Efeu - Die Kulturrundschau

Nihilistischer Rasenmäher

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30.09.2023. Der Filmemacher Emin Alper erzählt im taz-Gespräch von den Schwierigkeiten, in der Türkei einen Film finanziert zu bekommen: Die Darstellung autoritärer Strukturen kann man an den Behörden vorbeimogeln, aber die Thematisierung von Homophobie geht gar nicht. Wer darf wie über die DDR schreiben und wer nicht: Der Kampf um die Deutungshoheit ist im vollen Gang, beobachten 54books und Literarische Welt. Die nmz sieht mit "The Zeroth Law" einen Musiktheater-Abend, bei dem die Roboter die Macht längst ergriffen haben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.09.2023 finden Sie hier

Film

"Burning Days" von Emin Alper

Für die taz spricht Thomas Abeltshauser mit dem türkischen Filmemacher Emin Alper über dessen neuen Film "Burning Days", einen im türkischen Hinterland angesiedelten Paranoiathriller um Korruption und Wassermangel (unsere Kritik). Seinen Film hat Alper auch als Metapher über die "wirklich erdrückende" Gegenwart der Türkei angelegt, sagt er. Dort solche Filme zu produzieren, ist nicht einfach: "Es gibt eine Förderung des Kulturministeriums, aber man ringt mit einem Komitee. Das ist immer eine indirekte Auseinandersetzung, man weiß nie genau, woran man ist. Es gibt einen permanenten Druck, kein Geld zu bekommen oder das zugesagte Geld wieder zu verlieren. In unserem Fall forderten sie anschließend sogar das Geld zurück, weil der fertige Film in ihren Augen nicht dem eingereichten Drehbuch entspricht. ... Alle haben Angst, niemand will in einen Film investieren, der nicht von den Behörden abgesegnet ist." Doch "sobald ein Film fertig ist und einen Verleih hat, kann man ihn in den Kinos zeigen. Auch 'Burning Days' lief sehr erfolgreich. Es gibt keine offensichtliche Zensur in diesem Sinne. Unsere Zensur funktioniert indirekt." Homophobie "war auch die eigentliche rote Linie für die Behörden. Wenn ich in einem Film von autoritären Strukturen erzähle, kann ich immer behaupten, es sei nur eine Metapher für etwas anderes. Aber Homophobie ist etwas anderes, es benennt ein konkretes Problem. Es gibt sie nicht nur in der türkischen Gesellschaft, sie ist in den letzten Jahren zu einer staatlichen Politik geworden.

Die goldenen Zeiten des Streamings sind endgültig vorbei, glaubt Chris Schinke im Filmdienst-Kommentar zur Einigung im Drehbuchstreik in Hollywood: Zu offensichtlich ist die Krise des Streamings und des Geschäftsmodells dahinter, die mit dieser Einigung zutrage getreten ist: "Nach Jahren des durch Investorengelder ermöglichten Wachstums geraten die Abonnentenmodelle zusehends an ihre Grenze. Das verdonnert die Studios zum Sparen. Zuletzt wurden auch zahlreiche erfolgreich laufende Showformate gecancelt. Unter den neuverhandelten Arbeitsbedingungen steigen die Kosten derweil weiter. Für Zuschauer bedeutet das zweierlei: Die Zahl der produzierten Serien und Filme dürfte abnehmen. Die aktuell maue Herbstsaison - traditionell Zeitpunkt vieler hochkarätiger Produktionen - gibt davon schon einen Eindruck. Zweitens dürften die Kosten für Abonnements der Streaming-Services in kommender Zeit deutlich steigen. Auch Abo-Modelle mit Werbung werden die Dienste ihren Kunden in Zukunft schmackhaft machen wollen. Die Tage, in denen das Streaming Zuschauern mehr Inhalte für weniger Geld versprach, dürften endgültig gezählt sein. Und das nicht wegen der erstreikten Zugewinne der Autoren. Vielmehr hat der Writers und Actors Strike offenbart, wie wenig tragfähig das Modell Streaming tatsächlich ist."

