sich letzten Monat in einem Artikel diesem Problem gewidmet, das ja in den slawischen Sprachen schon beim geschlechtlich markierten Nachnamen beginnt. (Entsprechend schreibt die Autorin sich Katka Matuštík*ová.) Bregantová schreibt, es sei kein Zufall, dass etwa Jeanette Wintersons Roman "Written on the Body" (Auf den Körper geschrieben) fast als einziger der Autorin nicht ins Tschechische übersetzt worden sei. "Er ist so geschrieben, dass uneindeutig bleibt, ob die zentrale Person ein Mann oder eine Frau ist." Auch wenn der Wille da ist - das Bemühen um ein nichtbinäres oder diverses Erzählen erfordern beim Schreiben oder Übersetzen unendlich viele Kompromisse, die eine flüssige Lektüre beeinträchtigen. Dennoch macht Bregantová ein paar Vorschläge, wie man geschlechtliche Uneindeutigkeit sprachlich einigermaßen elegant ausdrücken könnte, und meint, eine mögliche Entwicklung sei hier noch ganz am Anfang. Immerhin hat sich das Tschechische in der Vergangenheit äußerst kreativ gezeigt, was die Einverleibung von ausländischen Einflüssen und Schaffung von Neologismen betrifft.

Magazinrundschau vom 16.06.2020 - H7O

Anna Maślanka und Łukasz Grzesiczak berichten über das Sterben kleiner Buchhandlungen in Polen - und engagierte Bemühungen, dem etwas entgegenzusetzen. Die Voraussetzungen sind denkbar schwierig: "Im Jahr 2019 haben 61 Prozent der Polen kein einziges Buch gelesen." Immerhin kaufen sie etwas mehr, als sie lesen: "Im gleichen Jahr haben laut Picodi 63 Prozent der Frauen und 52 Prozent der Männer im Polen wenigstens ein Buch gekauft." Das geschieht allerdings zunehmend übers Internet. Da es keine Buchpreisbindung gibt, können die großen Buchhandelsketten und die Onlinehändler über die Mengenbestellungen den Verlagen größere Rabatte abfordern und günstigere Preise anbieten als die kleinen Buchhändler, die oft nur einzelne Exemplare in den Laden bestellen. Inzwischen gehört jede fünfte polnische Buchhandlung zu einer der großen Ketten. Die Kulturaktivistin Anna Karczewska hat deshalb bereits verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, mit denen die unabhängigen Läden unterstützt werden sollen. "Buchhandlungen sind keine bloßen Geschäfte und Buchlager", so Karczewska, "sie sind Kulturinstitutionen, Orte der Begegnung, der Inspiration und des Gesprächs. Und oft sind es die ersten Orte, wo wir der Literatur begegnen." Ihrem Engagement ist etwa eine Karte zu verdanken, mit der man kleine Buchhandlungen finden kann, sowie der Blog "Buchreservat", auf dem sich die einzelnen Läden vorstellen. In jedem April findet außerdem das "Wochenende der kleinen Buchhandlungen" statt, mit vielen Autorenlesungen und Diskussionen, und letztes Jahr gab es erstmals im ganzen Land die "Lange Nacht der Buchhandlungen", bei der etwa dichterische Silent Discos oder eine 24-stündige gemeinsame Proust-Lektüre stattfanden. Krakau ist übrigens die einzige Stadt Polens, die sich für den Erhalt der traditionellen Buchhandlungen einsetze.

Magazinrundschau vom 20.09.2016 - H7O

Eine neue tschechische Monografie spürt in verschiedenen Aufsätzen dem Phänomen Jaroslav Hašek nach. Dessen berühmtes Hauptwerk betreffend, kommt Herausgeber František A. Podhajský im Interview zu dem unkonventionellen Schluss: "Švejk ist kein Schlitzohr, sondern eine neuzeitliche Version von Christus. 'Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk' (im Deutschen in der neuen Übersetzung von seiner früheren Putzigkeit befreit) sind kein Buch voller Anekdoten, sondern ein moderner Roman par excellence. Es handelt sich nicht um eine Art Handbuch eines moralischen Nihilismus, sondern um ein zutiefst ethisches Werk, das an einzelnen Beispielen lehrt, wie man sich in einer neuen Welt seine Menschlichkeit bewahrt."

Magazinrundschau vom 30.06.2015 - H7O

Anlässlich der Brünner Literaturtage erzählt der Übersetzer, Autor und Ukrainist Alexej Sevruk im Gespräch mit Zdeněk Staszek von der ukrainischen Literaturszene: "Autorenlesungen sind in bestimmten Kreisen schwer in Mode. Die Leser und ihre Schriftsteller bilden eine Gemeinschaft, die subkulturelle Züge trägt. Diese Subkultur repräsentiert ein aufgewecktes, interessiertes Segment der Gesellschaft. Es besucht Festivals, Messen, Clubs, Buchhandlungen und öffentliche Säle. Etwas zugespitzt sagt man, dass der Majdan von Lesern gemacht wurde, im Unterschied zur passiven Mehrheit, die die Geschehnisse auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit im Fernsehen verfolgt hat. Andererseits gibt es in der Ukraine immer noch das Sprichwort: "Wer viel liest, der viel sündigt", und die einfachen Leute begegnen Lesern mit Misstrauen. So eine hermetische Gesellschaft mit subkulturellen Zügen ist verdächtig - was ziehen die sich da vor der Welt zurück und vollführen irgendwelche geheimen Rituale? Die Ausfälle gegen Intellektuelle (von links und rechts) erinnern an mittelalterliche Hexereibezichtigungen."