Virtualienmarkt

A9: Zuspitzung des Google-Syndroms

Von Rüdiger Wischenbart
26.04.2004. Mit A9 ergänzt Amazon die Suche von Google um einige manchmal fast unheimliche Möglichkeiten.
"Search in many ways is about reading people's minds", sagt Udi Manber, ein ehemaliger "Chief Technology Architect von Yahoo, der nun für den Internet-Buchhändler Amazon tätig ist.

Um unsere Gedanken zu lesen, lässt sich Manber erstaunlich simple Dinge einfallen: Zuerst entwickelte er für Amazon ein Suchprogramm, das es ermöglicht, nicht nur das Internet, sondern eine rasch wachsende Zahl von Büchern auch zwischen den Buchdeckeln zu durchsuchen. Rund 120.000 überwiegend englischsprachige Titel aus dem Amazon-Katalog liegen bereits aufgeblättert vor uns. (Am Virtualienmarkt wurde darüber bereits im November 2003 unter der Überschrift "Amazon küsst Bücher wach" ausführlich berichtet)

Nun folgte Mitte April, und ohne großen Werberummel, der nächste Streich: A9, die Verknüpfung der Büchermaschine mit der Suchmaschine von Google, ergänzt durch einen kleinen Werkzeugkasten, der die Suche "persönlicher" machen soll.

Das funktioniert so:

Wenn ich über A9 eine Internet Suche starte, etwa zum Stichwort "Virtualienmarkt", bekomme ich nicht nur alle Internet-Fundstellen aus dem Perlentaucher und aus einem bayrischen Blog gleichen Titels. Ich finde auch alle Bücher (soweit sie von Amazon schon aufgeschlossen wurden), in denen mein Stichwort vorkommt. Hier etwa den Hinweis auf eine "vegetarian snack bar" in München am (falsch geschriebenen) "Virtualienmarkt". Die Fundstelle ist auf Seite 89 des Buchs "Insight Compact Guide Munich" von Dr. Hans Latja.

Überdies merkt sich A9 meine Suche. Ich kann später direkt auf vorausgegangene Suchen zurückgreifen. Neue, aktuellere Funde werden entsprechend gekennzeichnet. Ein weiteres Werkzeug erlaubt mir, Notizen zu einzelnen von mir besuchten Web Seiten zu machen, und auch diese virtuellen Zettel bleiben mir erhalten.

Ein gutes Stück tiefer reicht die nächste Schicht von Informationen, die ein weiteres, zur Zeit noch wenig bekanntes Tochterunternehmen von Amazon namens Alexa in unscheinbaren Buttons ins Suchergebnis einfügt: Unter dem Hinweis auf "Site Infos" werde ich aufgeklärt über den Internetverkehr auf der gefundenen Website, über die Anzahl anderer Sites, die auf die Fund-Website verlinken (931 sind es angeblich im Fall des Perlentauchers, die Spanne reicht von den persönlichen Seiten einer Yahoo Userin bis zur New York Times on the Web - aber Vorsicht, diese Zahlen sind noch anfällig und ungenau, denn die ganze Einrichtung wird vorerst noch als Testbetrieb geführt).

Des weiteren kommt die von Amazon vertraute Liste weiterführender Empfehlungen, die hier nicht auf Bücher, sondern auf andere Internetseiten unter der Rubrik "People who visit this page also visit..." führen. Beim Perlentaucher sind dies etwa "Philosophy and Art" oder Literaturkritik.de. Ich kann die Perlentaucher-Seite auch online rezensieren, und ich bekomme eine "contact info" mit der korrekten Angabe über den Sitz der Perlentaucher Medien GmbH.

So wird das Web mit einem Click ziemlich transparent. Allerdings, A9 kann sich meine Angaben nur merken, weil ich mich über mein Amazon-Kundenkonto erst einmal anmelden und ausweisen muss. Die Informationen über die besuchten Websites analysiert seine Suchmaschine, und die hat A9 von Google lizensiert.

