Efeu - Die Kulturrundschau

Es geht um eine künstlerische Debatte

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25.11.2017. Im Tagesspiegel fordert Regisseur Christoph Hochhäusler für die Nach-Kosslick-Zeit endlich wieder ein Profil der Berlinale-Sektionen. Tagesspiegel, Artechock und Berliner Zeitung diskutieren mit. Die Welt sucht nach einem Motiv hinter Modiglianis Nackten. Niemand hat den weiblichen Orgasmus so gut beschrieben wie D.H. Lawrence, versichert Catherine Millet in der taz und dankt dafür Lawrences Frau Frieda. Die SZ grübelt über den "erweiterten Kunstbegriff". In der NZZ umkreist Alain Mabanckou den Identitätsbegriff im postkolonialen Zeitalter. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.11.2017 finden Sie hier

Film

Mit einem Positionspapier zur Zukunft der Berlinale haben 79 deutsche Filmschaffende gestern für Aufsehen gesorgt. Im Tagesspiegel konkretisiert der Berliner Filmemacher Christoph Hochhäusler, einer der Initiatoren des Papiers, einige der Anliegen: "Das Schwanken der Qualität, die Heterogenität des Wettbewerbs wird von vielen Akteuren schon lange beklagt. Aber es betrifft eigentlich die ganze Veranstaltung. Also welches Profil haben Reihen wie das Panorama oder das Forum? ... Vor allem halte ich die Reihe 'Perspektive Deutsches Kino' für problematisch. Im Grunde ist sie ein Ghetto, kein internationaler Gast verirrt sich je dorthin. Das deutsche Kino schmort im eigenen Saft und ist auf der Berlinale wie weggesperrt - während der Anteil deutscher Filme im Hauptprogramm nicht gestiegen ist." Im Gespräch mit Susanne Burg auf Deutschlandfunk Kultur moderiert Noch-Intendant Dieter Kosslick die Kritikpunkte so debattenfaul wie eh und je ab: Kritik am Festival gebe es bekanntlich ja schon immer. Im Interview für die 3sat-Kulturzeit zeigt sich Kosslick indessen gekränkt und vermisst die Dankbarkeit für seine Arbeit.

Im Tagesspiegel ordnet Kai Müller die Petition ein und erklärt, warum die Regisseure sich sorgen, dass das System Kosslick auch nach dessen Abgang fortgesetzt werden könnte. Für Rüdiger Suchsland von Artechock ist der Brief "nichts anderes als eine Fundamentalkritik am amtierenden Berlinale-Chef" - er kann zudem ein paar Details zur Veröffentlichung verraten: "Das Schreiben der Regisseure wurde bereits im Mai verfasst. Erst jetzt wurde es, nach langem Zögern und einem ergebnislosen Treffen mit der zuständigen Kulturstaatsministerin, auch offiziell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht - der Brief ist damit auch eine schallende Ohrfeige für eine Kulturpolitik, die die Berlinale bislang systematisch vernachlässigt hat, der jede Idee dafür fehlt, was sich mit so einem Filmfestival tatsächlich anfangen ließe, und die sich von ein paar Stars und von Glitter und Lametta auf dem Roten Teppich des grandiosen Verkäufers Kosslick blenden lässt."

In der Berliner Zeitung staunt Frédéric Jaeger darüber, wie geschlossen die Unterzeichner auftreten: "Der Unmut muss groß sein, wenn sich all diese Künstler gemeinschaftlich dafür einsetzen, dass sich etwas ändert. ...  Die Beschwerden kommen von denen, die bei der Berlinale im Rampenlicht stehen. Es geht nicht nur ums Dabeisein, sondern um eine künstlerische Debatte."

Weiteres: Auf Spiegel Online spricht Frédéric Jaeger mit Irene von Alberti über deren neuen (im Tagesspiegel besprochenen) Film "Der lange Sommer der Theorie". Daniel Kothenschulte spricht in der FR mit dem Regie-Ehepaar Valerie Faris und Jonathan Dayton über deren Arbeitsweise. Timo Lehmann (taz) und Gunda Bartels (Tagesspiegel) gratulieren Rosa von Praunheim zum 75. Geburtstag. Claus Löser schreibt in der Berliner Zeitung über 100 Jahre UFA.