Weitere Artikel: Lukas Foerster berichtet auf critic.de vom Filmfestival in San Sebastian. Andreas Kilb (FAZ) und Marion Löhndorf (NZZ) schreiben zum Tod des Schauspielers Michael Gambon. Besprochen werden Pablo Larraíns auf Netflix gezeigte Pinochet-Groteske "El conde" (Freitag), die vierte Staffel von "Sex Education" (Presse), die Amazon-Serie "Generation V" (FAZ), die auf RTL gezeigte True-Crime-Serie "Love & Death" (Zeit) und Cal Bunkers Animationsfilm "Paw Patrol" (SZ).
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Musik

Daniel Bax spricht für die taz mit der Berliner DJ Ipek, die türkisch-anatolischen Folk mit elektronischer Musik kreuzt und sich in der Türkei für die von Repressalien belegte queere Community einsetzt. Francesca Polistina befasst sich in der taz mit der Geschichte des Protestklassikers "Bella Ciao", dessen Ursprünge in der italienischen Resistenza offenbar doch nicht so gesichert sind, wie gemeinhin angenommen wird: Die Partisanen sangen wohl eher "Fischia il vento", während "Bella Ciao" erst in den Sechzigern zur Hymne des italienischen Widerstands verklärt wurde. Im Tagesspiegel gratuliert Isabel Herzfeld dem Scharoun Ensemble zum 40-jährigen Bestehen. Für die FAZ spricht Jan Brachmann mit Thomas Guggeis, der mit dieser Spielzeit der Oper Frankfurt als Generalmusikdirektor vorsteht. Harald Eggebrecht resümiert in der SZ das Festival zum 30-jährigen Bestehen der Kronberg Academy. In der Literarischen Welt erzählt Georg Stefan Troller von seiner Begegnung mit dem Pianisten Arthur Rubenstein. Manuel Brug berichtet in der WamS von dem Tag, den er gemeinsam mit dem Dirigenten Herbert Blomstedt verbracht hat.

Besprochen werden das neue Album von Ed Sheeran (Standard, SZ) und das neue Album "Coin Coin Chapter 5: In The Garden" der Jazz-Saxofonistin Matana Roberts (taz).

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Literatur

Bestellen bei eichendorff21.de.
Von Oschmann über Hoyer bis aktuell zu Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee": Die Debatte darüber, wer wie über die DDR schreiben sollte und wer wie nicht, geht weiter. "An Stelle der altbekannten DDR-Konsumgüternostalgie (...) ist ein bildungsbürgerlicher Gedächtnispalast getreten, der kulturelle Eigenheiten des Ostens nicht ohne Stolz betont, selbst wenn er Unfreiheiten und Gewalt zur Kenntnis nimmt", stellt Peter Hintz auf 54books mit Blick darauf fest, dass die Erinnerung an den DDR-Alltag zusehends homogenisiert und auf die Perspektive einiger weniger verengt wird. "Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Konflikt häufig in und anhand von Texten ausgetragen wird, die Kindheit, Jugend und Familie im Osten thematisieren. Im Bereich des scheinbar Privaten oder Persönlichen treffen eigene Erinnerungen auf neuere kritische Erzählungen ostdeutscher Vergangenheit, die häufig kulturhistorisch oder selbst autobiografisch beeinflusst sind. So werden kritische Fragen über das Verhältnis von autoritärer Erziehung zu rechtsradikaler Gewalt, die etwa Anne Rabes Roman 'Die Möglichkeit von Glück' aufgeworfen hat, damit abgeschmettert, dass es im Westen auch nicht besser gewesen sei."

Bestellen bei eichendorff21.de.
Mara Delius von der Literarischen Welt findet den Streit im höchsten Maße seltsam, weil er sich um ein Kleinklein von Details (der Gebrauch des Wortes "lecker" als Gretchenfrage) und um die langsam öde werdende Debatte von Identität und Herkunft dreht. Dabei geht es in den Romanen von Gneuß und Rabe um viel Substanzielleres: Beide fordern "offensiv eine neue Beschäftigung mit diesem Teil der deutschen Geschichte ein - nicht als Retro-Auseinandersetzung, sondern zugunsten einer gesamtdeutschen Gegenwart. Die Bücher sind literarisch anders konstruiert, als es vorherige Einlassungen mit der DDR waren, ob sie von Ingo Schulze kamen oder von einem anderen der vielen Autoren mit ostdeutscher Biografie." Gneuß und Raabe "zeichnen ein beklemmendes Bild der DDR, insbesondere für junge Frauen, die unabhängig sein wollen."

