9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2024 - Europa

Im Mai wird Emmanuel Macron zum großen Staatsbesuch in Berlin erwartet. FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel versucht Macrons Gesinnungswandel gegenüber Russland auf die Spur zukommen. Von seiner Friedensrhetorik hat er abgelassen. Eine russische Niederlage bezeichnet er nun als Voraussetzung für eine neue europäische Friedensordnung. "Innenpolitisches Kalkül kann ausgeschlossen werden. Mit Kriegsrhetorik lassen sich keine Sympathien gewinnen. Macrons verbale Aufrüstung hat alle Oppositionsparteien verschreckt. Die geplante Militärhilfe in Höhe von drei Milliarden Euro für die Ukraine in diesem Jahr stößt angesichts der Sparzwänge des überschuldeten Landes auf Kritik. Den Preis einer zunehmenden Entfremdung vom eigenen Souverän nimmt der Präsident in Kauf. Es wäre für ihn politisch wesentlich vorteilhafter gewesen, sich als Friedensengel zu gerieren, wie Marine Le Pen es macht."

Die Debatte um nukleare Abschreckung in Europa muss neu geführt werden, finden der Historiker Michael Jonas und der Politologe Severin Pleyer in der FAZ, und benennen zugleich die Schwierigkeiten: "Für die Debatte über die strategische Orientierung des Landes scheint das Fortwirken eines vermeintlich 'friedenswissenschaftlich' sozialisierten politisch-kulturellen Milieus ebenso symptomatisch wie gravierend zu sein." Darüberhinaus "zog die Abwesenheit des Krieges zumindest auf dem europäischen Kontinent eine gleichsam kollektive Entwöhnung nach sich - nicht nur vom Krieg als Erlebtem und Erfahrenem, sondern als überhaupt Vorstellbarem. Krieg ist dabei insbesondere der deutschen Gesellschaft, vielmehr aber noch ihren Eliten in einem Maße fremd geworden, dass man selbst das Instrumentarium eingebüßt zu haben scheint, um diesen überhaupt systematisch verstehen und damit gegebenenfalls auch beschränken und einhegen zu können."

Die CHP konnte bei den türkischen Kommunalwahlen auch deshalb so viele Stimmen gewinnen, weil sich durch Erdogans zunehmend islamistischen und nationalistischen Kurs rechts der Mitte eine Lücke geöffnet hatte, erklärt Deniz Yücel in der Welt: "Jahrelang konnte Erdogan seinen Wählern weismachen, dass Wahlen Entscheidungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen seien. Diese Propaganda hat die CHP durchbrochen. Sie verteidigt den säkularen Lebensstil ihrer Stammwählerschaft gegen Einmischungen des Erdogan-Regimes. Aber zumindest bei einem Teil der frommen Wähler konnte sie das Misstrauen abbauen, die CHP wolle sich in ihren Lebensstil einmischen." Zudem konnte Imamoglu nicht nur fromme und nationalistische Stimmen gewinnen, "sondern, so widersprüchlich dies klingt, auch kurdische."

"Kann es sein, dass die Grünen die Wehrhaftesten sind?", fragte Claudius Seidl gestern der FAZ und sorgte damit schon für allerhand Wirbel auf Twitter. Eigentlich sind es ja die Rechten, die "soldatische Tugenden" für sich beanspruchen und nicht müde werden, einen Mangel an Männlichkeit, Stärke und Durchhaltevermögen zu beschreien. Aber, sagt Seidl, das ist nur heiße Luft: "Tapfer sind diese Rechten nur, wenn es gegen Flüchtlinge geht, gegen Deutsche mit Migrationsgeschichte, gegen eine muslimische Invasion, die es nur in ihrer Einbildung gibt. ... Es gibt ein Wort für diese Art von Tapferkeit. Man nennt sie Feigheit." Vielmehr Potenzial sieht Seidl da, wo man es erstmal nicht erwarten würde - bei den Grünen: "Dort hat man längst gelernt, dass Wohlstand, Komfort, Bequemlichkeit nicht zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehören."

Gelesen hat man das, was Yanis Varoufakis im zweiseitigen FR-Interview von sich gibt, oft genug - allerdings nicht derart brachial. Der griechische Ökonom ist natürlich für Verhandlungen mit Russland, will der Ukraine unter anderem den Nato-Beitritt verwehren, spricht von "ethnischer Säuberung" und "Deportation" durch Israel und hat natürlich auch eine Lösung für den Nahostkrieg parat: "Wie wäre es mit der Beendigung der Apartheid?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2024 - Europa

Gestern frohlockte Can Dündar (SZ) noch angesichts der Kommunalwahlen in der Türkei (Unser Resümee), heute fragt er sich nüchtern, was Erdogan unternehmen könnte, um die "Gunst" seiner Wähler zurückzugewinnen: "Wird Erdogan erneut den Trumpf der Sicherheit ausspielen und den Massen, denen er wirtschaftlich nichts versprechen kann, sagen: 'Ihr hungert zwar, aber ihr lebt in Sicherheit'? Wird er seine schwindende Popularität mit einer größeren Militäroperation im Irak und mit einem Aufruf zur Einheit stärken? Oder wird er seinen früheren liberalen Anstrich auffrischen, bevor er im Westen anklopft, um die leere Staatskasse aufzufüllen? Werden die politischen Gefangenen, die er seit Jahren hinter Gittern festhält, bald freikommen? Werden wir noch vor den für 2028 angesetzten allgemeinen Wahlen in eine demokratische Türkei heimkehren können?"

Mit Sorge berichtet Moritz Pieczewski-Freimuth bei hpd.de über das Zurückweichen britischer Behörden gegenüber einem radikalen Islamismus. Der Abgeordnete Mike Freer, der einen Wahlkreis mit starker jüdischer Bevölkerung vertrat, seine Solidarität erklärte und überdies offen homosexuell lebt, hat inzwischen seinen Abschied aus der Politik verkündet. Aber das Phänomen hat größere Ausmaße: "Bemerkenswert ist die regelrechte Selbstsicherheit der Judenfeinde, die sich größtenteils aus islamischen Extremisten, pro-palästinensischen Aktivisten und Linksidentitären rekrutieren: Mal überklebt man den Davidstern der Amy-Winehouse-Statue mit einem Palästina-Sticker, dann wird das Holocaustarchiv als 'feindliches' Gebäude mit roter Farbe markiert. Hier hissen Islamisten auf pro-palästinensischen Demonstrationen Fahnen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis ('Schahada'), die als Erkennungsmerkmal des Islamischen Staates oder der Hizb ut-Tahrir gelten, dort setzt der Mob unter antisemitischen Parolen ein Wohnhaus in Brand. Hetzjagden auf Juden scheinen mittlerweile zum tragischen Alltag Londons zu gehören."

