9punkt - Die Debattenrundschau

Russland ist längst zum kleinen Bruder degradiert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2024. "Einfrieren"? Eine sehr deutsche Sehnsucht, findet die FAZ, aber weder die Ukraine noch Russland sind daran interessiert,  ergänzt Politologe Gerhard Mangott im Tagesspiegel. Ebendort nennt Olaf Scholz die Debatte "lächerlich", lässt aber offen, ob er die Erfinder des Begriffs "Einfrieren" kritisiert oder nur die Debatte darüber. Tablet erzählt die superfinstere Geschichte des Hamas-Chefs und Mörders Yahya Sinwar.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.03.2024 finden Sie hier

Kulturmarkt

Heute abend eröffnet die Leipziger Buchmesse - und für die Veranstaltung geht es selbst um alles, schreibt Andreas Platthaus im Leitartikel der FAZ. Sie ist lädiert nach drei Jahren Corona und angesichts einer Branche in der Krise. Die neue Chefin der Messe, Astrid Böhmisch, die den langjährigen Chef Oliver Zille ablöst, "sofort unter scharfer Beobachtung", so Platthaus: "Nun kommt der Führungswechsel aber auch noch in einer Zeit, da auf den Prüfstand kommen dürfte, wofür Zille eingetreten ist: das Lesefest statt des Lesegeschäfts. Und in der heikle Themen en masse anstehen: Absatzkrise im Buchhandel, defizitäre Leseförderung in den Schulen, Künstliche Intelligenz in der Übersetzerbranche."
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Europa

Buch in der Debatte

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Die taz bringt noch eine Literaturbeilage. Hier spricht Sofi Oksanen mit Jens Uthoff über ihr neues Buch "Putins Krieg gegen die Frauen". "Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Antifeminismus in Russland und dem Ukrainekrieg: Die Ukraine repräsentiert alles, was der Kreml ablehnt - zum Beispiel, dass Frauen mehr Macht haben. Die Ukraine schickt auch Soldatinnen an die Front, hat rund 5.000 weibliche Offiziere, Präsident Selenski ehrt viele von ihnen mit der Ehrenmedaille 'Held der Ukraine'. Es ist definitiv auch ein Krieg um die Gleichberechtigung der Geschlechter."

"Weder die russische Seite noch die ukrainische Seite will ein Einfrieren des Konflikts", sagt der Politologe Gerhard Mangott im Tagesspiegel-Gespräch: "Russland deswegen nicht, weil es jetzt leicht Oberhand hat. Die Ukraine nicht, weil sie darauf hofft, mit westlichen Waffen wieder in die Offensive gehen zu können. Beide Seiten wollen einen militärischen Erfolg auf dem Schlachtfeld erreichen und denken gar nicht daran, den Krieg einzufrieren. Das könnte erst dann möglich werden, wenn beide Kriegsparteien militärisch erschöpft sind und sich eben keine Vorteile mehr auf dem Schlachtfeld erhoffen. Dann könnte passieren, dass man sich zusammensetzt und über eine Waffenruhe verhandelt." Aber: "Davon sind wir derzeit noch sehr weit entfernt, vermutlich Jahre, wie manche Experten in den USA voraussagen. Es gibt allerdings ein Szenario, bei dem sich das ändern könnte - nämlich, wenn Donald Trump Präsident der USA wird und dann tatsächlich jegliche Unterstützung der Ukraine einstellt. Das würde das Land in eine so große militärische Schieflage bringen, sodass Kiew geradezu darum betteln müsste, Verhandlungen über eine Waffenruhe aufzunehmen."

Das Wort "Einfrieren" bedient für FAZ-Autor Simon Strauß, vor allem eines: deutsche Mentalität. "Insbesondere hinter dem großen Wort Frieden kann man sich in Deutschland ziemlich gut klein machen, kann sich verstecken, um nicht unumwunden das sagen zu müssen, was man in Wahrheit fürchtet: Die Ukraine könnte verlieren - und wir als Nächste mit ihr, wenn wir jetzt nicht einen Schritt auf den Stärkeren zugehen."

