Essay

Die Willkür unseres Wohlwollens

Von Daniele Giglioli
27.01.2016. Ist es statthaft, Flüchtlinge nicht als Opfer zu sehen, ihnen nicht mit Mitgefühl zu begegnen? Absolut, meint der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli. Denn die Adressierung als Opfer, so gut sie auch gemeint sein mag, verhindert die Auseinandersetzung auf Augenhöhe, gerade auch über unterschiedliche Kultur- und Gesellschaftsvorstellungen.
Nur schwer lässt sich der Versuchung widerstehen, die Migranten - die ihr Leben auf dem Mittelmeer riskieren, häufig auch verlieren, oder sich hinter den Drahtzäunen der neuen Grenzen dessen ansammeln, was mittlerweile vielleicht als ehemalige EU gelten muss - als Opfer anzusehen. Wie soll man sie sonst ansehen, wenn man jene Gesichter, jene Augen, jene Verzweiflung und jenen Schrecken erblickt? Sollten wir nicht stolz sein, dass unsere Spiegelneuronen uns angesichts derartiger Bilder sofort anhalten, Mitleid zu empfinden, uns zu identifizieren, Solidarität und den Wunsch zu entwickeln, diese Menschen aufzunehmen?
Und doch handelt es sich eben um eine Versuchung, hinter der sich größere Gefahren verbergen, als man denkt. Die erste besteht darin, dass ein Opfer schnell zum Monster wird: Wie nun, wir haben sie aufgenommen und jetzt erlauben sie sich, zu protestieren, Verbrechen zu begehen, weiterhin so zu leben, wie sie es in ihren Ursprüngsländern getan haben? Undankbar sind sie, verlogen, ungesittet, zurückgeblieben, nicht integrierbar … Hat der Arme nicht stets bescheiden und unterwürfig zu sein, mit dem Hut in der Hand und dem Segensspruch auf den Lippen? Doch mit bloßen Gefühlen kommt man in der Politik nie sehr weit.

Die zweite Gefahr ist jedoch noch größer. Wer den Anderen als Opfer auffasst, macht sich dadurch selbst zu einem Überlegenen. In dem Augenblick, in dem man dem Anderen das Recht auf Mitleid zugesteht, verweigert man ihm ein anderes, unendlich bedeutenderes: das auf Gleichheit. Es geht nicht darum, zu leugnen, dass die Geflüchteten, die Asylbewerber - auch diejenigen, die vor der Armut fliehen, und nicht vor dem Krieg - eine Situation hinter sich zu lassen versuchen, in der sie reelle oder potenzielle Opfer sind. Aber genau das ist der Punkt: Es handelt sich um Menschen, die sich dazu entschließen, wenn auch unter dem Zwang oftmals extremer Umstände: Sie gehen Risiken ein, informieren und organisieren sich, studieren die Situation, legen Geld beiseite, beschaffen sich Papiere. Es sind also aktive Subjekte: Personen, die einen Entschluss gefasst, Verantwortung für sich und ihre Familie übernommen, eine mutige Handlung begangen haben. Ob sie nun vor einem Krieg oder aus wirtschaftlichen Gründen fliehen, die Migranten sind Akteure (Handelnde), Menschen, die ihr Leben - in dem Ausmaß, in dem ihnen das möglich ist - in die Hand genommen haben. Und als solche wollen sie auch angesehen werden. Mehr noch als Mitleid sollten sie Respekt und Bewunderung hervorrufen. Wären wir ebenso mutig, ebenso entschlossen?

Im Grunde ist das Problem jedoch keins der Empfindung oder Moral, sondern ein politisches (oder ethisches in dem Sinn, in dem die alten Griechen den Begriff gebrauchten: Was ist in Hinblick auf ein gutes gemeinsames Leben rational wünschenswert?). Die Migranten als Opfer auffassen bedeutet, sie der Willkür unseres Wohlwollens auszusetzen, dem launischen Spiel unserer Gefühle: Uns, den Großzügigen, Barmherzigen, gebühren die Pflicht und die moralische Befriedigung, uns als Akteure zu empfinden, in einer Öffentlichkeit, die wir nicht zufällig als die unsere begreifen, nicht etwa als gemeinsame; ihnen hingegen das Schicksal, außerhalb der Polis zu bleiben, außerhalb des Ortes der Diskussion und Beratung, selbst wenn ihnen die Möglichkeit einer körperlichen Anwesenheit zugestanden wird. Die Migranten als Akteure denken bedeutet dagegen, sie als Subjekte anzusehen: als Träger von Projekten und Wünschen, und nicht nur von Bedürfnissen, als Träger von Verhaltensweisen und Ideologien, die uns mitunter auch nicht gefallen könnten. Wir sollten sie nicht bemitleiden, sondern mit ihnen verhandeln, sie als mit einem Logos, das heißt mit Vernunft ausgestattet begreifen. Aristoteles hat gesagt, der Mensch sei ein mit Sprachvermögen ausgestattetes politisches Tier. Gewiss, auch andere gemeinschaftlich lebende Gattungen haben ihre Sprache, doch können sie mit ihr nur die Gefühle der Freude und des Schmerzes ausdrücken, während das Besondere der menschlichen Sprache darin liegt, dass sie eine gemeinsame Verständigung über Gerechtes und Ungerechtes erlaubt. Nur wer zu einer solchen gemeinsamen Verständigung fähig ist, ist wirklich menschlich.

Wenn auch wir wirklich menschlich sein wollen, human und nicht bloß humanitär, dann ist das Recht auf Politik das erste, das wir den Migranten zugestehen müssen: das Recht auf einen gemeinsam bewohnten öffentlichen Raum, in dem es von Mal zu Mal möglich sein wird, sich zu begegnen und zu verstehen, aber auch, was nicht weniger grundlegend ist, aneinanderzugeraten und miteinander uneins zu sein (eine Demokratie, die sich vor dem Konflikt ängstigt, hat vor sich selbst Angst, denn die Demokratie ist gerade aus dem Konflikt geboren). Die weltweiten demografischen Umbrüche lassen die alten Grenzen zunehmend obsolet werden. Die Welt ist auf dem Weg, zu einer einheitlichen zu werden, und es hat keinen Sinn mehr, sie aufzuteilen in diejenigen, die nicht nur das Recht haben, in ihr zu leben, sondern auch das, sie zu regieren, und in jene anderen, deren Anwesenheit nur gutherzig gestattet wird. Das Recht, sich an der Regierungstätigkeit zu beteiligen, beinhaltet aber auch, Verantwortung zu übernehmen. Die Opfer haben keinerlei Pflichten, weil sie keinerlei Verantwortung haben - wäre dem nicht so, dann wären sie keine Opfer. Subjekte haben sehr wohl Pflichten und Verantwortung. Einem Subjekt kann man nicht sagen: Du darfst hierherkommen, unter der Bedingung, dass du dich unseren Regeln fügst. Das wäre ein Widerspruch in sich. Man kann ihm nur sagen: Komm hierher, damit auch du deinerseits diesen Raum teilen und also regieren kannst. Die neuen Regeln schreiben wir gemeinsam (was zu Konflikten führen könnte, auch zu heftigen, und es ist besser, darauf vorbereitet zu sein) - und für all das, was du von nun an tust, werden wir dich verantwortlich halten, genau so, wie wir alle für unsere Handlungen verantwortlich sind.

Bologna, 12.1.2016

Aus dem Italienischen von Max Henninger

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Von Daniele Giglioli erschien gerade das Buch "Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt" im Verlag Matthes und Seitz.