Efeu - Die Kulturrundschau

Die letzte große Party

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07.08.2020. Die Cancel Culture greift weiter um sich: Das Harbourfront Literaturfestival hat die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart, der Rassismus vorgeworfen wird, aus Angst vor der autonomen Szene ausgeladen. Sie ist nur nicht links genug, meint die FAZ. Auch die Ausstellungen des kanadischen Künstlers Jon Rafman wurden nach Missbrauchsvorwürfen abgesagt. Die Museen reagieren auf Nachfrage mit dröhnendem Schweigen, weiß die Welt. Die FAZ blickt traurig auf die Kulturszene in Beirut zurück, wo die Menschen vor kurzem noch hungrig nach Kunst Museen und Theater stürmten. Die taz fordert Ganztagstheater und Kulturgutscheine für Arbeitnehmer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.08.2020 finden Sie hier

Literatur

Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart sollte beim Harbourfront Literaturfestival in Hamburg ihren Debütroman vorstellen. Als die autonomen Szene Drohungen aussprach, sagten die Betreiber des Veranstaltungsortes Nochtspeicher Eckharts Auftritt ab, berichtet Gunda Bartels im Tagesspiegel. "'Es ist unseres Erachtens sinnlos, eine Veranstaltung anzusetzen, bei der klar ist, dass sie gesprengt werden wird, und sogar Sach- und Personenschäden wahrscheinlich sind', zitierte der Spiegel aus einer Mail des Nochtspeicher an die Leitung des Festivals. Offenbar rechnet man in Hamburg mit linken Übergriffen. Eckhart wird vorgeworfen, rassistische und antisemitische Klischees zu bedienen", meldet Jakob Biazza in der SZ und meint: "Wie so oft bei Lagerkämpfen gibt es auch hier wohl keine Gewinner: Eckhart hätte aus ihrem Debütroman gelesen, und wollte die Linke eine Aufmerksamkeit für dieses Werk verhindern, ist das eindeutig schiefgegangen."

In der FAZ ist Michael Hanfeld empört und zitiert zustimmend den Kabarettisten Dieter Nuhr, der auf Facebook schrieb: "Der Künstlerin Lisa Eckhart ist Antisemitismus völlig fremd. Die Anschuldigung ist eine lächerliche Diffamierung. Der linke und der rechte Mob wünscht sich offenbar nun eine Kunst, die linientreu den eigenen Ideologien folgt. Wer da nicht hinein passt, wird mundtot gemacht. Das Auftrittsverbot ist eine klare Entscheidung gegen die künstlerische Freiheit. Die fadenscheinige Begründung Antisemitismus soll das Ganze moralisch untermauern. Aber Lisa Eckhart ist keine Antisemitin. Sie ist nur nicht links genug. Der Vorwurf des Antisemitismus ist lediglich der perfide Versuch, eine politisch verdächtig eigenständig denkende Person zu diskreditieren."

In der taz tröstet sich Alexander Diehl mit der Vorstellung, dass ja nur Dieter Nuhr protestiert habe. Dass zuvor zwei Autoren ihre Auftritte mit Eckhart abgesagt hatten, weil sie nicht kontaminiert werden wollten und Eckharts Verleger von "Weimarer Verhältnissen" sprach, kratzt ihn nicht.

Im Tagesspiegel empfiehlt Christian Schröder wämstens zwei Lyrikbände von Nils Mohl - "voller Knittelverse, Harakiri-Haikus, Wortspielereien und Nonsenspoesie. Der eine - 'Tänze der Untertanen' - ist für Jugendliche, der andere - 'König der Kinder' - für Kleinere. ... Mit 'anton', einem Gedicht aus lauter mit 'a' anfangenen Wörtern, huldigt er 'ottos mops' von Ernst Jandl. Zu Mohls lyrischen Vorfahren zählen aber auch Ringelnatz, Heinz Erhardt und die Autoren der Neuen Frankfurter Schule. Wo Müll war, wird Hirn draus Mohl weiß einen 'astreinen Spruch für Transparente: Hinten kackt die Ente' und gelangt zu erstaunlichen Erkenntnissen: 'ändert man / im wort / müll nur vier / buchstaben / hat man / plötzlich hirn.' Manchmal wird er expressionistisch ('ummöwt strande ich meernah'), er startet 'barfuß und in pyjamakluft' zum Traumflug von seinem Hochhausbalkon, kocht ein Potpourri aus Redensarten ('salz suppen hau eier in die pfanne / beiß ins gras sofern es schmeckt') und trauert um eine scharf gewürzte Chinaente: 'ente flennte / ente pennte / ente am ende / depri-ente'."