Weitere Artikel: Jean Birnbaum denkt in der Literarischen Welt über das Verhältnis zwischen der in Frankreich beim Blick auf aktuelle Auseinandersetzungen grassierenden Bürgerkriegs-Rhetorik und die französische Literatur nach. In einem großen Essay für die Literarische Welt schildert Jonathan Franzen sein Problem mit J.A. Bakers "Der Wanderfalke", einem (auch von Werner Herzog in höchsten Tönen gelobten) Klassiker des Nature Writing, und davon ausgehend generell das Problem einer sich ihrem Gegenstand anverwandelnden Naturbeschreibung. In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Birgit Schmid hat für die NZZ ein Gespräch zwischen Leon de Winter und Jessica Durlacher aufgezeichnet. Richard Kämmerlings besucht für die Literarische Welt den Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler in München. Außerdem liest Kämmerlings für die Literarische Welt neue Romane aus Slowenien, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse. Großbritannien wendet sich nach großem Interesse an Hans Fallada und Stefan Zweig nun vermehrt der DDR-Literatur zu, beobachtet Gina Thomas im "Literarischen Leben" der FAZ. In "Bilder und Zeiten" der FAZ erzählt Christoph Hein von seinen Begegnungen mit zahlreichen Ex-Pats in Neuseeland,

Besprochen werden unter anderem Tijan Silas "Radio Sarajevo" (NZZ), Raphaela Edelbauers "Die Inkommensurablen" (Intellectures), Tim Staffels "Südstern" (taz), ein Gedichtband der Indiepop-Sängerin Arlo Parks (SZ), Emmanuel Carrères "V13: Die Terroranschläge in Paris" (Jungle World), neue Sachbücher (Freitag), Lauren Groffs "Die weite Wildnis" (Literarische Welt), und Sandra Hoffmanns "Jetzt bist du da" (FAZ).
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Kunst

Doug Aitken, 3 Modern Figures (don't forget to breathe), 2018; © Doug Aitken; Courtesy of the artist; 303 Gallery, New York; Galerie Eva Presenhuber, Zürich; Victoria Miro, London; Regen Projects, Los Angeles

FAZ-Kritikerin Katinka Fischer streift durch Doug Aitkens Ausstellung "Return to the real" im Schauwerk Sindelfingen wie durch eine Landschaft, die immer wieder mit Überraschungen aufwartet. Denn Aitken verhandelt seine Themen nie so, wie man es vielleicht erwarten würde, so Fischer. In der Videoinstallation "Wilderness" von 2022 wird die Kritikerin an die kalifornische Küste versetzt: "In der etwa 1500 Quadratmeter großen Shedhalle des Museums...breitet sich ein erdenrundes transparentes Leinwandpanorama aus und schafft dort buchstäblich Projektionsraum. In ihn können Betrachter sich hineinbegeben und dem Jahrmillionen alten Rhythmus der - in diesem Fall über der kalifornischen Küste - verlässlich auf- und wieder untergehenden Sonne folgen, die Menschen beobachten, die sich zwischen Licht und Dunkel treffen...Der archaische Kreislauf wird allerdings unterbrochen durch Heerscharen an Selfie-Touristen, die das Spektakel eines im Meer versinkenden Feuerkreises allabendlich an den Strand zieht und deren Fotos in Echtzeit selbst die hintersten Winkel der Welt erreichen. Darauf, dass das menschliche Fassungsvermögen mit dem Tempo der digitalen Revolution nicht mithalten kann, reagiert Aitken nicht etwa mit Kulturpessimismus, sondern mit beinahe kindlicher Verwunderung."

Nicht als "nihilistischer Rasenmäher", sondern als "revolutionäre Bewegung" erscheint die Postmoderne in der Ausstellung "Anything Goes. Alles auf einmal. Die Postmoderne, 1967-1992" in der Bundeskunsthalle Bonn für FAS-Kritiker Johannes Franzen. Humor spielte dabei eine wesentliche Rolle, so Franzen: "Überhaupt werden Ironie und Camp...als die bestimmenden Faktoren postmoderner Ästhetik stark inszeniert. Diese Ästhetik hat einige triumphal scheußliche Möbel, Kleidungsstücke und Küchenutensilien hervorgebracht. Insbesondere die schrillen und zumindest vom Aussehen her nicht gerade bequemen Sessel wie Alessandro Mendinis 'Poltrona di Proust' oder Peter Shires 'Bel Air' fallen ins Auge, aber auch Kleider mit verwirrenden Mustern und breiten Schulterpolstern oder ein klobig-futuristisches Teeservice von Hans Hollein. Hier wird die überbordende Spielfreude der Zeit deutlich - eine Tendenz zur Überfrachtung und Übersteigerung, die in einem angenehmen Kontrast zum heute herrschenden Minimalismus des liberalen Bürgertums steht." Auch Welt-Kritiker Marcus Woeller konstatiert: "Ohne Ironiebegabung kommt man in der Postmoderne nicht weit" und plädiert dafür, ihr im Angesicht "modernistischer Einfalt" eine zweite Chance zu geben.