Das neue Gesetz gegen "Hate Speech" (Unser Resümee), das in Schottland verabschiedet wurde, könnte erst der Anfang einer weltweiten Einschränkung der Meinungsfreiheit sein, befürchtet Peter Rásonyi in der NZZ. Doch "die linke Koalition aus schottischen Nationalisten, der Labour-Partei und Liberaldemokraten, die das Gesetz verabschiedete, ist nicht allein. Auch im seit 14 Jahren von den Konservativen geführten England nehmen die Bestrebungen zur Einschränkung der freien Rede zu. So kündigte der Minister Michael Gove unlängst die Schaffung einer schwarzen Liste an, auf der extremistische Gruppierungen und Nichtregierungsorganisationen aufgeführt werden sollen, die keinen Kontakt zur Regierung mehr haben dürfen. Was als extremistisch gilt, bleibt unklar und der Interpretation der Ministerialbürokratie überlassen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.04.2024 - Europa

Die breite Unterstützung für den Krieg in der Ukraine, wie sie propagiert wird, gibt es in der russischen Bevölkerung nicht, meint im SpOn-Gespräch die Ökonomin Alexandra Prokopenko, die ihren Job bei der russischen Zentralbank mit Kriegsausbruch kündigte. Viele Beamte sind mit Ausreisesperren belegt oder werden mit geheimen Dokumenten unter Druck gesetzt - und auch der Westen bietet ihnen keinen Ausweg, erklärt sie. Um die russische Wirtschaft wirklich zu schwächen, müsste der Abfluss von Kapital aus Russland stimuliert werden: "Jede Milliarde weniger in Russland bedeutet weniger Unterstützung der Kriegsmaschinerie. Selbst zu einem Zeitpunkt, als die russische Zentralbank bereits Kapitalverkehrskontrollen eingeführt hatte, flossen immer noch Dutzende Milliarden Dollar ins Ausland. Warum sollte der Westen solche Bewegungen nicht fördern, statt sie wie aktuell zu bekämpfen? Ich glaube, es wäre an der Zeit, dass der Westen alles tut, um sowohl den Braindrain als auch die Kapitalflucht aus Russland zu fördern. Das würde Putins Regime aushöhlen. Es wäre an der Zeit, Russlands Wirtschaft so langsam ausbluten zu lassen."

Die Ukraine hat nach internationalem Recht den Vorrang, wenn es darum geht, Russland für seine Kriegsverbrechen anzuklagen. Aber ist es auch sinnvoll, dieses Vorrecht zu nutzen, wie das gerade passiert, fragt Ronen Steinke in der SZ. Bei einer Konferenz in Den Haag wurde klar: "Der ukrainische Generalstaatsanwalt zeigt sich fest entschlossen, möglichst alles unter seiner Kontrolle zu behalten. Er und seine Leute wollen Russen anklagen, sie bestehen auf Tempo - notfalls klagen sie Russen auch in Abwesenheit an, ohne Verteidigung. Nach dem Recht Deutschlands und der meisten anderen europäischen Staaten wäre so ein Vorgehen undenkbar." Eigentlich, meint Steinke "wäre das Weltstrafgericht prädestiniert, um hier aus neutraler Warte zu urteilen - über Vorwürfe gegen Russland, aber auch gegen die Ukraine, die derzeit kaum aufgeklärt, auch kaum ausgeräumt werden können."

Vier Gründe macht Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne für das Scheitern Erdogans bei den Kommunalwahlen aus: Einen starken Gegenkandidaten, die schwache Wirtschaft, den Wahlboykott enttäuschter Erdogan-Wähler und: "Dass Ankara trotz der Ereignisse in Gaza die Handelsbeziehungen zu Israel nicht aussetzte, dürfte der dritte Grund für Erdogans Schlappe gewesen sein. Selbst Islamisten, die zuvor für die AKP gestimmt hatten, entschieden sich nun anders, weil sogar Schiffe im Besitz von Erdogans Kindern Waren nach Israel transportieren. Die neue Wohlfahrtspartei YRP, nicht zuletzt durch ihre antiisraelische Haltung groß geworden, machte einen überraschenden Sprung und wurde mit mehr als sechs Prozent drittstärkste Partei."

Die Türkei hat das Ruder herumgerissen und ist in Richtung Demokratie unterwegs, frohlockt hingegen Can Dündar auf Zeit online: "Im Gegensatz zur weltweiten Tendenz bewegt sich die Türkei auf eine Wende zu, die sie vom Autoritarismus entfernen und wieder näher an demokratische Prinzipien heranführen wird. Ein konkretes Zeichen für diesen Wandel ist, dass die einst von der AKP über und über orange gefärbte politische Landkarte bei der Wahl am letzten Wochenende von der CHP zu großen Teilen in Rot getaucht wurde."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.04.2024 - Europa

Appeasement oder das Einfrieren eines Konflikts hat schon 447 n. Chr. nicht funktioniert: Die Hunnen fielen trotz aller Zugeständnisse im römischen Osten ein, warnt der Althistoriker Mischa Meier in der FAZ mit Blick auf Putin: "Das hunnische Machtgebilde war im Kern nichts anderes als eine Kriegerkoalition, die von Einnahmen lebte, die im Wesentlichen durch Raub und Erpressung erreicht wurden. ... Die Hunnen und insbesondere ihre Herrscher waren zur Kriegführung verdammt, weil es ihrem Machtgebilde an den strukturellen Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz mit seinen Nachbarn mangelte. Wer hier nachgab, einseitig Frieden suchte oder sich darum bemühte, Konflikte einzufrieren, hatte unweigerlich das Nachsehen. ... Russland, das man treffend als 'Tankstelle mit Atomwaffen' bezeichnet hat, gehört aktuell in diese Kategorie ..."

"Der Konflikt mit Putins Russland wird eine Generationen-Aufgabe", meint der SPD-Abgeordnete Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der in der Welt für eine europäische Abschreckungsstrategie plädiert, denn Russland sei "zurzeit wieder im Vorteil und setzt auf eine jahrelange Abnutzungsstrategie. Es wäre jedoch ein schwerer Fehler, die weiße Fahne zu hissen. Europa hat die finanziellen und industriepolitischen Ressourcen, die Ukraine wieder in eine Position der Stärke zu bringen, wenn wir es nur wollen. Falls die Unterstützung vonseiten der USA weiterhin komplett ausfällt, sollte die EU ein gemeinsames Schuldenaufnahmeprogramm nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbauprogramms beschließen, um die Ukraine-Hilfe langfristig zu finanzieren."

