Vom Nachttisch geräumt

Lummensprung

Von Arno Widmann
29.10.2018. Was wir von Tieren lernen können: Florian Werner bewundert die Weisheit der Trottellumme und die Manneskraft der Schnecke.
Außer mir kennen alle Florian Werner. Ist jedenfalls mein Eindruck. 1971 in Berlin geboren, lebt er in Berlin, seine Bücher werden fleißig ausgezeichnet und übersetzt, die Feuilletons loben ihn überschwänglich. Ich bin wohl der letzte, der ihn entdeckt. Während ich noch das im März erschienene "Die Weisheit der Trottellumme" las, und mich ärgerte, dass ich seine 2016 unter dem schönen Titel "Dunkle Materie" erschienene Geschichte der Scheiße nicht kannte, war im Juli schon sein neuestes Buch erschienen: "Der Weg des geringsten Widerstands: Ein Wanderbuch". Wenn sie auch nur annähernd so klug, witzig und anregend sind wie "Die Weisheit der Trottellumme", dann werde ich auch den Rest lesen und womöglich mir auch seine Musik anhören. Die Gruppe Fön, deren Mitglied er ist, kennt auch jeder. Ich schreibe jetzt also nicht, um weiterzuempfehlen, sondern nur um mitzuteilen, dass auch ich endlich einen der besten deutschen Autoren entdeckt habe. Bei Matthes & Seitz in der schönen, von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe "Naturkunden" erschien sein Buch über Schnecken. Das war 2016. Da sprach Barbara Schaefer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von einem "kleinen Wunder".

"Die Weisheit der Trottellumme" geht auf Florian Werners Kolumne "Von Tieren lernen" in der Zeitschrift Philosophie Magazin zurück. Seine Frau Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des hervorragend gemachten Blattes. Im Buch zeigt uns Werner, was wir, wenn wir nur unseren Hochmut ablegen, von einunddreißig Tieren - von der Ameise bis zum Zitterrochen - lernen können. Vom Vogel Strauß zum Beispiel und seiner angeblichen Technik, bei Gefahr den Kopf in den Sand zu stecken, hat schon Bischof Berkeley gelernt. Der stellte im 18. Jahrhundert den Grundsatz "esse est percipi" auf. Nur, was wahrgenommen wird, ist. Darüber hat man sich immer wieder lustig gemacht. Werner setzt dagegen, emotionale Zustände wie Fremdenhass, Angst oder Misstrauen könnten ganz gut kuriert werden, wenn man sie, statt sie mit immer neuen Schreckensnachrichten zu füttern, auf Diät setzt. Man gewinnt so womöglich den kühlen Kopf, der es einem ermöglicht, sich statt mit den eigenen Emotionen mit den realen Problemen zu beschäftigen. Unsere Rede von der Vogel-Strauß-Politik ist Produkt einer Fehlwahrnehmung. Der Vogel Strauß steckt seinen Kopf in den Sand, wenn er nach etwas Essbarem sucht oder nach seinem Gelege schaut. Bei Gefahr schlägt er mit seinen gewaltigen Hinterbeinen um sich oder ergreift in einem Tempo von 70 Stundenkilometern die Flucht.

Müssen von den Klippen ins Meer, auch wenn sie nicht fliegen können: junge Trottellummen. Foto: Wikipedia
Trottellummen sind Meeresvögel. Sind die Küken drei Wochen alt, treten sie an den Rand der Felsnische, in der sie geboren und gefüttert wurden. Unten schwimmen vor der Steilküste Helgolands die Eltern und locken die Kleinen zum Sprung in die vierzig Meter tiefer gelegene Nordsee. Die Küken können nicht fliegen. Sie sind noch nie in ihrem Leben geschwommen. Trotzdem kommt es jeden Juni zum Lummensprung. Werner findet, wir sollten begreifen, dass wir die wirklich wichtigen Entscheidungen unseres Lebens ähnlich treffen sollten. Wer sich in neues Terrain wagen möchte, der kann das nicht tastend, Schritt für Schritt tun. Der muss springen. Wie es sich für eine Kolumne in einem Philosophie Magazin gehört, hat Werner auch ein Heidegger-Zitat parat: "Was zum Beispiel schwimmen heißt, lernen wir nie durch eine Abhandlung über das Schwimmen. Was schwimmen heißt, sagt uns der Sprung in den Strom."

Die Schnecke, so schreibt Florian Werner, hat kein Skelett, sie kann aber ihre Muskeln kontrahieren, "um den Druck in bestimmten Körperregionen ansteigen oder abschwellen zu lassen und so deren Form und Größe zu ändern. Mir ist nur ein Körperteil bekannt, mit dem wir Menschen Ähnliches zu tun vermögen - und das auch nur die männliche Hälfte der Menschheit." Schnecken können die Erektionen ihres Körpers steuern. Da kommt der Heilige Augustin ins Spiel. Der vertrat die These, dass der Mensch vor dem Sündenfall ebenfalls seinen Körper beherrschte und nicht der ihn. Hinweise darauf beobachtete der Kirchenvater in seiner Umgebung. Es gibt zum Beispiel, so führte er aus, Menschen, die ihre Ohren bewegen können und auch solche, "die nach unten hin ohne üblen Geruch, wie es ihnen beliebt, so zahlreiche Töne hervorbringen, dass man meint, sie könnten auch mit diesem Körperteile singen." Im Himmel wird gefurzt!

Florian Werner: Die Weisheit der Trottellumme - Was wir von Tieren lernen können, illustriert von Andreas Töpfer, Blessing, München 2018, 199 Seiten, 18 Euro.
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