Der große Hunger nach Kundeninformationen, für den Amazon ohnedies bekannt und gefürchtet ist, hat erwartungsgemäß auf Anhieb scharfe Reaktionen auf zahlreichen Internet Foren provoziert. "Schnüffelsoftware als Verbesserung" ätzte der Kolumnist auf CommsWorl, und auf Slashdot meinte jemand augenzwinkernd, dass es stets Suchläufe gebe, an die man lieber nicht erinnert werden möchte (Links hier). Sie bleiben jedoch irgendwo gespeichert. Man kann sie im Nachhinein nur unsichtbar machen. Was die Spuren meiner Wege durch das Internet angeht, bleibt letztlich wenig mehr als die lapidare Erklärung des gutwilligen Rezensenten von Searchenginewatch, der schreibt: "In short, I trust Amazon".

Die wunde Flanke der Stück um Stück verlorenen Privatheit und Anonymität am Internet ist aber nur die eine Seite - wenn auch eine Seite, über die aus guten Gründen viel und besorgt geschrieben wird.

Die andere - inhaltliche - Dimension ist die zunehmende Zuspitzung des Google-Syndroms.

Google, die längst unverzichtbare Suchmaschine, war der Schlüssel zum Breitenerfolg des Internets, denn Google erschloss die konfusen Gipfel und Täler rund um die Daten am Netz. Freilich hieß dies auch, dass damit eine scharfe Linie gezogen wurde gegenüber allen anderen Informationen, die - aus welchen Gründen immer, absichtlich, aus kommerziellen Erwägungen oder aus Geheimhaltung - draußen bleiben.

Mehr noch, gerade weil die Zahl der Funde oft nahezu unermesslich ist, muss Google eine Hierarchie erstellen. Die gefragteren Internet Seiten - jene, auf die mehr Links verweisen - werden zuerst angezeigt. Weniger Geläufiges rutscht nach hinten.

Damit wird eine Dynamik verstärkt, die unser traditionelles, verschachteltes Wissenssystem radikal nach einem einzigen Faktor ausrichtet und ordnet - nach dem aktuellem Erfolg eines Angebots. Die Erweiterung dieses Prinzips von Webseiten auf Bücher, also die Integration der virtuellen Weltbibliothek in einem System, ist der nächste, ebenso logische wie wirkungsmächtige Schritt.

Ich hänge hier keinen Verschwörungstheorien nach. Aber Amazon ist kein abstrakter Wissensspeicher, sondern eine Buch- und Handelsfirma mit klarer Ausrichtung auf Gewinn (den Amazon neuerdings auch tatsächlich einfährt). Und A9 wurde aus genau diesem Grund gegründet, so sein Chef Udi Manber: ""Our job is to concentrate on ecommerce". (so gegenüber dem Branchendienst Searchenginewatch )

Mit den verschiedenen Werkzeugen zur Personalisierung, also zum Maßschneidern nach persönlichen Präferenzen wird an einem großen, das eigene Drehmoment ständig verstärkenden Rad gedreht: Will man den ganzen Nutzen aus der Integration von Information und Wissen erschließen, muss man all jene Dinge anschalten, die die persönlichen Vorlieben und Gewohnheiten auf den Servern von Amazon speichern. (Oder wie ein aufmerksamer Beiträger auf Slashdot notierte: "If you disable the Amazon and A9 cookies then you loose the search inside and history "features", which is most of what A9 offers over Google."

Für die eigenen Informationsgewohnheiten gilt wohl das Entsprechende: Ich werde mich zunehmend an den von Suchmaschinen und User-Empfehlungen angelegten und kontinuierlich verstärkten Empfehlungen und Hierarchien orientieren und zumindest nebenher wahrnehmen, wie es um das Rating und die Prominenz meiner Informationsquellen bestellt ist. Ich werde über den Zugriff zu meiner eigenen Informationsgeschichte vermehrt auf von mir bereits ausgetretenen Pfaden wandeln, und nur in Ausnahmefällen die Anstrengung auf mich nehmen unbekanntes Terrain zu erkunden. Ich werde meine Informationskreisläufe integrieren, weil es praktisch ist. Aber ich nehme damit auch einen großen Verlust in Kauf:

Es ist ein Paradox. Jeder Zugewinn an Personalisierung, also an Komfort, an Reichweite und vor allem an Möglichkeiten, meine Werkzeuge nach meinem individuellen Bedarf zu formen, bringt zwangsläufig eine zunehmende Einschränkung meines Blickes mit sich.

Sich die Gedanken lesen zu lassen, erweist sich als praktisch und bequem. Man muss es allerdings mögen.