Essay

In zig Alltagssituationen

Von Eva Quistorp
18.01.2016. Die einen missbrauchen das Ereignis. Die anderen polemisieren gegen diesen Missbrauch. Keiner kümmert sich um die, um die es wirklich geht: die Frauen zuerst. Und dann die ungeheure Integrationsarbeit.
Achtzig Prozent der Flüchtlinge sind allein reisende Männer, die keine Ahnung vom wirklichen Alltag und demokratischen und Geschlechterregeln in Deutschland haben, die kaum deutsch lernen oder englisch können, die Hälfte von ihnen ohne Ausbildung, ein großer Teil sogar Analphabeten, aber die meisten jung und kräftig. Dass das ein Problem ist, war mir schon länger klar. Darum konnte ich mich nicht so plötzlich aufregen wie viele andere in Politik und Medien den letzten Tagen.

Ich hatte schon im September darauf hingewiesen, dass eine ungeheure Integrationsarbeit in bisher nicht gekanntem Maße auf uns zukomme, angefangen bei den Notunterkünften, Schulen, auch für Polizei und Sozialarbeiterinnen.

Nur ein Punkt: Von Ministerin Schwesig und anderen von oben zwar gefordert, doch lange nicht umgesetzt, fehlt ein besonderer Schutz für die Frauen und Mädchen unter den Flüchtlingen. Frauen und Mädchenbeauftragte und Beratungstermine mit pro familia und dem Kinderschutz gehörten längst in jede Unterkunft. Entsprechend müssten Heimleitungen, Sozialarbeiter und Übersetzerinnen geschult werden, vor allem müssten die Security Boys und Machos, die oft eher an Türstehermilieus erinnern, durch Frauen ergänzt werden und umgeschult, ja getestet und überprüft werden, sind doch auch Salafisten dabei und viele, die die Männermachtpose lieben.

Jenseits der hate-speech im Internet sahen in den letzten Monaten viele die Flüchtlinge nur als als Schutzsuchende, als ob alle direkt aus dem Krieg kämen, was gar nicht der Fall war, als Geschenk wie Bernd Ulrich von der Zeitoder als edle Wilde, die unser Land durch Vitalität erfrischen - siehe Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie in der Zeit.

Jene, die ständig damit drohen, dass Deutschland ausstirbt, schwärmten für die Lösung der demografischen Probleme, wie auch die Kanzlerin, die ja auch nicht gerade viele Kinder bekommen hat. Ich fragte mich immer, welche Frauen denn mit diesen Hunderttausenden von muslimischen Jungmännern Kinder bekommen und sie heiraten sollten oder ihre Geliebten werden. Keiner hat darüber nachgedacht. Der Familiennachzug würde ja erstmal nur ihre Mütter und Väter holen.

Flüchtlinge wurden auch von großen Teilen der Wirtschaft einseitig in rosigem Licht gesehen, bevor Carsten Linnemann von der Mittelstandsvereinigung der CDU etwas realistischer wurde als Merkels Team und ihre grünen oder anderen Hofberichterstatter. Einige Autobosse lobten den hunderttausendfachen, massiven Zuzug in kurzer Zeit als die angeblich gesuchten Fachkräfte - in Schweden weiß man, dass die Integration dazu meist sieben Jahre braucht. Mancher schwafelte gar ohne Widerspruch in Politik und Medien von den vor allem durch die Flucht und in den Ländern erlernten lebenspraktischen Fähigkeiten, die den langsam sehr liberal und oder satt und müde gewordenen Deutschen fehlen würden.

Mit Ellenbogen und Risikobereitschaft sich über Berge und durchs Meer zu kämpfen, um Essen zu kämpfen und Plätze in Zügen zu erboxen, Zäune zu durchbrechen, Züge abbremsen, wenn einem die Richtung nicht passt, Pässe wegwerfen, sich nicht registrieren lassen als Qualifikationen für die digitale Wirtschaft und Industrie 4.0? Was für Macho-Bilder und umgedrehter Rassismus dahinter steckten, hat kein Journalist in den letzten Monaten hinterfragt.

Nun die Exzesse, die massenhaften Übergriffe gegen Frauen, auch ohne die Droge Alkohol in Köln, Hamburg, Stuttgart und wohl auch Berlin - ein Aufschrei, der Tage zu spät kam. Dass man in der Lage nicht vor allem an genauere Analysen der Polizei und Kriminalbeamten, an Verbesserung des Rechts oder der Rechtsumsetzung denkt und vor allem daran, wie den Betroffenen geholfen werden kann, und dass man statt dessen die verstörenden Ereignisse entweder für weitere Hetze gegen Migranten oder für Polemik gegen diese Hetze verwendet, womit man zur Polarisierung beiträgt, irritiert und enttäuscht mich.

