Efeu - Die Kulturrundschau

Grandios kolorierte Sittiche

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04.01.2024. Die Filmkritiker verlieren sich in der symbolistischen Wunderwelt von Hayao Miyazakis Anime "Der Junge und der Reiher". Mit Sofia Coppolas "Priscilla" warten sie im goldenen Käfig darauf, dass der Funke überspringt. Die taz berichtet, wie die Rechercheagentur Forensic Architecture mit Falschmeldungen Stimmung gegen Israel macht. Aufatmen kann derweil die polnische Kunstwelt, freuen sich SZ und Monopol: Mit dem Regierungswechsel wurde auch der rechte Künstler Ignacy Czwartos von der Biennale in Venedig abgezogen. Schön, dass Claudia Roth das Publikum in Bayreuth jünger und diverser machen möchte, nur von welchem Geld, fragt die SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.01.2024 finden Sie hier

Film

Sucht nach tiefgreifender Bedeutung: "Der Junge und der Reiher"

Mit dem Animationsfilm "Der Junge und der Reiher" über einen Jungen, der aus dem ausgebombten Tokio in die japanische Provinz gebracht wird und dort von einem Reiher in eine traumhafte Wunderwelt geführt wird, aus der vielleicht sogar seine tote Mutter in die Welt der Lebenden gebracht werden könnte, mit diesem Film also legt Hayao Miyazaki, der morgen seinen 83. Geburtstag feiert, wohl endgültig sein Abschiedswerk vor. Oder vielleicht auch nicht? "So wie hier Motive und formale Methoden Miyazakis gebündelt, reaktiviert und fortgesetzt, autobiografische Details erkennbar werden, ist man versucht, 'Der Junge und der Reiher' als ein abschließendes, finales Statement zu lesen, die Summe eines lebenslangen Schaffens", konzediert Kamil Moll im Perlentaucher. "Vielleicht ist aber auch das nur eine weitere, weiterhin nicht abreißende Kontinuität im Werk eines Regisseurs, dessen zahlreiche Abschiede vom Filmemachen geradezu sprichwörtlich geworden sind. Auf Social Media berichten Mitarbeiter des Studio Ghibli, dass Hayao Miyazaki jeden Morgen in seinem Büro erscheint, um an einem neuen Projekt zu arbeiten."

An Miyazakis große Klassiker reicht dieses Spätwerk im direkten Vergleich zwar nicht ran, stellt Robert Wagner auf critic.de fest. Doch ein Lamento wäre hier wirklich nur Jammern auf allerhöchstem Niveau: "Seine Qualitäten finden sich nur eben bei seinen ganz spezifischen Eigenschaften und nicht bei den bekannten Charakteristika Miyazakis." Der Film ist "als Gleichnis viel offener und ambivalenter als vorherige Filme", doch "was den Film am meisten bestimmt, ist die Anlehnung an den Symbolismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wenn Mahito in der Welt innerhalb des Turms angelangt, dann findet er sich recht schnell auf einer Insel wieder, die verdächtig Arnold Böcklins 'Die Toteninsel' ähnelt. Die Welten, durch die er in der Folge wandert, entsprechen durchaus dem in Heidelberg verliebten Steampunk, der so oft bei Miyazaki zu finden ist, aber mehr als sonst wirken die Bilder und Orte symbolisch überladen. Sie streben nach tiefgreifender Bedeutung, nach Schönheit, nach erhabener Fremdheit." Einfach nur hingerissen ist FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, Artechock-Kritiker Axel Timo Purr hingegen hat stellenweise seine Probleme mit dem Film. Weitere Besprechungen im Standard, in der Welt und in der Zeit.

Erneut eine Eingesperrte: Sofia Coppolas "Priscilla"

