9punkt - Die Debattenrundschau

Anderthalbtausend likes

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2023. Die FAZ entdeckt im kanadischen Crawfordsee den Golden Spike, den Ort, an dem der Beginn des Anthropozäns belegt werden kann. Die SZ protokolliert die Twitter-Hatz gegen Ahmad Mansour. Außerdem erinnert die SZ angesichts der Ränkespiele im russischen Militär an die Enthauptung der Roten Armee unter Stalin. Die taz erlebt in Saudi-Arabien, dass die Formel Brot und Spiele auch im modernen Nation-Branding gilt. Die FR präsentiert mit der nordkoreanischen Herrscherschwester Kim Yo-jong die erste nukleare Despotin der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.07.2023 finden Sie hier

Medien

Eine Woche nach den Geschehnissen protokolliert Thorsten Schmitz in der SZ nochmal die Twitter-Hetzjagd gegen Ahmad Mansour (mehr hier). Unter anderem hatte der Journalist James Jackson dort suggeriert, Mansour habe sein Humboldt-Uni-Diplom gefälscht. Die Uni brauchte viele Stunden, um die Echtheit von Mansours Diplom zu bestätigen. Währenddessen konnte sich  der Mob austoben: "Selbst wissenschaftliche Mitarbeiter wie Rami Ali vom Berliner 'Institut für empirische Integrations- & Migrationsforschung der Humboldt-Universität' (BIM - und ja, das ist exakt die Uni, die Mansours Diplom zu verantworten hat) ließen auf Twitter jegliche akademischen Standards fallen: Rami Ali ist Politologe und Islamwissenschaftler, heißt es auf der Internetseite des Instituts." Auf Twitter postet er "ein höhnisches, handgeschriebenes Diplom mit vielen Rechtschreibfehlern. Botschaft: Mansour, der Fälscher. Damit sammelt Ali rund anderthalbtausend likes." Rami Alis Chefin Naika Foroutan, Leiterin des Arbeitsbereichs "Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik" des BIM, hat Verständnis für Alis Tweet, so Schmitz, der aus einer Mail Foroutans zitiert: "Wäre Ahmad jemand, der nicht selber so stark austeilt oder jemand, der nicht so viele Verbündete hätte oder jemand, der als Minderheit nicht gehört würde - dann würde ich das Ganze als offensive, abwertende und unsensible Geste sehen und unseren Mitarbeiter bitten, das zu reflektieren und sich zu distanzieren. So kann ich dem Mitarbeiter nur sagen: Dein Verhalten war kindisch und taktisch unklug."

Als "Hammer" bewertet Michael Hanfeld in der FAZ zwei Urteile, die Holger Friedrich, Verleger der Berliner Zeitung, im Streit mit dem früheren Bild-Chef Julian Reichelt Recht gaben. Ein Hamburger Gericht attestierte ihm, dass die weitergegebenen SMS-Nachrichten von Springer-Chef Mathias Döpfner "Vorstandskommunikation", also geschützt gewesen seien, ein Berliner Gericht befand, Julian Reichelt kann bei einer Zeitung nicht automatisch Informantenschutz erwarten: "Nach der Vorstellung des Gerichts versteht sich der Informantenschutz der Presse nicht von selbst, er bedürfe einer vertraglichen Verabredung. Mehr noch, so folgern die Richter der 67. Zivilkammer, müssten Informanten doch fest damit rechnen, verraten zu werden." Ein Veröffentlichungsmedium diene schließlich der Veröffentlichung: "Das ist ein Wirkungstreffer, der, bliebe er bestehen, an das Fundament der Presse geht. Ihr Selbstkontrollorgan, der Deutsche Presserat, den die Berliner Richter mit dem Verweis 'rechtlich ohnehin unverbindlich' abtun, hatte in der Causa Friedrich gegen Reichelt befunden, dass der Verleger der Berliner Zeitung Informantenverrat begangen habe."
Archiv: Medien

Wissenschaft

Seit Ausrufung des Anthropozäns wurde nach einem Ort gesucht, an dem sich der Wandel der Erdepochen auch tatsächlich nachweisen lässt. Eine Forschergruppe um die Max-Planck-Institut hat nun den Crawfordsee in Kanada zu diesem "Golden Spike" erklärt. In der FAZ betont Petra Ahne die Bedeutung dieser Entdeckung: "Der Begriff des Anthropozäns lief Gefahr, ein Etikett zu werden, mit dem man, klebte man es an Ausstellungen, Theaterstücke, Buchtitel, sich als auf der Höhe des Diskurses ausweisen konnte. Der Bohrkern aus dem Crawfordsee verknüpft den geologischen Befund nun wieder mit der Diagnose, in der die eigentliche Kraft des Konzepts Anthropozän liegt. Was wie disparate Probleme wirkte - Klimawandel, Artensterben, Versauerung der Meere, die Anhäufung von Stoffen wie Plastik in der Umwelt -, wird plötzlich erkennbar als Symptome einer Kräfteverschiebung. Das einzige Lebewesen, das einen vergleichbaren Einfluss auf die Umweltbedingungen gehabt haben dürfte, waren die Cyanobakterien, die vor 2,4 Milliarden Jahren begannen, die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern, was für die Einzeller von damals das Ende bedeutete, für die Lebensformen von heute den Anfang."