Muss ich mich daran gewöhnen, dass Missstände wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo - so Frau Zekri in der SZ - oder in Bussen wie in Mexiko jetzt einfach mit der Globalisierung erklärt werden, gegen die man sich nicht wehren könne? Da halte ich es eher mit der New York Times (hier) und Beobachtungen aus England und Frankreich in den dortigen seriösen Medien, dass viele deutsche Politiker wohl doch zu verkrampft mit den Problemen der Integration umgehen und sich angewöhnt haben, jeden Kritiker der Flüchtlingspolitik oder einiger Migrantenmilieus gleich in die rechte Ecke und die des Rassismus zu stellen.

Es gab Sprachregelungen bei den Grünen, merkte ich bei den ersten Stellungnahmen von Volker Beck (hier), Claudia Roth (hier) und anderen. Merkwürdigerweise verwiesen sie wie auch die Integrationsbeauftragte von Frau Merkel verharmlosend auf das Oktoberfest und den Karneval. War es "nur" allgemeiner Sexismus wie bei deutschen Männern üblich und und überhaupt kein neues und erschreckendes Phänomen - wie es die Autorinnen des #ausnahmslos-Aufrufs darstellen (mehr dazu hier)? Mit Jungmännerbanden oder Macho-Clans bei einem Teil der Migranten oder Flüchtlinge hatte es nichts zu tun? Da fand ich Justizminister Maas, der gleich eine Assoziation an die organisierte Kriminalität hatte, realistischer und ehrlicher als die Damen der Grünen oder den Zentralrat der Muslime und all die, die die Zahl der Opfer und die klare Tatsache, dass die Täter überwiegend aus Nordafrika stammen, bis heute herunterspielen. Jungmännerbanden müssen sich nicht erst ständig auf Facebook absprechen, wenn sie eh die gleiche Mentalität und die selben Absichten haben.

Wie kommt es, dass weder Politiker noch Medien ausgerechnet in Köln die Redaktion und Kompetenz der Emma sofort einbezogen haben, die seit 1979 (mehr hier) zum Thema nachdenkt und schreibt? Meint man etwa wie der Alice Schwarzer diffamierende Daniel Bax von der taz, dass diese wegen ihrer Kritik an der Burka und an reaktionären Formen des Islam eine Rechtspopulistin sei? Sie ist von der Mehrheit der Zeitungen und Medien einfach nicht als Expertin befragt worden. Statt dessen redeten bei ZDF und ARD nach tagelangem Schweigen der Anstalten unerfahrene junge Frauen und männliche Politologen, die zu Rassismus arbeiten.

Letzte Woche dann bei Maischberger endlich wurde eine Emma-Journalistin, natürlich nicht die wohl als Bedrohung wahrgenommene starke Alice eingeladen. Diese saß klug und klar und feingliedrig neben dem raumgreifenden Herrn Mazyek, der beinah sogar seinen Arm um sie legte und mal wieder so tat, als vertrete er alle Muslime. Entsprechend ergriffen hörten ihm alle bis auf die Feministin zu. Und natürlich haben die Exzesse der jungen Muslime aus Nordafrika nichts mit dem Islam zu tun. Das Problem ist nie der Islam, sondern immer nur der angebliche Generalverdacht gegen die Muslime, als ob Pegida schon von siebzig Prozent der Deutschen gewählt werden würde.

Bei Herrn Prantls Kommentaren zu den Männer-Exzessen hat man den Eindruck, er nimmt an, die SZ wird von AfD und Pegida gelesen, und die sollen jetzt durch heftige Polemik bekehrt werden. Wieso interessiert der Missbrauch des Ereignisses durch Internetmilieus mehr als Hilfe und Verständnis für die Betroffenen und eine angemessene Ausrüstung der Polizei. Und eine angemessene Reaktion der Justiz, wie sie Kirsten Heisig lange eingeklagt hat? Viel zu lange haben ja liberale Medien und Wissenschaftler gemeint, eine Strategie gegen die Vorurteile von Sarrazin und der rechten Szene sei es, bei Verbrechen und Beleidigungen die Nachnamen der Täterinnen nicht zu nennen und die Nationalität oder Religion, entsprechend dem Pressekodex zu verunklaren. Ich glaube kaum, dass Schönrednerei gegenüber Problemgruppen unter den Migranten und Flüchtlingen zum Abbau von falschen Vorurteilen dient.