"Der Niedergang der AKP ist unübersehbar", kommentiert Deniz Yücel in der Welt die Kommunalwahlen in der Türkei: "Die AKP ist im Niedergang, Erdogan hat eine Niederlage erlitten. Ihn sollte man trotz dieses Wahlergebnisses nicht abschreiben, auch über 2028 hinaus nicht - ungeachtet dessen, dass die Verfassung keine dritte Amtszeit als Staatspräsident erlaubt. Sofern sein Gesundheitszustand dies irgendwie zulässt, dürfte Erdogan einen Trick finden, diese Hürde zu umgehen. Es gibt keine Macht, die ihn davon abhalten könnte. Was er aber nicht umgehen kann, und darin liegt die über die Türkei hinausweisende Botschaft dieser Wahl: Kein autoritäres Regime währt so lange, wie es Autokraten gerne glauben. Anders als Diktaturen beziehen Autokratien ihre Legitimität aus Wahlen. Sie können die Gewaltenteilung abschaffen, Kritiker verfolgen, den Staatsapparat ihren persönlichen Zielen unterwerfen. Doch wenn auch alle unfairen und rechtswidrigen Mittel nicht mehr helfen, dann ist tatsächlich Ende."

"Der wohl wichtigste Grund für das schwache Abschneiden der Regierungspartei ist die hohe Inflation von derzeit 67 Prozent", meint in der FAZ Friederike Böge zu den Wahlen in der Türkei. "Mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung lebt vom Mindestlohn. Er liegt inzwischen unterhalb dessen, was laut dem Gewerkschaftsverband nötig ist, um eine Familie gesund zu ernähren. Viele Türken kommen nur noch über die Runden, indem sie immer neue Schulden machen. Viele wollen auswandern."

"Am Sonntag hat Erdogans Ende begonnen", konstatiert auch Raphael Geiger in der SZ mit Blick auf den Wahlsieg Ekrem Imamoglus bei der Istanbuler Oberbürgermeister Wahl: "Was Erdogan treffen muss: Viele seiner eigenen Leute haben ihn verlassen. Die vielen, mit deren Stimmen er sich den Staat unterworfen hat, die Justiz, die Armee. Das schaffte er, der Außenseiter aus dem Armenviertel, stets mit den Stimmen einer Mehrheit seines Volkes. In der Putschnacht damals gingen sie für ihn auf die Straße, manche in den Tod. Und jetzt? Hat seine AKP im Vergleich zu den Wahlen vergangenes Jahr Millionen Wählerinnen und Wähler verloren, ein Massenschwund" Und auch Jürgen Gottschlich sieht in der taz "Erdogans Götterdämmerung" anbrechen.

In Schottland tritt heute unter dem neuen Premier Humza Yousaf ein neues Gesetz gegen "Hate Speech" in Kraft, das in ganz Britannien für viel Belustigung, aber auch scharfe Kritik sorgt. Bei der Polizei werden 400 Meldestellen für "Non Crime Hate Speech" eröffnet, bei denen man sich melden kann, wenn ein Mitbürger Missliches sagte. Die schottische Polizei überwacht. Und sie warb mit diesem Video für ihre neue Politik.



Bei Unherd äußert die Feministin Kathleen Stock scharfe Kritik (deren Name auch in Deutschland bekannt wurde, weil sie ihre Uni wegen ihrer "Transphobie" hatte verlassen müssen, unsere Resümees): "Es ist schon eine Ironie, dass so viele heute zu glauben scheinen, Biologie sei sozial konstruiert, die Bedeutung von Hass aber sei natürlich und feststehend. Tatsächlich ist das, was als adäquater Ausdruck einer bestimmten Emotion gilt, zumindest teilweise kulturell bedingt, und heutzutage scheint die Kategorie des Hasses sehr viel weiter gefasst zu sein als früher. Früher wurde er durch Gewaltausbrüche gegenüber fremden Gruppen und durch die Verwendung aggressiver Schimpfwörter zum Ausdruck gebracht. Im heutigen Schottland scheint er jedoch gemessen an Aussagen wie 'die Entscheidung, sich als 'nicht-binär' zu identifizieren, ist genauso gültig wie die Entscheidung, sich als Katze zu identifizieren' - so eine Äußerung des konservativen MSP Murdo Fraser, die anschließend von der Polizei als nicht strafbarer Hassvorfall registriert wurde, ein Urteil, das er nun vor Gericht anzufechten gedenkt."

In Zeit online ist auch Jochen Bittner eher mulmig bei dem schottischen Gesetz: Den Schutz der Meinungsfreiheit brauche es "nirgendwo so sehr wie auf eben jenen umstrittenen Debattenfeldern. Werden diese zu Zweifelsräumen über das Erlaubte, dann sagt man lieber weniger. Das schadet nicht nur dem gesellschaftlichen Fortschritt, sondern auch der liberalen Demokratie." Schottlanbd steht mit der Idee jedenfalls nicht allein da, auch in Berlin gibt es Meldestellen, mehr hier.

Die Österreicher haben Erfahrung im Umgang mit rechten Parteien, da könnte man von lernen, empfiehlt der Wiener Rundfunkregisseur René Rusch in der taz und widerspricht Marc Felix Serrao, der kürzlich in der NZZ vor einer "Ausgrenzung" der AfD gewarnt hatte. Doch das Argument, man müsse die Rechten mal mitregieren lassen, dann würden sie sich schon entzaubern, habe sich in Österreich als falsch herausgestellt, schreibt Rusch: "Die FPÖ hat nach der vorzeitig gescheiterten Regierung Schüssel I noch zweimal mitregiert; jede einzelne Koalition war von Skandalen geprägt. Die letzte ÖVP/FPÖ-Koalition endete damit, dass der FPÖ-Vizekanzler Österreich im globalen Maßstab blamierte. Dass sich die FPÖ im Laufe ihrer Regierungsbeteiligungen gemäßigt hätte, behauptet heute niemand. Tatsächlich wurde die Partei zunehmend radikaler. "