Ebenfalls im Tagesspiegel findet Olaf Scholz die Debatte um ein "Einfrieren des Konflikts" nur "peinlich", wie er im Gespräch betont: "Diese Debatte in Deutschland ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Unser Land ist in Europa der größte Unterstützer der Ukraine mit militärischen Waffen - und trotzdem findet diese Debatte statt? Das ist peinlich. Lieber sollte man doch sagen: Ganz schön beeindruckend! Deutschland hat für dieses Jahr im Haushalt mehr als sieben Milliarden Euro für Waffenlieferungen an die Ukraine vorgesehen, Frankreich mobilisiert drei, Großbritannien 2,5 Milliarden. Seit 2022 hat unser Land bereits 28 Milliarden Euro an Waffen geliefert oder fest zugesagt. Das kann sich sehen lassen."

"Europas Schicksal wird in der Ukraine entschieden", sekundiert Joseph Joffe, der dem Westen in der NZZ eine Mitschuld an einer möglichen Niederlage der Ukraine gibt: "Im Westen wächst die Kriegsmüdigkeit. Lauter werden die Stimmen, die Waffenstillstand und Verhandlung fordern. Sanktionen behelligen Putin kaum; seine Kriegswirtschaft wächst wie unter den totalitären Mächten des 20. Jahrhunderts. Der Papst rät Kiew, die weiße Fahne zu hissen. Ob das recht ist, möge Franziskus mit dem lieben Gott ausmachen. Auf Erden aber droht der Ukraine die Hölle, wenn ihr die Munition ausgeht, während Putin ungestört Dämme, Wohnhäuser und Hospitäler zerstört, wo sich anders als in Gaza keine Kombattanten verstecken. Eine Waffenruhe würde den Alleinherrscher begünstigen, könnte er seine Armee doch so für die nächste Offensive stärken. Das müssten auch Leute kapieren, die Krieg bloß aus dem Kino kennen."
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Politik

Judith Miller erzählt im Tablet Magazine die superfinster faszinierende Geschichte Yahya Sinwars, Hamas-Chef und Gott des Gemetzels vom 7. Oktober. Er saß jahrelang in israelischen Gefängnissen, weil er eigenhändig vier palästinensische "Kollaborateure" ermordet hatte. Die Israelis hatten Sinwar im Gefängniskrankenhaus vor einem Hirntumor gerettet, und er hatte sich bei ihnen in perfektem Hebräisch bedankt. Aber das änderte nichts an seinem festen Vorsatz, das gesamte "palästinensische" Gebiet von Juden zu "befreien". Sinwar wurde im Rahmen des Austauschs gegen den israelischen Soldaten Gilat Shalit 2006 aus dem Gefängnis entlassen, zu seinem Leidwesen: Es waren tausend Hamas-Terroristen gegen Shalit getauscht worden, er aber wollte, dass alle Terroristen befreit werden: "Drei Wochen nach dem 7. Oktober schlug Sinwar erneut vor, alle Palästinenser in israelischen Gefängnissen im Austausch für die Geiseln freizulassen… Benjamin Netanjahu lehnte dies schnell und heftig ab. Sinwar sei ein 'lebender Toter', sagte Netanjahu und beteuerte, Israels Ziel Nr. 1 in seiner massiven Offensive zu töten. Israel setzte ein Kopfgeld von 400.000 Dollar für Informationen über seinen Aufenthaltsort aus. Doch Sinwar ist Israels Zorn bisher entgangen."