Sofia Coppolas Biopic "Priscilla" erzählt davon wie Elvis Presley Priscilla zur Frau nahm und in einem Leben aus Prunk und Wohlstand einsperrte. Diese hat den auf ihren Memoiren basierenden Film auch selbst produziert. Dieser Film gesellt sich zu einer "ganzen Reihe jüngerer Filme, die Geschichten von Frauen in goldenen Käfigen erzählen", hält Perlentaucher Jochen Werner fest. "Entweder geht es dabei, wie in Pablo Larraíns eine Klasse besserer 'Spencer', um den Ausbruch aus den Gefängnissen von Klasse und Tradition, oder, wie in den beiden sehr ähnlichen jüngeren Sisi-Filme 'Corsage' und 'Sisi & ich', um das Zugrundegehen daran. Das lässt sich natürlich als das Lebensthema Sofia Coppolas, dieser großen Melancholikerin des Kinos lesen, und immer wieder ist es ihr gelungen, ihm große, traurige Kinomomente abzuringen. Wenn der Funke jedoch nicht überspringt, wandelt sie auf einem schmalen Grat und ihre Filme laufen Gefahr, so redundant zu wirken wie die leeren Leben ihrer Protagonist*innen. 'Priscilla' hat ein paar Spurenelemente solcher Augenblicke, die aus der grünlichen Digitalmatschtristesse hinaus auf etwas Größeres verweisen, schlägt aber viel zu selten wirklich Funken." Auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte muss hier und da enttäuscht seufzen: "Trotz der akkuraten Ausstattung hat der ganze Film die schmucklose Form mancher Reality-TV-Formate, die ihren psychologischen Realismus dem Rhythmus plätschernder Fernsehunterhaltung unterordnen."

Das Artechock-Team spendiert dem Film gleich drei Kritiken auf einmal. Coppola "inszeniert meisterlich die Leere, die sich im Leben der Elvis-Braut auftut", lobt etwa Dunja Bialas. "Anders als in 'Marie Antoinette', einer anderen Eingesperrten in ihrer Filmographie, verzichtet sie hier auf das Exaltierte, auf die Übertreibungen, auf die großen Gesten, wenn sie vom Leben Priscillas erzählt. Die ist von Nicht- und allenfalls Softfarben umgeben. Man sieht, wie sie ins menschleere Wohnzimmer starrt oder gelangweilt aus dem Fenster. Das ist nicht sehr aufregend. Aber auch nicht klaustrophobisch. Man schaut als Zuschauer einfach der Gelangweilten zu. Dafür entschädigen visuell die zahlreichen Close-ups auf Finger- und Zehennägel, falsche Wimpern, hellblaue Lack-Pumps. Sie stilisieren die Frau - unter dem Male Gaze von Elvis - zum Objekt, und erheben ihn insgesamt zum Fetisch und filmischen Hochglanz." Valerie Dirk hat sich für den Standard mit der Regisseurin unterhalten. Sofia Glasl konturiert in einem Filmdienst-Essay Sofia Coppolas spezifisch weiblichen Blick auf die Popkultur.

Von Graceland zur Berliner Republik: Claudia Roths Gesetzesentwurf zur Reform der Filmförderung werde demnächst vorliegen, versichert die Kulturministerin auf Anfrage von SZ-Filmkritiker David Steinitz, nachdem eine Allianz von Interessensvertretern der Filmbranche sich in einem "Brandbrief" mit Forderungen an Roth gewandt haben (unser Resümee) - und inhaltlich werde man den Forderungen wohl sogar sehr entgegenkommen. Steinitz sieht jedoch noch ein weiteres Problem am Horizont auftauchen: Es "starten schon seit Jahren viel zu viele Filme im Kino", nämlich etwa  zehn pro Woche. Doch werden im Schnitt pro Einwohner und Jahr nur 0,93 Tickets verkauft. "Dass allein mehr Geld (und dadurch eventuell noch mehr Filme) auch nicht der Filmförderung letzte Weisheit sein können, zeigen diese Zahlen doch sehr deutlich."

Weiteres: In der FAZ gratuliert Claudius Seidl der Schauspielerin Judy Winter zum 80. Geburtstag. Besprochen werden Taika Waititis Sportkomödie "Next Goal Wins" (taz), Ayşe Polats "Im toten Winkel" (FD, Artechock), Thomas Vincents "Role Play" (Artechock, FD), Stefan Westerwelles auf DVD erschienene Adaption von Martin Musers Jugendroman "Kannawoniwasein" (taz), Juan Antonio Bayonas auf Netflix gezeigtes Survivaldrama "Die Schneegesellschaft" (Welt) und die von der ARD online gestellte Serie "Powerplay" (Tsp). Außerdem hier der Überblick vom Filmdienst über alle diese Woche anlaufenden Filme.
Archiv: Film

Literatur

Carola Tunk (BLZ) und Christoph Schickl (Intellectures) erinnern an den Comiczeichner André Franquin, der gestern seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Besprochen werden unter anderem der von Marjane Satrapi herausgegebene Comicband "Frau. Leben. Freiheit" über die Proteste im Iran (Standard), Zeruya Shalevs "Nicht ich" (Zeit) und Shehan Karunatilakas "Die sieben Monde des Maali Almeida" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Shalev, Zeruya

Kunst

Bild: Shakuru, Shinkichi and Tanéa Tajiri at the iron works (2001), Courtesy of Kim Zwarts.