Weitere Artikel: Michael Wurmitzer unterhält sich für den Standard mit dem Übersetzer Alexander Nitzberg, der im Herbst mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet wird über dessen Metier. In der Berliner Zeitung berichtet Cornelia Geißler über einen Abend mit Matthias Brandt, der beim Literaturfestival in Potsdam über Anna Seghers sprach und aus ihrem Roman Transit las: "ein deutliches Zeichen in die Gegenwart", meint Geißler mit Blick auf - vermuten wir mal - Helga Schubert. Der Schriftsteller Leif Randt denkt in einem seltsamen Interview mit der SZ über seine Balance von Beruf und Freizeit nach.

Besprochen werden William Boyles Krimi "Eine wahre Freundin" (FR), Ryan T. Higgins Buch "Wir essen keine Mitschüler" (FR), Alcantes Graphic Novel "Die Bombe" (Tsp), Joris-Karl Huysmans "Lourdes" (Standard), Lukas Jüligers Comic "Unfollow" (Berliner Zeitung), Jürgen Heimbachs Thriller "Die Rote Hand" (Tsp), Christian Dudas Heimatroman "Milchgesicht" (Tsp), Christian Werners Bildband "Everything so democratic and cool" (SZ) und Walter A. Sontags "Das wilde Leben der Vögel" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.
Archiv: Literatur

Kunst

Nachdem dem kanadischen Künstler Jon Rafman von mehreren Frauen auf Instagram emotionaler Missbrauch und aggressives Verhalten vorgeworfen worden war (Unser Resümee), ist er über Nacht quasi "toxisch, unberührbar" geworden, schreibt Boris Pofalla in der Welt. Aus den Texten der Frauen wie auch aus Rafmans Statement geht hervor, dass die Begegnungen einvernehmlich waren, dennoch sagten große Häuser ihre Ausstellungen stillschweigend ab, so Pofalla: "Fragt man die jeweiligen Museen an, ob und wie sie denn den Anwürfen gegen den zuvor hochgeschätzten Künstler nachgehen, dann bekommt man ein dröhnendes Schweigen zu hören. (...) Rafmans letzte Verbindung zur Kunstwelt ist seine deutsche Galerie, Sprüth Magers. Und was sagt die?  'Wir von Sprüth Magers setzen uns seit Jahrzehnten für die Rechte von Frauen ein und verurteilen jede Form von institutioneller und individueller Gewalt gegen Frauen. Wir prüfen jeden Vorwurf, der sich gegen unsere Mitarbeiter, unsere Künstler oder unsere Geschäftspartner richtet, sorgfältig.'  (…) Zu gewinnen hat Sprüth Magers mit dieser Haltung nichts, im Gegenteil, es wird weiter online Druck auf die Galerie ausgeübt, den Künstler zu canceln. Recherchieren, lesen, Vorwürfe sorgfältig prüfen - soviel Rückgrat wünscht man sich auch von anderen Akteuren des Kunstbetriebs."

In Beirut war kulturell möglich, was nirgendwo sonst im Nahen Osten möglich war, seufzt Lena Bopp in der FAZ: "Es gab Galerien und Ateliers und seit wenigen Jahren sogar ein richtiges Museum. Das Sursock Museum feierte seine letzte große Party im Herbst, als eine Picasso-Ausstellung eröffnet wurde, die erste, die das Land jemals erlebte. Zu sehen waren zwanzig Werke aus dem Musée Picasso in Paris. Es war eine außergewöhnliche Leihgabe, um, wie der Pariser Direktor damals sagte, in den libanesischen Krisenzeiten etwas Schönheit nach Beirut zu bringen. Die Schau stand in keinem Verhältnis zu dem Ansturm, den sie auslöste. Zwei Räume, winzig. Aber die Menschen waren hungrig nach Kunst und die Schau eine große Ehre für das Land, initiiert von der Witwe eines Bankers, die diesen Deal eingefädelt und bezahlt hatte, samt dem Catering auf dem Platz vor dem Museum, dessen ornamentverzierte Buntglasfenster im Licht erstrahlten. Jetzt ist von diesen Fenstern nichts mehr übrig."