Bernd Scherer, als früherer Leiter des Haus der Kulturen der Welt maßgeblich an der Etablierung des Anthropozäns als Denkrahmen verantwortlich, rekapituliert die Forschungsarbeiten, die ihn am Ende aber nicht froh machen können. Denn der Crawfordsee liegt auf dem traditionellen Siedlungsgebiet der Wendat: "Vor diesem Hintergrund sind selbst die Bohrungen im Crawfordsee nicht einfache Interventionen in die materielle Welt, sondern Verletzungen eines heiligen Ortes, der die Geschichte eines Volkes enthält. Der See ist in der Welt der indigenen Bevölkerung ein lebendiges Wesen, die Bohrungen greifen in die Totenwelt der Vorfahren ein."

In der taz möchte Ilija Trojanow allerdings mit Blick auf den Climate Inequality Report "die Menschheit" in Schutz nehmen: "Die treibende Kraft des Klimawandels ist nicht die Menschheit im Allgemeinen, sondern es sind diejenigen, die vom Wirtschaftswachstum am meisten profitieren. Weltweit gehen 89 Prozent der Emissionen auf das Konto der 4 Milliarden wohlhabendsten Menschen. Knapp die Hälfte entfällt sogar auf die obersten 10 Prozent (800 Millionen). 17 Prozent aller Emissionen werden von nur 1 Prozent der Menschheit verursacht. Anders gesagt: Die untere Hälfte der Weltbevölkerung verursacht 12 Prozent der globalen Emissionen, erleidet aber 3 Viertel der Einkommensverluste aufgrund des Klimawandels."
Archiv: Wissenschaft

Europa

Mit Prigoschin hat sich Putin kurz nach der Rebellion getroffen, von Sergej Surowikin, Vizechef der russischen Armee, der mit Prigoschin kollaborierte, fehlt hingegen jede Spur. Solche Ränkespiele haben in Russland Tradition, erinnert Sonja Zekri in der SZ: "Eines der dunkelsten Kapitel der sowjetischen Militärgeschichte war das Jahr 1937, als Stalin die gesamte Führung der Roten Armee hatte auslöschen lassen, darunter vier von fünf Marschällen, etwa 40.000 Offiziere und die Bürgerkriegsgeneräle Michail Tuchatschewski und Wassilij Blücher, die beim Verhör totgeschlagen wurden. Dass Hitler bei seinem Überfall auf die Sowjetunion so leichtes Spiel hatte, hing mit der tödlichen Schwächung der Roten Armee zusammen. (…) Putin gilt als unnachsichtig gegenüber Verrätern wie Prigoschin oder Surowikin. Vielleicht hat er diese Darstellung aber auch bewusst in die Welt gesetzt, um darüber hinwegzutäuschen, dass er weder die reale Macht noch eine große ideologische Erzählung besitzt, um Liquidierungen im großen, im stalinistischen Stil durchzusetzen."

Außerdem: Im Aufmacher der SZ-Feuilletons nimmt der Historiker Volker Weiß die Wirtschaftspolitik der AfD auseinander. Einst an neoliberalen Idealen des Thatcherismus orientiert, setzt sie inzwischen vermehrt auf sozialprotektionistische Klientelpolitik. "Zudem fehlt der AfD gerade in der Wirtschaftspolitik das Alleinstellungsmerkmal. Die Ablehnung des Freihandelsabkommens TTIP teilte sie mit vielen anderen. In ihren Haltungen zu Mindestlohn, Finanzmarktkontrolle und Steuererleichterungen für Geringverdiener findet sie sich meist an der Seite von FDP und CDU. Aus diesen Dilemmata bieten Phrasen wie die vom 'Milliardärssozialismus' und eine Synthese aus politischem Autoritarismus und wirtschaftlichem Liberalismus (nach Vorbild des historischen Ordoliberalismus) schließlich einen Ausweg."
Archiv: Europa

