Vom Nachttisch geräumt

Ein melancholisches Medium

Von Arno Widmann
18.12.2017. Sehr dunkel vom Dunkel erzählt Marcel Proust in der Urfassung der "Recherche", die damals noch "Das Flimmern des Herzens" hieß.
Leser stellen sich gerne vor, wie sie in einem Sessel sitzen oder auf einer Couch liegen und Stunden um Stunden hineintauchen in andere, bisher nicht gekannte Welten. Sie lasen so einst Stevensons "Schatzinsel", die Erzählungen von Borges oder Karl May und Hegel. Vor allem aber lasen sie so hingegossen und völlig verfallen Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Aber es gibt, das wissen Leser auch, ganz andere Arten zu lesen. Es gibt den Tisch und darauf der riesige Bildband, den man langsam durchblättert, lange bevor man die Texte in ihm zu lesen beginnt. Dann gibt es durchaus handliche Bücher, die man gut liegend lesen könnte, aber der Text will nicht gelesen, sondern studiert sein. Ein solches Buch ist "Das Flimmern des Herzens" von Marcel Proust. Stefan Zweifel hat die Druckbogen des Jahres 1913 des ersten Bandes erstmals ins Deutsche übersetzt. Sie sind in der Anderen Bibliothek erschienen. Rechts kann man den Roman, der noch "Das Flimmern des Herzens" hieß, so lesen, wie er auf den Druckfahnen stand. Was Proust dort strich, steht in Blau auf der Seite, der Rest im gewohnten Schwarz.

Hat man es erst einmal geschafft, das Blau zu ignorieren, kann man die 280 Druckseiten lesen, ohne sich viel Gedanken zu machen. Wie jeden Roman halt. Man darf nur nie hinüberschauen auf die linke Seite. Dort steht nämlich der Text, wie Proust ihn korrigierte. Also nehmen wir den berühmten Anfang. Der lautet auf der rechten Seite, also auf dem unkorrigierten Druckbogen, so: "Lange Zeit ging ich zu guter Stunde zu Bett. Bisweilen schlossen sich meine Augen so rasch, dass ich nicht einmal Zeit fand, mir zu sagen: 'Ich schlafe ein.' Doch, schon eine halbe Stunde später, da weckte mich der Gedanke, dass es Zeit sei, Schlaf zu suchen; ich wollte die Zeitung hinwerfen, die ich noch in Händen wähnte, und mein Licht ausblasen; voll Verwunderung erblickte ich um mich herum ein Dunkel, das sanft und beruhigend für meine Augen war, und vielleicht mehr noch für meinen Geist, dem dies wie ein Ding ohne Grund vorkam, unfasslich, ein wahrhaft dunkles Ding, und es ließ ihn jene innerliche Dunkelheit fühlen, in die er selber abgesunken war."

Das ist zunächst einmal ein ellenlanger Satz, den viele Zeitgenossen als ein teutonisches Ungetüm ansahen, jedenfalls nicht als ein Meisterwerk französischer Prosa. Erfahrenen Proustlesern wird nicht das aufgefallen sein, sondern die Zeitung. Sie wissen natürlich, dass der Icherzähler nicht bei der Zeitungslektüre einschlief, sondern über einem deutlich älteren, seriöseren und - sagen wir ruhig auch - melancholischeren Medium: einem Buch. Ich habe den Text ohne die blau markierten Kürzungen zitiert. Der berühmte erste Satz "Lange Zeit ging ich zu guter Stunde zu Bett" wurde von Proust übrigens erst gestrichen und ersetzt durch "Während mancher Jahre las ich jeden Abend, kaum war ich zu Bett gegangen in paar Seiten in…." Das strich er dann wieder und fing wieder mit dem ersten ersten Satz an. Blickt man hinüber auf die Seite 6, kann man fast jede Ergänzung, jede Korrektur nachvollziehen. Im endgültigen Buch gibt es die oben zitierte Druckbogen-Passage, die sehr dunkel vom Dunkel erzählt, nicht mehr: "ein wahrhaft dunkles Ding, und es ließ ihn jene innerliche Dunkelheit fühlen, in die er selber abgesunken war". Nach der kam auf dem Druckbogen gleich "der Pfiff der Züge".

In "Swanns Welt" ist der Weg vom Unbewussten ins Bewusste deutlich länger als auf dem Druckbogen von "Das Flimmern des Herzens". Er führt über das Buch und die in ihm, nicht in einem bloßen Dunkel, sich bewegende Traumarbeit. Man kann - ich nenne es jetzt so - Stefan Zweifels Buch nicht lesen, ohne es zu studieren. Nur wenige werden das von der ersten bis zur letzten Seite tun. Aber darin blättern, nach Lieblingsstellen und ihrer Genese suchen und womöglich neue Lieblingsstellen darin entdecken - das kann jeder tun, der sich zwei Stunden Zeit nimmt. Der Leser wird klüger dabei und Proust noch schöner.

Marcel Proust: Das Flimmern des Herzens - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - In der Urfassung, Die Andere Bibliothek, Berlin 2017, aus den französischen Druckbogen erstmals übersetzt, mit einem Anhang und einem Vorwort versehen von Stefan Zweifel, 732 Seiten, 42 Euro