Orhan Pamuk: Istanbul 2018. Bild aus dem bei Steidl erschienen Band "Orange"


Vage erkennt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel die Bedrohung durch radikalen Islamismus und Nationalismus in den Nocturnes, die der Schriftsteller Orhan Pamuk in Istanbuler Nächten fotografiert hat und die auf der Lit:Potsdam derzeit ausgestellt werden: "Istanbuls Nächte erscheinen orangefarben vom Licht der alten Lampen. Zusehends werden sie durch neue Lichtkörper ersetzt, die eine kalte, weiße Atmosphäre verstrahlen. Deutlich ist der Farbwechsel, der ein ganzes Zeitalter beendet, in einer Aufnahme mit hohem Schnee zu sehen."

Weiteres: In der Berliner Zeitung erzählt Ingeborg Ruthe die hundertjährige Geschichte der Kunstsammlungen Chemnitz. Unter dem Titel "From a Universal Collector - The Olbricht Collection" will der Sammler Thomas Olbricht 500 seiner Werke in einer Auktion versteigern, meldet Rose-Maria Gropp in der FAZ und stellt nochmal klar, dass Olbrichts Weggang aus Berlin, "entgegen anderslautenden Vermutungen nicht mit dem vielfach diagnostizierten Kunst-Exodus von dort zu tun" hat. "Und es ist zu betonen, dass sich Olbricht mit seinem großzügigen privaten Museum und Ausstellungsquartier nie auf öffentliche Gelder gestützt, sondern die aufwendigen Unterhaltskosten stets selbst bestritten hat." Indes berichtet Bernd Graff in der SZ, wie der Künstleraktivist Paolo Cirio Reproduktionen seiner Werke für ein Hunderttausendstel ihres Preises verkauft, um gegen die Perversionen des Kunstmarktes zu protestieren.

Besprochen wird Christian Werners Bildband "Everything so Democratic and Cool" (SZ).
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Film

Was ist eigentlich mit dieser verdammten Gewalt?


Tobias Kniebe stellt in der SZ die Filmregisseurin Gina Prince-Bythewood vor, die mit Netflix' "The Old Guard" den "ersten Comic-Blockbuster unter der Regie einer schwarzen Frau" schuf, woran er nicht ganz erfüllte moralische Erwartungen verknüpfte: "Wenn man schon marginalisierte Frauen und schwule Helden feiern will - was ist eigentlich mit dieser verdammten Gewalt? Eine wachsende politische Community definiert verletzende Worte als Gewalt, sogar Schweigen (zu Missständen und Ungerechtigkeit) soll Gewalt sein. Tja, und das tatsächliche Durchlöchern, Aufschlitzen und Verstümmeln von Körpern, das hier trotz allem permanent für Thrills sorgen soll, was ist damit? Für die Helden gilt, dass ihre Wunden sofort wieder heilen. Aber für ihre Gegner natürlich nicht. Eine derart tödliche Ungerechtigkeit dürfte in fortschrittswilligen Narrativen eigentlich überhaupt nicht mehr ausgekostet werden."

Außerdem: In der NZZ berichtet Lory Roebuck von einem Deal zwischen der weltgrößten Kinokette, AMC, und dem Hollywoodstudio Universal, der Folgen für die ganze Kinobranche haben könnte: Die Schutzfrist für Kinos, wonach ein Film frühestens nach neunzig Tagen ins Netz gestellt werden darf, wurde auf 17 Tage reduziert, "im Gegenzug wird AMC am Profit aus dem Video-on-demand-Vertrieb beteiligt".
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Musik

Gerald Felber hat für die FAZ die Sommerlichen Musiktage in Hitzacker besucht und ein dankbares und höchst munteres Publikum erlebt, dass sich auch den schwierigsten Werken gewachsen zeigte: Etwa beim Auftritt des dreiundachtzigjährige Streicherpädagogen Eberhard Feltz mit dem Kuss Quartett, der "hörend, nachfragend und analysierend durch György Kurtags 'Officium breve' von 1989 führte - eine eindringliche und behutsam-wache Vertiefung in das aus existentieller Verzweiflung in leise Hoffnung hinüberwachsende Stück. Auch hier war der Saal - vormittags! - genauso bis auf den letzten Platz gefüllt wie bei den anderen Angeboten. Am Abend dann schloss die wunderbare, herb verinnerlichte und ganz in den Werken aufgehende Isabelle Faust ein weiteres Kurtag-Kapitel an, indem sie einige seiner Solo-Violinstücke zwischen Bachs Sonaten in a-Moll und C-Dur bettete."