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2024 - Europa

Catherine Belton, Autorin eines der wichtigsten Bücher über Putin und seine westlichen Helfershelfer, lobt im Gespräch mit Jens Uthoff von der taz die Entschlossenheit der EU gegenüber Putin ("abgesehen von ein paar Ausrutschern des Bundeskanzlers Olaf Scholz"). Auf die Frage, ob sie eine Niederlage Putins für denkbar hält, antwortet sie: "Das kommt darauf an, wie man Niederlage definiert. Es gab einen Punkt vor etwas einem Jahr, als Putins Thron gewackelt hat, als Russland militärisch schwach war und Jewgeni Prigoschin einen Putsch plante. Es besteht immer noch die Möglichkeit, Russland derart militärisch zu schwächen. Aber nur wenn der Westen die Kurve kriegt und die Ukraine in die Lage versetzt, sich nicht nur selbst zu verteidigen, sondern tatsächlich einen bedeutenden militärischen Angriff an der Frontlinie zu starten. Die Frontlinie ist aber über tausend Kilometer lang... Der Westen muss umdenken, die Waffenindustrie muss mehr produzieren."

Neulich hat der renommierte SPD-Außenpolitiker Michael Roth, einer der wenigen Putin-Kritiker in der Partei, seinen Rückzug aus der Politik angekündigt - er folgt damit anderen Außenpolitikern der SPD, der so langsam die letzten Reste von Expertise abhanden kommen, fürchtet der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ. Beispiel: Martin Schulz, Ex-Kanzler-Kandidat der SPD, der jetzt bei der Friedrich-Ebert-Stiftung sein Gnadenbrot verdient. Er hat dem ukrainischen Präsidenten in Zeit online vorgeworfen, dieser habe das Minsker Abkommen sabotiert. "Das Gegenteil ist der Fall. Tatsächlich war Selenski im Wahlkampf im Frühjahr 2019 Befürworter einer Verständigung mit Russland. Als Präsident war er bereit, für Frieden in der Ostukraine schmerzhafte Kompromisse mit Russland einzugehen, bis er bei dem Gipfeltreffen im Elysée-Palast im Dezember 2019 auf den unbedingten Machtwillen Putins stieß. Fälschlich zu behaupten, Selenski sei der erklärte Gegner der Vereinbarungen von Minsk gewesen, ist keine Petitesse. Es stellt die Genealogie des aktuellen Kriegs auf den Kopf."

"Wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine neue Ära begonnen hat, die Vorkriegszeit" warnt der polnische Premier Donald Tusk im Gespräch mit der Welt am Sonntag. Ihm geht ein Bild nicht aus dem Kopf: "Ich erinnere mich an ein Foto aus meiner Kindheit, das im Haus meiner Familie hing. Es zeigte den Strand von Sopot voller lachender Menschen. Aufgenommen wurde es am 31. August 1939 - ein paar Stunden später begann fünf Kilometer entfernt der Zweite Weltkrieg. Ich weiß, es klingt niederschmetternd, vor allem für die jüngere Generation."

In der Türkei sind morgen Kommunalwahlen. Unter anderem wird die wichtige Frage entschieden, wer Bürgermeister von Istanbul sein wird. Für Erdogan ist diese Wahl entscheidend, schreibt Bülent Mümay in seiner FAZ-Kolumne. "Umfragen zum Wahlergebnis in Istanbul weisen darauf hin, dass es für Erdogan nicht nach Wunsch läuft. Obwohl er das gesamte Kabinett zum Wahlkampf nach Istanbul geschickt und sämtliche Ressourcen des Staates mobil gemacht hat, sieht es nicht danach aus, dass der AKP-Kandidat, ein Mann aus der Verwaltung, Ekrem Imamoglu besiegen kann."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2024 - Europa

Die Suwalki-Lücke. (Bild: NordNordWest,, CC BY-SA 3.0)


Der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko hat Videomaterial streuen lassen, das ihn (zusammen mit seinem adipösen Spitz) bei einer Militärübung zeigt, berichtet Friedrich Schmidt für die FAZ. Es geht bei der Übung um die "Suwalki-Lücke", jene enge Stelle zwischen Belarus, Litauen, Polen und Königsberg, die - so Schmidt - "die schwächste Stelle der Nato" sei. "Lukaschenko fragt, wie weit es von der belarussischen Grenze nach Königsberg ist. Sein Verteidigungsminister Viktor Chrenin antwortet, Luftlinie seien es 42 Kilometer, entlang der Grenze rund 90 Kilometer. 'Praktisch nichts', antwortet Lukaschenko, 'vergebens betragen sie sich so.' Wohl mit Blick auf die Zielsetzung der eigenen Militärübung sagt Lukaschenko dann zu dem verantwortlichen Kommandeur, Alexandr Naumenko: 'Aber gerade musst du den baltischen Republiken gegenüberstehen. Und du schnappst einen Teil Polens?' Einen 'kleinen Teil', stimmt Naumenko zu. Lukaschenko präzisiert: 'Den nordöstlichen.'"

Künftig sollen Migranten, die eingebürgert werden wollen, bei einem Einbürgerungstest auch Fragen zu Israel und zum Holocaust gestellt werden. Dinah Riese findet das in der taz eher peinlich: "Solche Fragen sind geeignet, grundsätzliches Misstrauen gegenüber Menschen zu schüren, die eingebürgert werden wollen - und seien wir ehrlich: vor allem jenen gegenüber, die aus muslimisch geprägten Ländern kommen. Zur Sicherheit jüdischer Menschen in Deutschland aber trägt dieser Fragenkatalog nichts bei. Deutschland hat ein massives Antisemitismusproblem. Doch dieses zieht sich durch die gesamte Bevölkerung, ob arm oder reich, mit Hauptschulabschluss oder Doktortitel, mit oder ohne Migrationsbiografie."