Tief bewegt kommt Max Florian Kühlem (FAZ) aus dem Bonnefanten-Museum in Maastricht, wo die Enkel ihrem 2009 verstorbenen Großvater Shinkichi Tajiri, niederländisch-amerikanischer Künstler japanischer Abstammung, die Ausstellung "The Restless Wanderer" widmen. Tajiri, der während des Angriffs von Pearl Harbour in einem Lager interniert war, wurde vor allem für seine Skulpturen berühmt, die immer auch Aspekte der Weltgeschichte enthalten, so Kühlem: "Die Skulpturen sind hauptsächlich in vier Gruppen unterteilt, die man alle biografisch herleiten kann: Es gibt die Warriors, Krieger, die Machines (Maschinen), Seeds (Samen) und Knots (Knoten), alle haben meist übermenschliche oder mindestens menschliche Maße. Mit den Warriors und Machines hat Shinkichi Tajiri seine Zeit im Krieg verarbeitet - über die er auch Gespräche nie gescheut hat. Seine Krieger-Statuen sind allerdings, obwohl aus Stahl formiert, weniger martialisch als friedlich und still. In Venlo heißen sie 'Wächter' - und man kann sie als Wächter des Friedens sehen. Mit ihren Flügeln oder Hörnern sehen sie aus wie Fabelwesen oder Figuren aus Martial-Arts-Filmen."

Die von dem Architekten Eyal Weizman gegründete Agentur "Forensic Architecture" ist eine Mischung aus Rechercheagentur und künstlerischer Intervention, die Kunstwelt feiert die meist von NGOs beauftragten Arbeiten, Ausstellungen finden sich vom Berliner HKW über die Frankfurter Schirn bis zur Whitney Biennial. Wenn es um Israel geht, hat die Agentur aber eine deutliche politische Schlagseite, das Ziel ist, einen palästinensischen Opfer- und israelischen Täterstatus aufrechtzuerhalten, kritisiert Mira Anneli Nass in der taz. Ein Beispiel ist für sie die Arbeit der Gruppe zum Raketeneinschlag am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza am 17. Oktober, den sogar die nicht gerade israelfreundliche NGO Human Rights Watch der Hamas zugeschrieben hat. Forensic Architecture beziehe sich kritiklos auf Hamas-Quellen und versuche die israelischen Beweise zu "falsifizieren", so Nass: "Auch für 'Destruction of Medical Infrastructure' bezieht sich das Kollektiv unter anderem auf die Hamas-nahe Nachrichtenagentur Shehab News. Um Evidenzen zu schaffen und öffentlichkeitswirksame Gegennarrative zu etablieren, unterlässt es die Gruppe, eine Kritik ihrer Quellen selbst zu formulieren. Im US-Magazin Art in America schrieb die Kritikerin Emily Watlington im März, die Gruppe bewege sich so an der Grenze zu Fake News und Halbwahrheiten."

Auch in der polnischen Kunstwelt gibt es nach dem Regierungswechsel allen Grund zum Aufatmen, schreibt Viktoria Großmann, die in der SZ schildert, wie der neue Kulturminister Polens, Bartlomiej Sienkiewicz, Polens Kulturwelt umkrempelt. So wird nun etwa das Bild "Nord Stream 2" des Künstlers Ignacy Czwartos, das Merkel und Putin durch eine Swastika verbunden zeigt, nicht auf der Biennale in Venedig zu sehen sein, sondern das Projekt eines polnisch-ukrainischen Künstlerkollektivs: "Statt Gemälden von Nazis und Rote-Armee-Soldaten sollen im polnischen Pavillon in Venedig nun Filme über ukrainische Kriegsflüchtlinge zu sehen sein. Statt um das im Zweiten Weltkrieg von zwei Seiten überfallene Polen soll es um den aktuellen Krieg in Polens Nachbarland gehen. 'Repeat after me' lautet der englische Titel der Video-Installation, also in etwa 'Sprich mir nach'." Für einen neuen Wettbewerb reichte die Zeit nicht, erklärt die ehemalige Kuratorin des polnischen Pavillons Joanna Warsza, die im Monopol Magazin auch erzählt, wie der rechtsgerichtete Maler Ignacy Czwartos den Wettbewerb überhaupt gewinnen konnte: "Unter der rechtsgerichteten PiS Regierung erfolgte eine brutale Übernahme der Institutionen, aber erst jetzt sollte das, was als 'guter Wechsel' bezeichnet wurde, auch in Venedig ankommen."