Sehr interessant liest sich ein ausführlicher Twitter-Post des französischen Politologen und Publizisten Ferghane Azihari, der auf die propalästinensische Politikerin Rima Hassan antwortet, die wiederum im französischen Fernsehen eine Einstaatenlösung für Israel fordert, um die "Apartheid" abzuschaffen (ihr Video ist in dem Tweet eingebettet). "Wenn man über das Zusammenleben von Juden und arabischen Muslimen spricht, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wie Minderheiten (nicht nur jüdische) heute in Ländern behandelt werden, in denen arabische Muslime die Mehrheit stellen, dann ist das nicht nur eine Verhöhnung der Welt. Es zeigt, dass einem das Wohlergehen der arabischen Welt und der Frieden innerhalb dieser Welt völlig egal sind."

In der NZZ zeichnet der Sozialwissenschaftler Matthias Messmer die "unheilvolle Allianz" zwischen Russland und China nach, die im schlimmsten Fall zum dritten Weltkrieg führen könnte, wie einige Experten befürchten. Allerdings zieht Russland gegenüber China inzwischen den Kürzeren: "Fast siebzig Jahre lang war Moskau der große Bruder ('gege'), mittlerweile ist Russland längst zum kleinen Bruder ('didi') degradiert. Das ist, wohl oder übel, mittlerweile auch Putin klar, so dass er sich bei Xi mittlerweile unterwürfig anbiedert. Der Kremlchef weiß, dass sein Land China gegenüber nicht viel mehr zu bieten hat als natürliche Ressourcen, Waffentechnologie und ideologische Rückendeckung für Pekings Ringen mit den USA. Folglich wäscht eine Hand die andere: So wie China sich weigerte, russische Militäraktionen in Tschetschenien, Georgien, Syrien und, im jüngsten Fall, in der Ukraine zu verurteilen, unterstützte Russland voll und ganz die chinesischen Positionen in Bezug auf Taiwan, Hongkong, Tibet und Xinjiang. Selbst im Südchinesischen Meer demonstriert Moskau stillschweigende Unterstützung für Pekings Position."
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Medien

Der Milliardär Vincent Bolloré musste in Frankreich vor einem parlamentarischen Untersuchungssausschuss aussagen, berichtet Michaela Wiegel in der FAZ. Ihm gehört unter anderem der Fernsehsender CNews, der Eric Zemmour groß gemacht hat. Die Illustrierte Paris Match hat er an seinen Kumpel Bernard Arnault, den Tycoon des Luxuskonzerns LVMH verkauft. "Tatsächlich haben sich Milliardäre die Medienlandschaft in Frankreich untereinander aufgeteilt. Arnault gehören das Wirtschaftsblatt Les Echos und die Tageszeitung Le Parisien. Der Marseiller Reeder Rodolphe Saadé besitzt die südfranzösische Regionalzeitung La Provence sowie die Wirtschaftszeitung La Tribune und hat gerade den Nachrichtensender BFM-TV erworben. Das Rüstungsunternehmen Dassault kontrolliert Le Figaro, der Telekommunikationsunternehmer Xavier Niel ist an Le Monde beteiligt. Der Industrielle Martin Bouygues besitzt den größten privaten Fernsehsender TF1." Bolloré hat sich vor dem Ausschuss gut geschlagen, erzählt Wiegel - was vor allem die Schwäche der parlamentarische Kontrolle zeige, aber er ist ein ausgewiesener Rechtsextremer. Le Monde hatte einst ein denkwürdiges Portät über ihn verfasst (unser Resümee).
Archiv: Medien

