Vom Nachttisch geräumt

Die deutsche Hauptstadt des 19. Jahrhunderts

Von Arno Widmann
02.07.2018. Wie Krähwinkel im Biedermeier Karriere machte, davon erzählt eine Ausstellung mit gediegenem Humor in Baden Baden.
Wer wird sich schon einem Buch, einer Ausstellung mit dem Titel "Gediegener Spott" nähern? Niemand jedenfalls, der gerne spottet oder gerne Spöttern zuschaut oder zuhört. Gediegen spotten heißt nicht spotten, sondern so tun, als täte man es. Das ist ein Spiel, das Lieblingstöchter mit Papi spielen, weil sie wissen, er liebt es. "Gediegener Spott - Bilder aus Krähwinkel" heißt eine Ausstellung, die noch bis zum 9. September im Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts in Baden Baden zu sehen ist. Der Katalog dazu ist im Athena Verlag erschienen.

1803 veröffentlichte der später vom Burschenschafter Karl Ludwig Sand (1795-1820) ermordete August von Kotzebue (1761-1819) seine Komödie "Die deutschen Kleinstädter". Den Ort der Handlung nannte er "Krähwinkel". Kotzebues Komödie war die deutsche Variation eines französischen Stückes "La petite ville" von Louis Benoit Picard, das 1801 in Paris Premiere gehabt hatte. Im selben Jahr veröffentlichte Jean Paul "Das heimliche Klaglied der jezigen Männer; eine Stadtgeschichte". Jean Paul nannte die Stadt "Krehwinkel". Das schreibe ich ab aus dem interessanten Katalogbeitrag von Dieter Ante, Gefäßchirurg in Ludwigshafen und Sammler von Karikaturen des 19. Jahrhunderts. Er stellt sich die Frage: "Krähwinkel - typisch deutsch?" Krähwinkel machte Karriere. Nestroy und andere schrieben weitere Stücke über den Ort. Er gab Romanen das rechte Lokalkolorit. "Krähwinkel" wurde zu einem stehenden Begriff für die Kleinstadt, die nach der Residenz schielte, niemals aber eine werden konnte. Krähwinkel wurde Deutschland. Ein Land, das es nicht gab. Das darum auch keine Hauptstadt hatte wie Frankreich oder England. In einem anderen Beitrag wird Gerd Brinkhus, der ehemalige Leiter der Abteilung Handschriften und Rara an der Universitätsbibliothek Tübingen, zitiert, der geschrieben hatte: "Die Mutter aller Städte, Krähwinkel, existiert wirklich!" Er nannte Krähwinkel auch die "Universalstadt des deutschen Landes".

C.G.H. Geißler (1770-1844) [J.B. Wunder (1786-1858) sc.]: Wie die jungen Krähwinkler Maler auf einer Kunstreise das Land durchstreifen, Foto: Dieter Ante

Wesentlich trugen zur Popularität Krähwinkels Karikaturen bei, die von vielen Verlagen häufig als Einblattdrucke verbreitet wurden. Um die geht es in Ausstellung und Katalog. Kotzebue war ermordet worden, weil er sich gegen die Burschenschaften gestellt und weil er verdächtigt worden war, für den Zaren zu spionieren. Seine Ermordung wurde zum Anlass genommen, in Österreich und in den deutschen Staaten noch schärfer gegen alle freiheitlichen Äußerungen, gegen jedes Liebäugeln mit der Demokratie vorzugehen. Die von Kotzebue verspottete Mentalität von Krähwinkel wurde zur deutschen Lebens-, Überlebenshaltung. Dieter Ante schreibt: "Der 'Deutsche' in der sogenannten Zeit des Biedermeier nimmt die weltliche und geistliche Obrigkeit als gottgegeben an und macht pflichtbewusst, was ihm gesagt wird. Er ist fleißig, penibel und ordnungsliebend, liebt seinen König oder Fürsten und hält fest am Althergebrachten…. Wenn sich etwas ändern soll, dann bitte dem schönen Liedtext folgend: 'Immer langsam voran, immer langsam voran, dass der krähwinkler Landsturm nachfolgen kann.'"

Die Krähwinkel-Drucke bilden diese Mentalität ab und kritisieren sie. Mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung. Raus aus Krähwinkel kommen sie nie. Das ist ihre Schwäche, und das ist ihre Stärke. Ihre Art der Kritik an der Krähwinkeligkeit der Verhältnisse verstärkt die noch. Sie ist Teil des Systems einer omnipräsenten Zensur. Was ist so komisch daran, Redensarten wörtlich zu nehmen? Ein Mann zieht auf einer Karre ein Haus hinter sich her: "Der Kaufmann von Krähwinkel führt ein großes Haus". Nun, es zeigt, wie klein ein Haus sein muss, dass ein Krähwinkler es führen kann. Man kommt aus seiner Krähwinkler Haut nicht raus. Darum geht es immer wieder. Die Zeichner blinzeln dem Publikum zu: Wir würden schon gerne, aber es geht nicht. Das Publikum blinzelt dieselbe Botschaft zurück. So bestärken sie einander. Im Wunsch nach dem Ausbruch und im Wissen darum, dass der eh nicht klappen kann.

Ausstellung und Katalog beschreiben, analysieren, belegen dieses Einverständnis als ein Phänomen des deutschen frühen 19. Jahrhunderts. Sie verfahren historisch. Der Besucher, der Leser aber sollte das nicht tun. Er sollte sich fragen nach dem Rahmen, in dem er sich heute bewegt. Werden kommende Generationen uns nicht auch als ein Krähwinkel erkennen, das unfähig war, aus seinem Käfig auszubrechen und darum sich selbst und die Menschheit vor noch viel Schlimmerem nicht bewahren konnte?

Heinrich Heines Gedicht "Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen", erschien 1854, also nach der gescheiterten Revolution von 1848. Aber nichts ist darin zu spüren von aus Krähwinkel noch kommenden Schrecken der Zukunft:

"Wir Bürgermeister und Senat,
Wir haben folgendes Mandat
Stadtväterlichst an alle Klassen
Der treuen Bürgerschaft erlassen.

Ausländer, Fremde, sind es meist,
Die unter uns gesät den Geist
Der Rebellion. Dergleichen Sünder,
Gottlob! Sind selten Landeskinder.

Auch Gottesleugner sind es meist;
Wer sich von seinem Gotte reisst,
Wird endlich auch abtrünnig werden
Von seinen irdischen Behörden.

Der Obrigkeit gehorchen, ist
Die erste Pflicht für Jud und Christ.
Es schließe jeder seine Bude
Sobald es dunkelt, Christ und Jude.

Wo ihrer drei beisammen stehn,
Da soll man auseinander gehn.
Des Nachts soll niemand auf den Gassen
Sich ohne Leuchte sehen lassen.

Es liefre seine Waffen aus
Ein jeder in dem Gildenhaus;
Auch Munition von jeder Sorte
Wird deponiert am selben Orte.

Wer auf der Straße räsoniert,
Wird unverzüglich füsiliert;
Das Räsonieren durch Gebärden
Soll gleichfalls hart bestrafet werden.

Vertrauet Eurem Magistrat,
Der fromm und liebend schützt den Staat
Durch huldreich hochwohlweises Walten;
Euch ziemt es, stets das Maul zu halten."

Gediegener Spott - Bilder aus Krähwinkel, herausgegeben von Matthias Winzen, Athena Verlag, Oberhausen 2018, 288 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen, 24 Euro.