Weitere Artikel: In der taz läutet Bernd Müllender in einem von Visit Flanders unterstützten Text das James-Ensor-Jahr in Belgien ein, wo unter anderem Ausstellungen im Brüsseler Bozar, im FOMU in Antwerpen und im Mu.Zee in Ostende zu sehen sein werden. Jens Malling (FAZ) rät zu einem Besuch im Schaudepot im brandenburgischen Beeskow, wo eine der größten Sammlungen mit überwiegend regimetreuer DDR-Kunst zu sehen ist. Im NZZ-Interview spricht Jürgen Teller, dem das Grand Palais Éphémère in Paris derzeit eine Retrospektive widmet, über seine Anfänge und Shootings mit Kate Moss, Victoria Beckham und Björk.
Archiv: Kunst

Musik

Für Frankfurter Allgemeine Quarterly wirft Ralf Niemczyk einen Blick auf den Klassiknachwuchs. Besprochen werden die Memoiren der Komponistin Ethel Smyth (TA) und und Actress' neues Album "LXXXVIII" (FR).
Archiv: Musik
Stichwörter: Smyth, Ethel

Bühne

Claudia Roth wünscht sich das Opern-Publikum in Bayreuth jünger und diverser. Schöne Idee, allein es fehlt das Geld, kommentiert Reinhard J. Brembeck in der SZ: "Voriges Jahr kosteten die teuersten Bayreuth-Karten 459 Euro, etwa 10 000 Menschen konnten die Aufführungen live erleben. Wenn aber statt einiger der teuren Karten ein gewisser Prozentsatz an Zehn-Euro-Jugendbiletten und gar zusätzliche Vorstellungen angeboten werden, würde das ein Loch in den engen Etat reißen. Da sich in Bayreuth aus Angst vor einem weiteren Publikumsschwund niemand traut, die Kartenpreise zu erhöhen, müssten die Gesellschafter mehr Geld zuschießen. Dazu sind sie allerdings bisher nicht bereit. Auch die von Claudia Roth wie Katharina Wagner geforderten Strukturänderungen werden sich nicht aus dem Etat der Festspiele finanzieren lassen, dafür braucht es ebenfalls zusätzliches Geld. So das nicht von den Gesellschaftern kommt, werden andere Geldgeber in die Bresche springen müssen. Um die anzuwerben, wird Bayreuth die von Intendantin Wagner geforderte Sponsorenabteilung brauchen, auch das wird Geld kosten."

Außerdem: Immer mehr Balletttänzer verlassen das Stadttheater und gründen eigene Kompanien, berichtet Dorion Weickmann in der SZ: "Ob Berlin, Hamburg oder London - die Projekte stimmen hoffnungsfroh."
Archiv: Bühne
Stichwörter: Bayreuth, Roth, Claudia

Architektur

Bild: VoltairBerlin

Immerhin einen nonchalanten Blickfang verdankt der Alexanderplatz dem Architekten Jürgen Mayer H., der dort das "Voltair" genannte Bürohaus gestaltet hat, atmet Ulf Meyer in der FAZ auf: "Die Fassaden des Bürohauses sind auf allen Seiten gleich - der Grundsatz der Moderne, dass Gebäude nach den Himmelsrichtungen orientiert gehören, wird hier als unurban verworfen. Selbst die Nordfassaden haben Sonnenschutz. Die braunen Alufassaden bestehen aus zwei Schichten, um die Innenräume vor Bahnlärm zu schützen. Statt 'Präsenzbüros' gibt es große Terrassen in jeder zweiten Etage und eine Fahrradwerkstatt. Jürgen Mayer H. galt als Meister der exaltierten konvex-konkaven Formen wie er bei seinem Meisterwerk, dem Metropol Parasol in Sevilla bewiesen hatte, aber in Berlin zeigt er, dass auch orthogonale Geometrie räumlich nicht fad sein muss: Seine Formexperimente funktionierten in Süddeutschland oder Georgien besser als im spröden Berlin. … In Berlin sind es die Staffelungen und Spiegelungen, welche die Härte des Blocks spielerisch auflösen."
Archiv: Architektur