Politik

Frauen dürfen in Saudi-Arabien jetzt Auto fahren und zum Wrestling antreten, Kinos zeigen die saudischen Filme, die Backstreet Boys und 50 Cent geben Konzerte. Kronprinz Mohammed bin Salman unterzieht das Land einem Nation-Branding, das ganz auf die Spaß- und Unterhaltungsindustrie setzt, ohne sich politisch öffnen zu müssen, berichtet Jannis Hagmann in der taz: "Dass kein Gegenwind aufkommt, ist allerdings kein Zufall: Potenzielle Kritiker ihres Hauruck-Reformkurses hat die Führung um MBS und seinen Vater, den greisen König Salman, bereits vor Jahren ausgeschaltet. 2017 knüpfte er sich konkurrierende Machtzentren vor und stellte einflussreiche Prinzen anderer Familienzweige in einem Luxushotel unter Hausarrest. Von vielen ist seither nichts mehr zu hören. Immer wieder sind auch kritische Gelehrte festgenommen worden. 2021 warnte MBS offen, dass religiöse Extremisten, "selbst wenn sie keine Terroristen sind", als Kriminelle betrachtet würden. Was mit Kriminellen oder vermeintlich Kriminellen passiert, zeigt ein Blick auf die Hinrichtungsstatistik: Mit China und Iran führt Saudi-Arabien die Liste an. Im vergangenen Jahr richtete das Land 81 Personen an nur einem Tag hin, die größte Massenhinrichtung seit Jahrzehnten."

Kim Yo-jong gilt als mächtigste Frau Nordkoreas, offiziell bestätigt als Schwester von Kim Jong-un wurde sie allerdings nie, sagt im FR-Gespräch der Koreanist Lee Sung-yoon, der mit "The Sister" ein Buch über Kim Jong-un publiziert hat: "Kim Yo-jong ist die erste nukleare Despotin der Welt. Eine Diktatorin, die den Finger auf dem Atomknopf hat. Sie hat mehrfach damit gedroht, die nordkoreanischen Atomstreitkräfte auf Südkorea loszulassen und das Land vollständig zu zerstören, falls Südkorea auch nur eine einzige Kugel nach Nordkorea abfeuert. Sie betont regelmäßig, dass sie die Macht hat, all dies zu tun, und zwar aufgrund der Autorität, die ihr vom Genossen Vorsitzenden - ihrem Bruder -, von der Partei und vom Staat verliehen wurde. (…) Nordkorea ist eine tickende Zeitbombe. Es ist eine absolute, mittelalterliche Monarchie. Die Regierung ist gegenüber anderen Institutionen wie dem Parlament, der Öffentlichkeit oder der Justiz nicht wirklich rechenschaftspflichtig. In Nordkorea gibt es keine Gewaltenteilung, keine Kontrolle. Selbst Xi Jinping, der chinesische Präsident, muss es bis zu einem gewissen Grad seinen Genossen in der Kommunistischen Partei recht machen."
Archiv: Politik

Kulturmarkt

Der Schocken-Verlag, 1931 von dem jüdischen Kaufhausunternehmer Samuel Schocken gegründet und vor allem bekannt geworden für englische Übersetzungen unter anderem von Hannah Arendt, Franz Kafka oder Walter Benjamin, wurde 1987 von Random House gekauft und ging in Folge ausgerechnet an Bertelsmann. Weil er seit mehr als zehn Jahren dort nur noch dahindümpelt, hat Joshua Cohen beschlossen, den Verlag zu kaufen, berichtet Felix Stephan in der SZ. Gibt es vielleicht sogar eine moralische Verpflichtung für den Verkauf, fragt er: "Wenn man es rein geschäftlich betrachtet, ist Schocken für Bertelsmann vor allem ein Asset. Man kann es aber auch ganz anders sehen, Joshua Cohen drückt es so aus: In Polen gebe es zahllose alte Synagogen, die heute als Schweineställe genutzt würden. Er habe nun, um im Bild zu bleiben, für diesen Schweinestall einen marktüblichen Preis geboten, um wieder eine Synagoge draus zu machen. Nur weil etwas dem Einen nichts bedeute, heiße das nicht, dass es nicht für einen Anderen eine immense Bedeutung haben könne. Schocken war nicht nur ein essenzieller Bestandteil der intellektuellen Erziehung Joshua Cohens. Viele New Yorker verdanken dem Verlag und seiner kompromisslosen Arbeit in der Flüchtlingshilfe mitunter ihr nacktes Leben."
Archiv: Kulturmarkt

Gesellschaft

Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht das 2015 beschlossene Verbot der "geschäftsmäßigen Tötung" für verfassungswidrig erklärt und in der Begründung auf die grundgesetzlich verankerte Würde des Menschen verwiesen. Aber weder der christliche noch der kantische Würdebegriff tauge dafür, das Recht auf Suizid zu verteidigen, meint in der Welt der Philosoph Sebastian Ostritsch: "Der kantische Begriff der Würde wurzelt in der Autonomiefähigkeit des Menschen. Landläufig mag heute unter Autonomie oder Selbstbestimmung verstanden werden, dass man tun und lassen könne, was man wolle. Aber das ist nicht das, was Kant darunter versteht. Autonom oder selbstbestimmt verhält sich ihm zufolge eine Person nur dann, wenn sie vernünftig, das heißt: auf Basis verallgemeinerungsfähiger Gründe handelt. Gerade für die Selbsttötung sind aber, wie Kant unmissverständlich deutlich macht, solche Gründe nicht denkbar."
Archiv: Gesellschaft