Vom Nachttisch geräumt

Eine Art Aufstand

Von Arno Widmann
29.10.2018. Ignoriert Bertolt Brechts heute so aktuelle Radiotheorie: Stephen Parker in seiner neuen Brecht-Biografie.
2014 veröffentlichte Stephen Parker seine in der deutschen Übersetzung mehr als 1000 Seiten umfassende Brecht-Biografie auf Englisch. Sie ist, so weiß die Rückseite des Umschlages den englischen Lyriker, Übersetzer und Kritiker Michael Hofmann zu zitieren, "eine ingeniöse Biografie… es handelt sich wohl um die beste Biografie eines Literaten, die ich jemals gelesen habe". Michael Hofmann, geboren 1961 in Freiburg, ist Sohn des deutschen Schriftstellers Gert Hofmann (1931-1993). Er hat wahrscheinlich nicht Recht. Das haben Superlative so an sich. Allerdings verstehe ich den Verlag nicht, der mit so einem Klappentext einige Glanzpunkte seiner eigenen Produktion wegwischt. Ist "Sor Juana Inés de la Cruz oder Die Fallstricke des Glaubens" von Octavio Paz wirklich schlechter als Stephen Parkers Brocken? Aber lassen wir das. Sätze sind ja nicht nur wahr oder falsch. Sie können auch ein Gefühl transportieren. Wenn es sich dabei um Begeisterung handelt, bietet sich eine offenkundige Übertreibung geradezu an.

Ich möchte jetzt nicht weiter über das Buch sprechen, nur auf eine Stelle im Buch hinweisen und auf eine merkwürdige Lücke. Zuerst zu letzterem. Im Register habe ich vergebens nach dem Stichwort "Radio" geschaut. Wer heute 70 ist, der kann sich noch erinnern, wie heftig in der Linken ab Ende der 60er Jahre über Brechts Radiotheorie diskutiert wurde. Es erschienen Raubdrucke mit den einschlägigen Texten Arnheims, Benjamins und Brechts. Das interessierte uns damals sehr. Wir waren davon überzeugt, dass der Kapitalismus längst abgewirtschaftet hatte und sich nur noch hielt, weil es ihm gelang, den Menschen vorzumachen, sie fühlten sich wohl in seiner Gegenwart. "Manipulation" war das Stichwort. Dabei spielten die Medien eine wesentliche Rolle. Radio- und Filmtheorie waren die Medientheorie der 20er Jahre. Beide Medien spielten beim Kampf um die Köpfe auch damals schon eine wesentliche Rolle.

Brecht schrieb damals: "Ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen." Dieser Gedanke elektrisierte uns damals. Die schrankenlose Kommunikation eines jeden mit jedem. Das war unsere Utopie. Kein Oben, kein Unten mehr, sondern herrschaftsfreie Kommunikation.

Bertolt Brecht, "Lindberghflug" (mehr dazu hier), 1929. Original radio setting


Da diese eine von Brechts Utopien heute Realität geworden ist, erwarte ich von einer großen Brechtmonografie heute, dass sie auf dessen Radiotheorie eingeht. Das tut Parker nicht. Er zitiert Brechts Äußerungen über sein Stück: "Dem gegenwärtigen Rundfunk soll der Flug der Lindberghs nicht zum Gebrauch dienen, sondern er soll ihn verändern. Die zunehmende Konzentration der mechanischen Mittel sowie die zunehmende Spezialisierung in der Ausbildung - Vorgänge, die zu beschleunigen sind - erfordern eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent." Aber Parker macht nichts daraus. Er ordnet sie nicht ein in die damalige Mediendebatte und schon gar nicht blinzelt er dem heutigen Leser und dessen bitteren Einsichten zu. Interessant ist die Brecht'sche Denkfigur in dem zitierten Abschnitt. Die zunehmende Trennung wird einen Aufstand zugunsten einer Vereinigung zur Folge haben. Es muss nur richtig schlimm werden, dann wehren sich die Menschen. Ein Irrtum - wie man schon damals wissen konnte. Soviel zur Lücke.

Jetzt das Zitat. Walter Benjamin zitiert Brecht so: "Wenn er in einem Berliner Exekutivkomitee säße: er würde einen Fünftageplan ausarbeiten, auf Grund dessen in der genannten Frist wenigstens 200 000 Berliner zu beseitigen seien. Sei es auch nur, weil man damit 'Leute hineinzieht'. Wenn das durchgeführt ist, so weiß ich, da sind mindestens 50 000 Proletarier, als Ausführende, beteiligt." Diese Ausführungen stammen von vor 1933. Sie wurden damals vielleicht nur als zynische Gedankenspiele betrachtet, als konsequente Anwendung der bis dahin noch nicht in diesem Umfang praktizierten revolutionären Moral. Aber sie sind doch, auch was die Entwicklungen in der UdSSR angeht, von großer Hellsichtigkeit. Die Idee, bei den Verbrechen viele zu beteiligen, was doch ihrer Geheimhaltung entgegen zu stehen scheint, hat in Wahrheit immer wieder funktioniert. Jede Verbrecherbande - so, was wir aus Gangstergeschichten wissen - verlangt von neuen Mitgliedern erst einmal, dass sie eine Straftat begehen. Man muss selbst schuldig geworden sein, dann schließt man sich der Omertà an. Dass revolutionäre Organisationen sich davon nicht unterscheiden, war eine Einsicht Brechts. Dass ganze Bevölkerungen der gleichen Logik folgen, konnte man nach 1945 immer wieder beobachten.

Stephen Parker: Brecht, Suhrkamp, Berlin 2018, aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller, 1030 Seiten, 58 Euro.