Dass die AfD wie eine Agentur Wladimir Putins wirkt, war ja schon länger bekannt. Im Spiegel bringt nun eine Reportergruppe eine Recherche zum Internetmagazin Voice of Europe, das nicht nur Putin-freundliche Nachrichten im Netz streute, wie die tschechische Regierung herausgefunden hat: "Die tschechischen Behörden erheben aber noch härtere Vorwürfe gegen das Medienunternehmen und sein Netzwerk. So soll Voice of Europe auch als Vehikel zur verdeckten Finanzierung von Europawahl-Kandidaten gedient haben, die Moskau genehm sind. Nach Spiegel-Informationen soll das Geld entweder bei persönlichen Treffen in Prag bar übergeben oder per Kryptowährung transferiert worden sein. Von insgesamt mehreren Hunderttausend Euro ist die Rede." In den Berichten ist von Politkern aus verschiedenen EU-Ländern die Rede, die AfD wird ausdrücklich genannt, aber nicht einzelne Politiker.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2024 - Europa

Wüssten die Westeuropäer, was die Russen über sie sagen, würden sie sich mehr Sorgen machen und aufrüsten, mahnt die litauische Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaitė in der FAZ: "Europa hört nicht und liest nicht, was Russland und die Russen über sich und den Westen zu sagen haben. Wenn dann doch einmal eine Übersetzung vorliegt, hält Europa das für eine Übertreibung, einen Bluff, weil es zu verrückt scheint, um es für wahr zu halten. Etwa im Fall der Erklärung des russischen Propagandisten Wladimir Solowjow im russischen Staatsfernsehen, in der er gesagt hat, dass Deutschland irgendwann unter russischer Flagge stehen werde, dass die Russen wieder nach Berlin kommen, dieses Mal aber nicht gehen würden. Das ist kein Scherz - es ist eine Botschaft des Kremls an sein eigenes Volk und darüber hinaus ein aufrichtiger Wunsch vieler Russen, denen fast ein Jahrhundert lang in Schulen, durch Kino, Musik und Theater beigebracht wurde, Deutschland mit Faschisten und Feinden gleichzusetzen. Wenn die deutsche Öffentlichkeit nur die Sprachbarriere überwinden und in den düsteren Ecken der russischen sozialen Medien und Foren stöbern könnte, um die Stimmung der Gesellschaft gegenüber Deutschland zu spüren, wäre sie auf die eigene Sicherheit ernsthafter bedacht."

Die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr warnt in der FR davor, Vorstöße in der Debatte um das Vorgehen im Ukraine-Krieg "moralisch abzukanzeln", wie das in der Vergangenheit geschehen ist. Die deutsche Öffentlichkeit müsse von ihrer Empörungshaltung abrücken und sich realistisch mit möglichen Kriegsszenarien auseinandersetzen. Sie fordert eine "Doppelstrategie", die militärischen Einsatz und politische Verhandlungen verbindet. "Beides gehört unbedingt zusammen: eine härtere Gangart gegenüber Russland einzuschlagen, auch eine Entsendung von Bodentruppen nicht auszuschließen - und zugleich die internationalen Verhandlungen mit Russland unter Regie des globalen Südens voranzutreiben. Nur wenn beide Strategien von Anfang an konsequent verschränkt werden, können sich ihre Schwächen ausgleichen. Trotz direkter Konfrontation ließe sich auch der Kontakt mit Russland ausbauen - und auf diese Weise Eskalationsdynamiken einhegen. Und zugleich ließe sich aus einer Position der militärischen Stärke der Boden für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ebnen - ohne Kiew in Fremdherrschaft zu zwingen."

Die Argumente des SPD-Abgeordneten Rolf Mützenich für das "Einfrieren" (unsere Resümees) des Ukraine-Kriegs werden nicht besser, konstatiert Matthias Naß auf Zeit Online. In einem Interview in der SZ führte Mützenich seine Überlegungen aus, die laut Naß auf zwei großen Fehleinschätzungen beruhen: Zum ersten hoffe Mützenich zu Unrecht auf China als Vermittler: "Beide, China und Russland, wollen die vom Westen geprägte internationale Ordnung überwinden. Zusammen stemmen sie sich der dominierenden Supermacht USA entgegen. Es liegt nicht im Interesse Xi Jinpings, Putin zu schwächen, indem er ihn zum Nachgeben in der Ukraine bewegt." Auch Korea als Vorbild für ein gelungenes "Einfrieren" anzuführen, sei Unsinn: "Zwar schweigen, bis auf vereinzelte Zwischenfälle, seit nunmehr sieben Jahrzehnten die Waffen. Doch politisch gelöst ist nichts. Seitdem sich Nordkorea Nuklearwaffen zugelegt hat, steigen die Spannungen wieder."

Bereits am 20. März hat eine Historikergruppe um Jan C. Behrends, Heinrich August Winkler und Martina Winkler einen Brief an den SPD-Parteivorstand verfasst, in dem sie eine Aufarbeitung der SPD-Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte fordern, Rolf Mützenichs Äußerungen über das "Einfrieren" des Ukrainekriegs verurteilen und von Olaf Scholz eine klare Position gegenüber Russland fordern: "Wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände."

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In seinem aktuellen Buch "Die russische Tragödie - wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde" zeichnet der russische Journalist Vladimir Esipov Russlands Weg in die Diktatur nach. Die Brutalität in Russland wird immer demonstrativer, sagt er im Spiegel Online-Gespräch zu den grausamen Bildern, die von den misshandelten Terrorverdächtigen kursieren, aber auch zur Forderung, die Todesstrafe in Russland wieder einzuführen: "Die Todesstrafe ist längst da: Bei Antiterroreinsätzen dürfen Sicherheitskräfte Verdächtige 'liquidieren', wenn sie glauben, dass diese Terroranschläge planen." Eine Wahlniederlage Putins hätte übrigens nichts geändert, meint er: "Am Ende geht es um ein politisches System ohne freie Medien, ohne freie Justiz, ohne freies Parlament. Um einen Staatsapparat, der Macht und Eigentum schon seit den Neunzigern in einer Hand bündelt. Es gibt in Russland keine Beamten, die Bestechung aus Überzeugung ablehnen. Es werden auch nicht wie in Deutschland aufwendig Steuern umverteilt. Selbst wenn Putin morgen zurückträte, müsste sein Nachfolger sich genauso benehmen, damit das Land regierbar bleibt."

Im Zeit-Gespräch hat der Nahost- und Terrorismusexperte Guido Steinberg wenig Zweifel daran, dass der afghanische IS-Ableger ISPK für das Attentat in Moskau verantwortlich ist. Weshalb gerade Russland, dass die Hamas hofiert, im Fadenkreuz dschihadistischer Terroristen steht, erklärt er damit, dass es zwischen Hamas und IS tiefe ideologische Differenzen" gibt. "Russland hingegen hat der IS schon vor über einem Jahrzehnt als Feind ausgemacht. Ein Grund dafür ist die massive militärische Unterstützung Russlands für das syrische Regime, ein anderer die Kriege in Tschetschenien seit den 1990er-Jahren. Deshalb gab es in der Vergangenheit schon Anschlagsplanungen des IS in Russland. Im Falle des ISPK kommt ein weiteres Motiv hinzu: Der ISPK ist ein Bündnis aus pakistanischen, afghanischen und zentralasiatischen Kämpfern, und gerade für die zentralasiatischen Kämpfer ist Russland ein wichtiges Feindbild, weil Russland die Regime in Zentralasien stützt. Dazu kommt, dass es in Russland viele Zentralasiaten gibt, allein rund eine Million tadschikischer Arbeiter zum Beispiel, und das macht das Land für den ISPK zu einem verhältnismäßig einfach zu erreichenden Ziel. Dschihadisten denken nicht ausschließlich ideologisch, sondern auch pragmatisch: Sie schlagen zu, wo sie können."