Ideen

Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie, interveniert in der FAZ-Debatte über die Frage, ob postkolonialistische Ansätze strukturell antisemitisch seien. Seine Antwort: nicht per se. "Antisemitismus (ist) tatsächlich nicht das entscheidende Problem der postkolonialen Ansätze. Ihr Problem ist ein anderes: ihre ins Prinzipielle gewendete Ablehnung des Westens, zu dem auch Israel geschlagen wird, sowie ihre damit zusammenhängende einseitige Parteinahme für den globalen Süden, der nur als Opfer erscheinen kann, nicht aber als Täter." Die Frage, ob das eine mit dem anderen zusammenhängt, lässt Pollacks Artikel eher offen.
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Für die SZ hat Ronen Steinke in das Gutachten blicken können, dass Claudia Roth bei dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers mit Blick auf die Rechtsgrundlage von Klauseln gegen Antisemitismus in Auftrag gegeben hat. Und Möllers' Antwort fällt relativ eindeutig aus. Zwar stehe es dem Staat "programmatisch frei, seine Förderung von Kunst und Kultur mit den Zielen der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus zu verbinden". Das wäre allerdings ein Eingriff in die Kunstfreiheit, so Möllers: "Eine Einführung von Anti-Antisemitismus-Klauseln nämlich 'legt die Errichtung einer Kontrollstruktur nahe, die ihrerseits missbrauchsanfällig ist und die die faktischen Spielräume öffentlicher Kunstinstitutionen auf eine problematische Art und Weise zugunsten politischer Einflussnahme einengen könnte'. Und vor allem: Problematisch sei es, wenn der Staat von Künstlern verlange, sich auf eine bestimmte Definition von Antisemitismus festzulegen, so wie das etwa in Berlin geplant war, mit einem Verweis auf die sehr ausführliche Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Im Hintergrund steht stets die heikle Frage, welche Formen der Kritik an Israel gleichzeitig antisemitische Ressentiments beinhalten."

Anmerkung der Redaktion: Was Steinke nicht erwähnt, ist, dass Claudia Roth mit Christoph Möllers ausgerechnet einen Experten für ein "neutrales" Gutachten beauftragte, der als Berater am Entstehen des "Plädoyers der 'Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" beteiligt war, also an jenem Aufruf, der die Volksvertreter aufforderte, ihre BDS-Resolution zurückzunehmen, und dafür eintrat, dass BDS-Positionen an Kulturinstitutionen vertreten werden dürfen.
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Geschichte

"War die DDR ein Apartheidsstaat", fragt sich Boris Pofalla (Welt) nach der Ausstellung "Echos der Bruderländer" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, die sich mit dem Einwanderungsland DDR auseinandersetzt und das offenbar nahelegt. Gastarbeiter kamen vor allem ab 1978 aus außereuropäischen Ländern, bleiben sollten sie nicht. Und auch eine "zu enge und dauerhafte Verbrüderung der Sozialistinnen und Sozialisten untereinander" war nie vorgesehen. "Mit einer an den südafrikanischen Intimfeind der Linken gemahnenden Apartheid-Strategie hielt man die eigenen Leute von denen aus dem Rest der Welt separiert. Vertragsarbeiter lebten in eigenen Unterkünften in der Nähe ihrer Arbeitsstelle, Kontakte zu den Einheimischen waren genehmigungspflichtig. Wer sich als Vertragsarbeiter in eine Bürgerin der DDR verliebte und heiraten wollte, musste zurück, erzählen diejenigen, die es erlebt haben: nach einer Schwangerschaft oder der zweiten Abtreibung war Schluss. Von Einwanderung auf Dauer in die DDR konnte also keine Rede sein, schon gar nicht ungesteuert."

Russland verlangt von Deutschland, die Leningrad Blockade als Genozid anzuerkennen. Die Hungerpolitik der Nazis gegen die Sowjetbürger sei insgesamt genozidal gewesen, einen gezielten Völkermord an der Einwohnerschaft Leningrads gab es aber nicht, widerspricht der Osteuropahistoriker Robert Kindler im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Stattdessen "knüpfe die Forderung an bestehende Erzählungen von den Russen als Hauptleidtragenden und Siegern im Großen Vaterländischen Krieg an. 'Die Leningrader Blockade ist dabei ein ganz zentraler Punkt im Mythos um den Krieg, denn sie steht wie kaum ein anderes Ereignis für Durchhaltewillen und schlussendlichen Triumph', sagt Kindler, 'zudem passt die Forderung gut in die Zeit, die von einer von der russischen Seite verschärften Agitation gegen Deutschland geprägt ist.'"
Archiv: Geschichte