Weitere Artikel: Der politische weit rechts stehende Journalist und TV-Moderator Pietrangelo Buttafuoco wird neuer Präsident der Kunst-Biennale in Venedig. "Kein gutes Omen" für die italienische Kunstszene, kommentiert Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden die Ausstellung "Ach was. Loriot zum Hundertsten." im Caricatura Museum Frankfurt (FAZ, SZ), Gregor Schneiders Ausstellung "Homeless" in der Galerie Konrad Fischer in Berlin (tsp), die Ausstellung "Grete Ring. Kunsthänderlin der Moderne" in der Liebermann-Villa am Wannsee (tsp) und die Ausstellung "Jasper Johns - der Künstler als Sammler" im Kunstmuseum Basel (WamS).
Archiv: Kunst

Bühne

"The Zeroth Law" an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Christoph Voy

Der Schriftsteller Isaac Asimov legte in seiner Erzählung "Runaround" drei "Robotergesetze" fest, die das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine bestimmen sollten, erinnert Stefan Drees in der nmz. Das Musiktheaterstück "The Zeroth Law" an der Deutschen Oper Berlin stellt nun eine wichtige Frage, so Drees: Was, wenn sich die Maschinen so gar nicht für diese Gesetze interessierten und "unter sich schon längst eine Verabredung getroffen hätten, festgehalten in einem den übrigen drei Gesetzen vorgeordneten 'nullten Gesetz': eine altruistische Bestimmung, mit der die Maschinen übereingekommen sind, im kollektiven Miteinander zum Wohle des Menschen zu agieren und ihm das Heft des Handelns aus der Hand zu nehmen, ohne dass er es überhaupt bemerkt?" Drees sieht diese philosophische Fragen im Stück des Ensembles Gamut Inc (Marion Wörles und Maciej Śledziecki) hervorragend in Szene gesetzt: "Die linke Hälfte ist dem RIAS Kammerchor vorbehalten, der in schwarzer Kleidung und kaum beleuchtet als unauffällige Reihung singender Körper unter dem Dirigenten Olaf Katzer agiert. Auf der rechten Bühnenhälfte hingegen sind die Bestandteile des von Godfried-Willem Raes entwickelten 'Roboterorchesters' der Logos Foundation Gent zu einer skurril-gezackten Bühnenlandschaft angeordnet. Sie formen eine technoide Szenerie, deren Komponenten immer wieder anders ausgeleuchtet werden und ein wesentlich stärkeres Eigenleben entfalten als der mit dem Bühnenhintergrund verschmelzende, stillgestellte Menschenchor. "

Weiteres: In der FAZ unterhält sich Jan Brachmann mit Thomas Guggeis, dem neuen Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt. In der taz verteidigt Andreas Fanizadah den Regisseur Milo Rau und seine Inszenierung von Mozarts "La clemenza di Tito" gegen Kritik aus dem konservativen Lager: FAZ-Kritiker Jan Brachmann warf Milo Raus Inszenierung (2021 in Genf) Selbstgerechtigkeit vor (unser Resümee). Übersehen werde dabei, so Fanizadeh, dass er "auf den erhobenen Zeigefinger in den Inszenierungen weitgehend verzichtet, sich hinterfragt und die Entwicklungen der letzten Jahre ästhetisch reflektiert". Patrick Wildermann resümiert im Tagesspiegel den Saison-Start am Gorki-Theater in Berlin. FR-Kritiker Bernhard Uske teilt Eindrücke vom Fratopa-Festival an der Alten Oper Frankfurt.

Besprochen werden Rainer Ewerriens Inszenierung einer Bühnenfassung von Nick Hornbys "Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst" am Stalburg Theater in Frankfurt (FR), Marina Davydovas Inszenierung ihres Stücks "Museum of Uncounted Voices" am Hebbel am Ufer Berlin (SZ), Romain Gilberts Inszenierung von George Bizets Oper "Carmen" an der Oper in Rouen (FAZ), Suna Gürlers Inszenierung von Lucien Haugs Stück "Jetzt, jetzt, jetzt" am Schauspielhaus Zürich (nachtkritik) und Ewelina Marciniaks Inszenierung von "Meine geniale Freundin", einer Adaption von Elena Ferrantes Roman "Die Geschichte des verlorenen Kindes", am Thalia Theater in Hamburg (nachtkritik).
Archiv: Bühne