"Warum greifen die Terroristen jetzt an?", fragt Jörg Lau ebenfalls in der Zeit: "An Gründen und Motiven mangelt es ihnen selten. In der neuen Weltordnung, die sich gerade herausbildet, häufen sich jedoch vor allem die Gelegenheiten. Es gibt noch keinen guten Namen für diese globale Ordnung oder Unordnung, manchmal ist von einer multipolaren Welt die Rede - ohne feste Blöcke, ohne westliche Vorherrschaft, ohne amerikanischen Weltpolizisten. Das ist nicht per se schlecht. Eine gerechtere globale Machtverteilung wäre zu begrüßen. Doch wo Macht neu verteilt wird, da steigt auch die Risikobereitschaft der radikalsten Akteure. So war es bei der Hamas, als sie Israel überfiel; bei den Huthis, als sie Schiffe im Roten Meer attackierten - und nun offensichtlich beim ISPK, der Putins Fokussierung auf den vermeintlichen Feind Ukraine ausgenutzt hat. Die Einhegung der Gewalt ist die Aufgabe der kommenden Jahre. Sie wird umso schwieriger, weil der gefährlichste Akteur von allen, Wladimir Putin, selbst zum Terroristen geworden ist - zum Staatsterroristen."

Die schamlose Zurschaustellung der übel zugerichteten Terror-Verdächtigen in Moskau zeigt vor allem, was der russische Staat von Menschenwürde hält, meint Roland Bucheli in der NZZ. In den Medien kursieren neben den schlimmen Aufnahmen aus dem Gerichtssaal nun auch "weit schrecklichere Bilder, die auf staatliche Quellen zurückgehen müssen und über Telegram-Kanäle verbreitet wurden. Darauf sieht man unter anderem, wie einem Häftling sein abgeschnittenes Ohr in den Mund gestopft wird. (...) Unverfrorener könnte ein Staat der Weltöffentlichkeit nicht demonstrieren, dass ihm der Mensch, und sei er ein angeklagter Terrorist, nichts bedeutet. So wie das Individuum an der Kriegsfront bloß Kanonenfutter ist, so ist der Mensch an der Heimatfront und im Krieg der Bilder nur Material. Die Ikonografie des Schreckens kennt eine Fülle von Bildern von lebenden oder ermordeten Gefangenen, die sich ins kollektive Bildgedächtnis eingebrannt haben. Stets erzählen sie die gleiche Geschichte einer demütigenden Entmenschlichung."

Ohnehin haben Menschen aus Zentralasien in Russland unter rassistischer Hetze durch Politik und die Russisch-Othodoxe Kirche zu leiden, aber nach dem Anschlag durch vier mutmaßliche Attentäter tadschikischer Herkunft nehmen die Schikanen noch zu zu, berichtet Barbara Oertel in der taz: "Nicht nur Polizei und Sicherheitsdienste machen vermehrt Jagd auf Migrant*innen aus Zentralasien. Auch die Bevölkerung lässt ihre Wut an ihnen aus. In den sozialen Netzwerken kursieren Forderungen, Menschen aus Zentralasien in Massen zu deportieren oder sogar umzubringen. Doch bei Worten bleibt es nicht. So wurden Tadschik*innen angegriffen, von Vermietern aus ihren Wohnungen geworfen oder Taxifahrten wieder storniert, wenn sich herausstellte, dass der Fahrer Tadschike ist."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2024 - Europa

Zwei Wochen vor dem "Palästina-Kongress" scheint die Stimmung in Berlin nervöser zu werden. Der Senat möchte die Veranstaltung am liebsten verbieten, bei Veranstaltern gab es Hausdurchsuchungen (aber angeblich nicht wegen des Kongresses), berichtet Erica Zingher in der taz. Die Liste der geplanten Redner ist finster. Da ist "zum Beispiel der Autor und Historiker Salman Abu Sitta. ... Wäre er jünger und würde er noch im 'Konzentrationslager Gaza' leben, hätte er auch einer von denen sein können, die den Zaun am 7. Oktober durchbrochen haben, schrieb er im Januar. Die systematische sexuelle Gewalt durch die Terroristen der palästinensischen Hamas sowie das Köpfen von Babys am 7. Oktober bezeichnete er als Falschinformation und üble Nachrede." Im Tagesspiegel berichtet Sebastian Leber.

"Nach dem Terror kommt noch einmal Terror", konstatiert Gustav Seibt im SZ-Feuilleton mit Blick auf die brutalen Bilder, die aus Russland von den misshandelten Verdächtigen nach dem Anschlag bei Moskau in Umlauf geraten sind: "Maximale Kälte und Mitleidlosigkeit signalisiert diese Form für solche Inhalte. ... Es sind Bilder buchstäblicher Gesetzlosigkeit, sie zeigen einen Zustand der Anomie. Wo geschlachtet wurde, wird weiter geschlachtet werden. Die Ästhetik dieser Bilder ist längst geläufig aus den vergangenen zwei Jahren des russischen Kriegs in der Ukraine. Er wurde von Anfang an begleitet von einer Flut privater oder privat daherkommender Gewalt- und Foltervideos, teils abgefangen aus dem Mobilfunkverkehr, teils absichtsvoll verbreitet in großen Telegram-Gruppen, faktisch also öffentlich. Dort sind sie zu allermeist bis heute verblieben, niemand machte sich die Mühe, sie zu löschen."

Könnte das Attentat in Moskau auch von Putin inszeniert worden sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass Putin so verfährt, notiert Richard Herzinger in seinem Blog und erinnert an die höchstwahrscheinlich fabrizierten Attentate im Jahr 1999: "Während das Regime in Blitzesschnelle Tschetschenen als Täter beschuldigte, gingen viele in- und ausländische Experten und Aktivisten - allen voran der abtrünnige Geheimdienstagent Alexander Litwinenko und die Journalistin Anna Politkowskaja, die beide später von Putins Schergen ermordet wurden - davon aus, dass die Anschläge das Werk des Geheimdienstes FSB waren. Eine Einschätzung, die seitdem durch zahlreiche weitere Recherchen erhärtet wurde."