Besprochen werden Kathryn Bigelows "Detroit" (Freitag, unsere Kritik hier), Anna Maria Krassniggs "La Pasada" (Standard), Fatih Akins NSU-Rachethriller "Aus dem Nichts" (Standard) und die Kinoversion von Julian Rosefeldts Vidoe-Installation "Manifesto" mit Cate Blanchett (Zeit).
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Kunst


Amedeo Modigliani, Nude, 1917, Private Collection

Was für ein wunderbarer Verriss! Dass Hans-Joachim Müller die Malerei Modiglianis, dem die Tate Modern gerade eine Ausstellung widmet, eigentlich nicht mag, mündet in einer sehr schönen Besprechung in der Welt: "Es ist Aktmalerei, die ihr Motiv verschweigt, die in Floskeln beruhigt, was sie beunruhigen könnte. Eigentlich eine ziemlich zeitgenössische Erfahrung. Mit der Popsozialisation im Rücken und den Figurenbildern eines Tom Wesselmann, Roy Lichtenstein, Alex Katz, Eric Fischl oder Martin Eder im Kopf lösen sich Modiglianis Aktbilder aus ihrer hundertjährigen Geschichte und sitzen mit ihren späten Nachfahren wie selbstverständlich an einem Tisch. Jedenfalls sind aus der gloriosen Frühzeit der Moderne nicht viele Werke überliefert, die sich in ihrer Musealität so widerstandslos dem Blick der Gegenwart aufschließen. Was ja nicht zuletzt an ihrer vorbestimmten Leere liegt. Bei Picasso sind mit der kubistischen oder später surrealistischen Attacke auf die Figur immer auch inhaltliche Ansprüche erhoben. Modigliani schweigt. Hinter den Erscheinungen ist nie etwas. Und schon gar nicht wäre etwas hinter seinen Akten zu vermuten. Die Enthüllungen enthüllen nichts."

Weiteres: Zeitonline präsentiert eine Bilderstrecke zum LagosPhoto Festival in Nigeria. Jonathan Fischer stellt in der SZ einen Bildband zu afrikanischer Fotografie vor. Catrin Lorch porträtiert in der SZ die aussichtsreichste Kandidation für den diesjährigen Turner-Preis, die 63-jährige Lubaina Himid. Tal Sterngast betrachtet für die taz-Serie "Alte Meister" in der Berliner Gemäldegalerie Élisabeth Vigée-Lebruns "Genius des Ruhmes". Die FR annonciert die Ausstellung "A Tale of Two Worlds", die die Sammlung des MMK Frankfurt in einen Dialog mit lateinamerikanischer Kunst bringen soll.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Remastered. Kunst der Aneignung" in der Kunsthalle Krems (Standard) und die Ausstellung "Ode to the Sea" mit Werken von Guantanamo-Häftlingen, noch zu besichtigen in der Pre­si­dent's Gal­le­ry des John Jay Col­le­ge for Cri­mi­nal Jus­ti­ce in New York, während das Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um der USA ihre Vernichtung vorbereitet (NPR, Independent, FAZ).
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Literatur

Der Schriftsteller Alain Mabanckou, geboren in der Republik Kongo, heute in den USA beheimatet, umkreist in der NZZ Fragen der Identität im postkolonialen Zeitalter aus einer afrikanischen Perspektive. Sein Fazit: "Ich bin bereit, an jedem Ort zu wohnen, wenn er nur meine Träume beherbergt und mich mein Universum neu erfinden lässt. Afrika hat mir Flügel gegeben, Europa hat mich gelehrt, hoch im Himmel zu fliegen, und Amerika hat mir gezeigt, auf welchem Baum ich mich niederlassen kann, um mein Nest zu bauen und heiteren Herzens zu schreiben. Ich bin, so viel ist sicher, das Kind einer polygamen Ehe zwischen Afrika, Europa und Amerika." Außerdem bespricht Jeannette Villachica Mabanckous Roman "Die Lichter von Pointe-Noire" und Uwe Stolzmann liest Mia Coutos Roman "Imani" über König Ngungunyane von Moçambique.

Annabelle Hirsch spricht für die taz mit Catherine Millet über D.H. Lawrence, dem die Autorin in Frankreich gerade einen ausführlichen Essay gewidmet hat. Beide staunen nicht schlecht, dass gerade Lawrence als Mann es geglückt ist, den weiblichen Orgasmus literarisch am treffendsten zu beschreiben. "So akkurat wie bei Lawrence habe ich es noch nie gelesen. Auch bei keiner Frau. Man fragt sich natürlich: Wie konnte er das wissen? ... Ich denke durch seine Frau, Frieda. Sie war extrem frei, hat Mann und Kinder verlassen, um mit Lawrence auf Weltreise zu gehen. Als Deutsche hatte sie früh Freud gelesen. Als nicht sehr intellektuelle Person verstand sie seine Theorien sehr wörtlich: Sie hat Lawrence ständig betrogen, schon im ersten Monat ihrer Beziehung viermal. Aber sie hat ihm auch sehr viel sehr detailliert erzählt. Das half ihm sehr. Und dann hatte er auch viele Freundinnen, freie, moderne Frauen."

Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhauses, sammelt in der Literarischen Welt vergnügliche Lesungsanekdoten von Schriftstellern: "Max Goldt zum Beispiel weiß von Wespenattacken, auf die Bühne springenden Riesenhunden und explodierenden Lampen zu berichten."

Die FAZ dokumentiert Ilija Trojanows Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis. Der Schriftsteller verteidigt darin den Gutmensch vor den Anwürfen seiner zynischen Kritiker: "Es ist leicht, Schwarzseher zu sein, man muss nur die Augen schließen. ... Es ist leicht, als Zyniker durchs Leben zu gehen. Es ist kommod und bequem, alles zu akzeptieren, sich nicht zu wehren, sich abzukapseln, sich nicht ins Offene zu wagen, sich zu schützen, die Waffen zu strecken vor dem Erdrückenden, dem Überwältigenden. Daher der Hass auf die Gutmenschen."

Weiteres: In der Literarischen Welt fügt Denis Scheck Edgar Allan Poes "Der Rabe" seinem Kanon hinzu. Besprochen werden Jovana Reisingers Debütroman "Still halten" (taz), der Roman "Alles über Heather" von "Mad Men"-Autor Matthew Weiner (SZ), Jakob Augsteins und Martin Walsers Gesprächsband "Das Leben wortwörtlich" (Zeit, Welt), Bernhard Robbens Neuübersetzung von Sinclair Lewis' "Babbitt" (Tagesspiegel), David Constantines Erzählband "Wie es ist und war" (FAZ) und neue Hörbücher, darunter Stefanie Sargnagels "Statusmeldungen" (taz).

FAZ und taz haben heute außerdem noch einmal eine Literaturbeilage.
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Bühne

Chris Dercons "Erweiterte Kunstbegriff", der das Theater in die Kunst schwappen lässt und zurück, hat bei Kritikern ebenso wenig gezündet wie bei Adam Szymczyk in Kassel. Nicht dass SZ-Kritiker Till Briegleb grundsätzlich dagegen wäre - er nennt u.a. Anne Imhoff und Christoph Schlingensief als positive Beispiele - nur erfordert das Funktionieren des Crossovers viel mehr Aufwand, als die beide obengenannten bereit waren zu investieren, meint er: "In diesem großen Sommer der Performances mit zwei Documenta-Standorten, der Venedig-Biennale und den Skulptur Projekten Münster wurde diese Zumutung im Kunstbereich viral: Die Aktionen fanden immer dann statt, wenn man nicht am Ort war. War man zufällig zum richtigen Zeitpunkt anwesend, fehlte an den 'Venues' die Infrastruktur für eine optimale Präsentation, wie sie Theater in Jahrhunderten perfekt erprobt haben. Und der ständige Durchgangsverkehr macht es meist unmöglich, einer komplexeren Darbietung konzentriert zu folgen. Was Documenta-Leiter Adam Szymczyk positiv das 'Verwischen' von Grenzen nannte, empfand man als Besucher häufig eher als Verwässern von Standards."

Besprochen werden Dominik von Guntens Inszenierung von Stijn Devillés Stück "Riefenstahl und Rosenblatt sind tot" am Theater Würzburg (nachtkritik), Juliane Kanns Inszenierung von E.T.A.-Hoffmanns "Der goldene Topf" in Karlsruhe (nachtkritik), Julian Pölslers Inszenierung von Ferdinand von Schirachs Gerichtsdramas "Terror" in den Wiener Kammerspielen (Standard), Elio Gervasis Choreografie "Reisen durch den Spiegel" im Wiener Off-Theater (Standard), Ossama Helmys "Faltet eure Welt" im Berliner Grips-Theater (taz) und Thomas Melles "Versetzung" am Deutschen Theater in Berlin (SZ).
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Musik

Juliane Liebert plaudert in der SZ mit Charlotte Gainsbourg über deren neues Album. Deutschlandfunk Kultur bringt eine Lange Nacht von Michael Frank über Jimi Hendrix. Andrian Kreye schreibt in der SZ zum Tod des Jazzproduzenten George Avakian.

Besprochen werden das neue Björk-Album "Utopia" (taz, Tagesspiegel), die "Unvollendeten Memoiren" der Chanson-Sängerin Barbara (FR), Matthias Wells CD "Funeralissimo" (SZ), ein Auftritt des ehemaligen Schockrockers Marilyn Manson (NZZ) und das Debütalbum "Still" des Theaterkomponisten Daniel Freitag (Freitag). Im Video dazu darf Sandra Hüller unter anderem Telefone balancieren und Kissen vermöbeln:

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