Ich war nach der seichten Neujahrsrede von Frau Merkel, die wieder alle beruhigen sollte, mit den ersten Nachrichten aus Köln eher betroffen im alten Sinne des Wortes, ich hatte es geahnt, aber nicht schon für Silvester und so massiv. Es ging mir sehr nah, da ich mir die Situation der betroffenen Frauen und ihre Sprachlosigkeit, ihr Gefühl der verletzten Integrität und Würde, die Mischung von Wut und Ohnmacht, die tagelang andauert, die in die Nacht, in den Schlaf mit hineingeht und in die Beziehungen zu andern Menschen, vorstellen kann. Ich gehöre zu den alten Feministinnen aus der Zeit, als die Courage und die Emma in Köln 1977 gegründet wurden und habe mich lange und gründlich mit dem Thema Selbstbestimmung von Frauen und Schutz ihrer Würde und ihrer seelischen und körperlichen Integrität beschäftigt, später auch mit den Massenvergewaltigungen im Krieg in Bosnien und im Kongo, mit der Lage der Frauen in Afghanistan, in Ägypten, in Tunesien, wo ich seit Jahren zu Frauengruppen Kontakt halte und medica mondiale schon 1992 mitgegründet habe.

Es wäre doch schön, wenn alle, die sich jetzt aufregen über die Instrumentalisierung der Gewalterfahrungen der über 600 Frauen aus Köln allein, und die, die nun alle Flüchtlinge für die Ausschreitungen verantwortlich machen wollen, in einen Opferfonds einzahlen, damit die Frauen sich Beratung und Trost holen können!

Hat sich jemand in den Medien bisher mal vorgestellt, wie es ist, sich gegen Männer zu wehren, die die eigene Sprache nicht sprechen, sich Hilfe zu holen, wo man als Frau nur von fremden Männern umkreist ist, die sich an keine Regel halten wollen? Wie man die erfahrene Belästigung, Beleidigung und Gewalt überhaupt bei der Polizei anzeigen soll, wo Frau voll unter Schock steht und selbst noch nicht begreift, was ihr passiert ist, wie auch einige ihrer Begleiter, wie man am besten aus Ohnmacht und Scham und Wut herauskommt, um nach Hause fahren und sich erholen zu können von dem Schreck und Trauma?

Recht werden sie nicht erhalten, da der Strafbestand erst geändert werden muss und vor allem die Täter weitgehend nicht fotografiert oder verhaftet und festgehalten wurden und jetzt festgestellt werden können. Das Mindeste, was die leider immer mehr polarisierten Seiten in der Flüchtlingsdebatte gemeinsam erkennen sollten in Solidarität mit den Frauen und auch mit hilflosen, überforderten Polizisten und Anwohnern wäre, die ungeheuerliche Anstrengung und die konkreten Probleme der Integrationsarbeit und des Schutzes von Frauen und Mädchen zu erkennen und sich dafür im Alltag konkret überall einzusetzen.

Frauen haben ihre Ehre ohne Kopftuchund ohne jede männliche Begleitung!

Was Respekt gegenüber Frauen und Mädchen bedeutet, das können die jungen Flüchtlinge im Fernsehen oder gar dem Internet nicht lernen und leider auch nicht in vielen Moscheen. Das müssen wir wie vieles, was wir unter Anstand, gegenseitigem Respekt, Freundlichkeit, Vertrauen, Solidarität und Liberalität verstehen, in zig Alltagssituationen bei Festen und in der U-Bahn, in der Nachbarschaft, in viele Sprachen und Gesten durchbuchstabieren und es muss eingeübt werden, wozu auch eine Menge mehr gut bezahltes Personal bei Polizei, Justiz, Verwaltung und Bildungswesen gehört. Eine gute Aufklärung der Ereignisse in Köln und Hamburg wie über den Attentäter aus dem Asylheim in Recklinghausen ist wesentlich dafür und auch Debatten über kriminelle Clans.

Wie erklären unsere Kulturinstitutionen und Literaturfeste und Universitäten den "Neuen", wie Frau Künast und Käßmann sie gern vereinfachend nennen, die modernen Sitten liberaler Kreise in Deutschland, die Homoehe, die ja bis in die CDU hinein vertreten wird, Religionsfreiheiten,Religionskritik auch gegenüber dem Islam? Zu Eheproblemen und Problemen der Kindererziehung, Generationskonflikten, Sexualität, Pubertät, Formen modernen Christen- und Judentums und eines liberalen Islam steht nichts in Deutschkursbüchern. Sind sie Thema in Integrationskursen?

Selbst die "Lindenstraße" ist ja ein Kulturschock für die meisten Muslime, die zu uns geflüchtet sind. Allgemeine Erklärungen von Frau Merkel und eine Politik, die sich damit begnügt zu sagen, bei uns gelte das Grundgesetz, helfen überhaupt nicht weiter. Das haben die Schrecken von Köln ja eben während der Neujahrsansprache der Kanzlerin gezeigt.

Eva Quistorp