Für die FR hat Michael Hesse Reaktionen von Experten zum Anschlag in Moskau zusammengetragen, darunter Timothy Snyder, der keinen Zweifel daran hat, dass der Anschlag auf den "Islamischen Staat" zurückgeht: "'Russland bombardiert Syrien seit 2015. Russland und der Islamische Staat konkurrieren um Gebiete und Ressourcen in Afrika." Der Islamische Staat habe die russische Botschaft in Kabul angegriffen, betonte Snyder in seinem Newsletter Thinking about. 'Dies ist der relevante Kontext für den Anschlag vor Moskau. Der Schrecken im Krokus-Rathaus hat offensichtlich nichts mit Schwulen oder Ukrainern oder anderen von Putins Lieblingsfeinden zu tun', betont Snyder, der sich nicht erst seit Ausbruch des Krieges 2022 eindeutig für die Ukraine positioniert hat und vor dem Faschismus in Russland gewarnt hat. 'Man fragt sich zu Recht, wie ein Terroranschlag in Russland, einem Polizeistaat, gelingen konnte. Regime wie das russische widmen ihre Energie der Definition und Bekämpfung falscher Bedrohungen. Wenn eine echte Bedrohung auftaucht, müssen die vorgetäuschten Bedrohungen hervorgehoben werden. Vorhersehbarerweise (und wie vorhergesagt) versuchte Putin, die Ukraine für den Anschlag verantwortlich zu machen.'"

In der NZZ kommt Sergei Gerasimow noch einmal auf das Interview zurück, das Tucker Carlson mit Putin führte - und das bei allen Lügen doch einige Wahrheiten über Putin offenbarte. Putin hält alle anderen für dumm, sieht sich in der Tradition der russischen Zaren und glaubt tatsächlich an "ukrainische Nazis". Genauso interessant ist zudem, was Putin nicht erwähnte: "Während des zweistündigen Gesprächs geht Putin mit keinem Wort auf die menschlichen Kosten des Krieges ein. Weder russische noch ukrainische Opfer interessieren ihn - obwohl Russen und Ukrainer aus seiner Sicht je eine einzige Nation sind. Diese absolute Verachtung für das menschliche Leben mag als Zeichen einer außergewöhnlichen Rücksichtslosigkeit erscheinen, die für Putin charakteristisch ist, aber in Wirklichkeit hatten andere russische Zaren ebenso wenig Skrupel. Es genügt, hier Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen zu erwähnen. Lenin und Stalin waren ebenso unbarmherzig. Alle diese Machtmenschen errichteten ein Regime des Massenterrors und ließen Millionen von Menschen über die Klinge springen."

Eine Meldung nebenbei: Michael Roth,der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und einzige bekannte Russland-Kritiker innerhalb der SPD kündigt seinen Abschied aus der Politik an - hier seine persönliche Erklärung. Roth war im Dezember "unter dem Jubel der Delegierten" im Dezember aus dem Vorstand der SPD abgewählt worden, mehr hier.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2024 - Europa

Putin wird den Terroranschlag in Moskau mit 137 Toten, zu dem sich der IS bekannt hat, "zweifellos für seine Zwecke nutzen", ist sich Viktor Jerofejew in der FAZ sicher. Und er hat ja auch bereits angedeutet, dass er die Ukraine verantwortlich machen will. "Vor den Wahlen verkündete er erstaunlich unverhohlen seinen Wunsch, die Ukraine mit Russland zu vereinen, also zum Ursprung der Entstehung Russlands zurückzukehren. Russland bekam seinen Namen ja im 17. Jahrhundert (bis dahin die 'Rus'), nachdem sich die Ukraine von Polen losgelöst und unter seinen Schutz begeben hatte - was es rasch bereute, doch da war es schon zu spät. Ob also Deutschland den Taurus liefert oder nicht, ob Europa neue Sanktionen erlässt oder nicht, an Putins Kriegszielen wird dies nichts ändern, er wird stur seinen Kurs weiterverfolgen. Ein anderes, abstruses Kriegsende verheißt der Vorschlag von Dmitri Medwedew beim neulich abgehaltenen kremlfreundlichen Internationalen Jugendfestival in Sotschi, ein Vorschlag, den er mit einer Karte der Ukraine nach dem Krieg illustrierte: Sie zeigte ein kleines Stück Land um Kiew herum, alles Übrige nimmt sich Russland, die westlichen Gebiete gehen zurück an Polen und Rumänien."

Aufklärung über den Terroranschlag in Moskau kann man von Putin nicht erwarten, ist auch Inna Hartwich in der taz überzeugt. Dass es Warnungen aus den USA gab, wird er ebenso verschleiern wollen wie das Versagen seiner Sicherheitsapparate: "Die Amerikaner wollten lediglich für Unsicherheit und Verwirrung sorgen, behauptete er. Nun ist die Unsicherheit wieder verstärkt da in Moskau. Doch das, was Putin schließlich von sich gab, wirkt so entrückt von der 'Einheit Volk', dass sein Auftritt nur noch mehr verunsichert, als dass er den Menschen die Antworten gibt, nach denen sie verlangen: Wie konnten die Attentäter in die Halle kommen? Warum ist der so aufgeblähte Sicherheitsapparat sofort zur Stelle, wenn ein paar Bürger Blumen für einen toten Oppositionspolitiker ablegen wollen, aber offenbar abwesend, wenn bewaffnete Terroristen um sich schießen?"

Die bisher festgenommenen mutmaßlichen Attentäter kamen offenbar aus Tadschikistan. Für viele muslimische Kaukasier sei es besser, "unter der Flagge des Propheten zu sterben als unter der von Putin", weshalb der IS aus dieser Region einen großen Zustrom erhält, erklärt der Politikwissenschaftler Olivier Roy im FR-Interview mit Michael Hesse. Die Reaktion Russlands wird allerdings wohl in bekannten Mustern verlaufen: "Zuerst werden sie mit Hilfe der 'weißen' russischen Bevölkerung Druck auf die Muslime aus dem Kaukasus und Zentralasien in Moskau ausüben. Eine Razzia im Kaukasus wird die Spannungen in der Region erhöhen. Und ein Angriff in Afghanistan würde zu neuen regionalen Spannungen führen. Diese beiden letzten Optionen sind also problematisch. Wahrscheinlich werden sie daher weiterhin der Ukraine und den USA die Schuld geben."