Weitere Artikel: Auch das Freiburger Barockorchester spielt wieder, freut sich in der nmz Georg Rudiger, der bei einem Konzert dabei war. Im Tagesspiegel überlegt Frederik Hanssen, welche Auswirkungen ein Umbau der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für den Bereich Musik haben könnte: Ihm schwant nichts Gutes bei der Lektüre des Gutachten. Aida Baghernejad unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem Berliner Rap-Duo Zugezogen Maskulin über deren viertes Album "Zehn Jahre Abfuck", das aus einer "tiefen Sinnkrise" heraus entstand (hier die Kritik in der Berliner Zeitung). Die Kölner Sängerin Hozan Canê muss im Gefängnis bleiben, obwohl ihr Fall -  sie war 2018 in der Türkei wegen Terrorvorwürfen zu sechs Jahren Haft verurteilt worden - neu verhandelt werden soll, meldet Zeit online.

Besprochen werden Mary Chapin Carpenters "The Dirt and the Stars" (FR), der französische Abend bei Young Euro Classic (Tsp), das neue Album des Punkduos No Age "Goons Be Gone" (taz), ein Album der Leipziger Punkband 100 Kilo Herz "Stadt Land Flucht" (taz), "Kitschkrieg" von Kitschkrieg (Zeit online)
Archiv: Musik

Bühne

Wird das Theater nach Corona ein anderes, fragt Astrid Kaminski in der taz. Bitte nicht, ergänzt sie, denn wir müssen das "Gemeinschaftliche des Theaters", stärken, fordert sie: "Es wäre, zumindest solange das Burn-out-Produzieren anhält, vor allem frei von Abendvorstellungen zu denken. Ein '9 to 5-Theater. Ein Ganztagstheater. Als Experiment. Wenn es stimmt, dass Kultur ein Lebensmittel ist, dann sollten ihre Zutaten ganztags, zu normalen Arbeitszeiten, verfügbar sein. Für Familien, Elternteile mit Kindern, für Schichtarbeiter*innen, aber auch für alle, die von ihren Arbeitsplätzen oder (nicht existenten) Homeoffices heraus gemeinschaftliche Erfahrungen suchen. Eine erste Etappe, vor dem Grundeinkommen, könnten Kulturgutscheine sein. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, diese viermal im Monat zu Arbeitszeiten einzulösen. Für Selbstständige würde nach dem Vorbild der Corona-Hilfsprogramme ein Kulturbudget ausgeschüttet, sodass der Durchschnittsumsatz während der 10 monatlichen Kulturstunden vom Staat übernommen würde."

Im Interview mit Ulrich Seidler (Berliner Zeitung) spricht der Theaterregisseur Jan Bosse über Abstandsregeln auf der Bühne und die Angst der Kollegen und Intendanten: "Ich habe eine gewisse Passivität bei einigen Intendanten bemerkt. Klar, die tragen auch viel Verantwortung - für die Kosten und für die Gesundheit der Mitarbeiterschaft. Aber diese Angst, etwas falsch zu machen, hat dazu geführt - auch bei mir - dass man sich fast freiwillig hinten angestellt hat. Lieber erst einmal warten, was die Behörden für Dienstanweisungen und Regelungen ausgeben. Dass die von Experten beraten werden, die selbst nicht wissen können, was richtig und was falsch ist, macht es mit dem Handlungsmut nicht besser."

Weiteres: Daniele Muscionico (NZZ) und Barbara Villiger Heilig (nachtkritik) schreiben Nachrufe auf den im Alter von 90 Jahren verstorbenen Schweizer Theaterregisseur Werner Düggelin. Besprochen wird Veronika Glatzners Inszenierung von Shakespeares "Romeo und Julia" bei den Sommerspielen Perchtolsdorf (nachtkritik, Standard) und und die Ausstellung "Großes Welttheater. 100 Jahre Salzburger Festpiele" im Salzburg Museum (FAZ).
Archiv: Bühne