Dass russische Onlinemagazin Meduza zeigt die ersten Bilder aus der Konzerthalle "Crocus City Hall" nach dem Anschlag. 

Seit dem Gazakrieg ist die Stimmung auch in London aggressiver geworden. Im vorwiegend muslimisch geprägten Bezirk Tower Hamlets sind Christen immer weniger willkommen, lernt Johannes Leithäuser (FAZ) von Andreas Blum, dem Pfarrer der deutsch-katholische Kirche St. Bonifatius, die nur einen Straßenzug weit weg liegt von der East London Mosque, "einer der größten Moscheen Europas": "Alle christlichen Gemeinden im Bezirk könnten über Belästigungen berichten, sagt Blum. Die Gemeindeschwestern, die in einer brasilianischen Kirchgemeinde in der Nähe beheimatet sind, seien in ihrem Ornat bespuckt worden. Im Royal London Hospital, dem größten Krankenhaus der Gegend, gebe es einen interreligiösen Gebetsraum, in dem Unbekannte neulich Altar und Tabernakel geschändet und Gebetsbücher zerrissen hätten. Ihn ärgert die Diskrepanz zwischen diesen Wirklichkeiten und den kulturtoleranten Sonntagsreden, die von offiziellen Stellen des Bezirks gepredigt werden. Es gebe ein 'interreligiöses Forum', das aber keine Wirkung entfalte, und allerlei Schaufenster-Veranstaltungen."

Die französische Regierung plant den französischen Bürgern von Neukaledonien im Pazifik das uneingeschränkte Wahlrecht zu gewähren, um sie enger an Frankreich zu binden, schreibt Barbara Barkhausen in der FR. Frankreich befürchtet nämlich, dass sich China in dieser Region breitmachen könnte. "Auch Neukaledonien unterhält eine starke Beziehung zum Reich der Mitte. China ist wichtiger Handelspartner und Hauptabnehmer der Nickelproduktion im Land. Vor dem zweiten Referendum wurde in Neukaledonien deswegen bereits heftig darüber diskutiert, ob die Inselgruppe zur 'chinesischen Kolonie' verkommen könnte, sollte sie die Unabhängigkeit von Frankreich erlangen. 'Die Leute sagen: 'Wenn wir nicht mehr Franzosen sind, werden wir Chinesen sein', sagte Catherine Ris, eine Wirtschaftsprofessorin an der Universität von Neukaledonien (...). Es gehe die Angst um, dass China sich überall auf der Welt ausbreite."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2024 - Europa

Angesichts der russischen Bedrohung und des Chaos in der amerikanischen Politik findet Christopher Lauer (ehemals Piratenpartei) in der FAZ die Idee eigener Atomwaffen für die EU nicht abwegig. Aber man muss sich auch klarmachen, was das heißen würde, meint er: "Es fängt damit an, dass, wenn die EU es ernst meint, die komplette Technik einer EU-Atomstreitmacht unabhängig entwickelt werden müsste: Jeder Mikrochip, jedes Steuerungssystem, jede Zeile Code müssten in der EU hergestellt werden; es müsste absolut sicher sein, dass der Einfluss eines ausländischen Akteurs ausgeschlossen wäre. Darüber hinaus müsste gesichert sein, dass Erkenntnisse dieses Programms nicht nach außen gelangen; denn man will ja, obwohl man sich selbst Atomwaffen anschafft, den Rest der Welt möglichst atomwaffenfrei halten."

In der SZ erinnert Kurt Kister jene, die wie Rolf Mützenich den Konflikt "einfrieren" oder wie Ingo Schulze mal wieder mit Russland verhandeln wollen, daran, dass Verhandlungen mit Putin schon einmal nach hinten losgegangen sind: "Einem Aggressor entgegenzukommen, kann nur dann richtig sein, wenn er sich dadurch nicht gleichzeitig belohnt fühlt. Ein Beispiel: Das Minsker Abkommen aus dem Jahr 2015 war das Ergebnis von Verhandlungen, die nach der russischen Annexion der Krim und der von Moskau vorangetriebenen gewalttätigen Separation ostukrainischer Gebiete stattfanden. Es ist offensichtlich, dass diese Verhandlungen nicht nur die Gewalt nicht beendeten, sondern dem Regime Putin so sehr entgegenkamen, dass es für den Angriff auf die Ukraine insgesamt bestärkt wurde. Das Minsker Abkommen ist bedauerlicherweise ein Beleg dafür, dass Verhandlungen mindestens mittelfristig auch zu mehr Gewalt führen können."

"Putin 2024 ist nicht mehr der von 2014, der sich seinen Expansionsdrang in Minsk abverhandeln ließ", schreibt indes Michael Thumann in seiner Zeit Online Kolumne: "Er fühlt sich auf der Höhe seiner Macht. Oder in seinen Worten: 'Warum sollte ich verhandeln, wenn den anderen die Patronen ausgehen?' Sein Krieg, den die Russen gerade in einem Plebiszit abgesegnet haben, ist ein perfektes Herrschaftsmittel. Solange der Krieg brennt, fragt kaum einer in Russland, warum Putin so viele Russen in den Tod oder in die Straflager schickt. Der Krieg gegen Europa und den Westen ist die triumphale Vollendung seiner Herrschaft. Er sieht jetzt den Moment gekommen, den Westen nach über einem halben Jahrtausend der globalen Dominanz zu stürzen. Und jetzt soll er sein historisches Projekt von Ralf und Rolf von der SPD einfrieren lassen?Jetzt, wo er gerade loslegt? Die können ihn mal."

Der geplante linksradikale "Palästina-Kongress" in Berlin nimmt Gestalt an, berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel. Der annoncierte Stargast, die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, kommt allerdings nicht. Die Veranstaltung sei ausverkauft, der Ort ist noch geheim, berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel: "Eingeplant hatten die Veranstalter auch einen Auftritt der Aktivistin Nerdeen Kiswani, die in den sozialen Medien die Forderung verbreitet, Israel müsse 'zerschlagen' werden. Solange der jüdische Staat existiere, könne es keine gerechte Welt geben. Kiswanis Name fehlt jedoch auf der offiziellen Rednerliste der Webseite. Bei einem internen Vorbereitungstreffen hatten die Veranstalter verkündet, die Namen einiger Redner geheim halten zu wollen, da andernfalls die Verhängung von Einreiseverboten drohe."