Essay

Die tschechische Interpretation des Kommunismus

Von Martin M. Simecka
10.12.2008. Die Kundera-Generation hat sich zwar mit den Verbrechen des Kommunismus auseinandergesetzt, aber nur in fiktionalisierter Weise. Der Banalität des Bösen hat sie sich nicht gestellt. Dieses Modell ist mit der Kundera-Affäre zerbrochen.
(Wir übernehmen diesen Essay mit freundlicher Genehmigung aus der tschechischen Zeitschrift Respekt. D.Red.)

In dem Sturm, den der Artikel "Der Verrat des Milan Kundera" (hier die englische Übersetzung) in Respekt auslöste, war eine Stimme am lautesten und klarsten zu hören: Es war die Stimme der tschechischen Schriftsteller und Intellektuellen, die um 1930 geboren sind, die Generation meines Vaters. Sie teilen eine gemeinsame Geschichte und haben einen Einfluss auf die tschechische Gesellschaft, der in Zentraleuropa beispiellos ist. Sie haben entscheidenden Einfluss auch auf mein Denken - und, durch meinen Vater - auf mein ganzes Leben ausgeübt. Heute finde ich mich zu meiner großen Überraschung in einen Streit mit dieser Generation verwickelt. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Von all den widerstreitenden Ansichten in dieser Debatte haben mich am meisten die "Rundumverteidigung" (wie im Titel eines Buchs meines Vaters, "Kruhova obrana") Milan Kunderas durch die Generation meines Vaters überrascht und die Argumente, mit denen er unterstützt wurde. Das hat mir die Vergangenheit - meine eigene eingeschlossen - in einer neuen Persepektve gezeigt.

Auch mein Vater Milan Simecka, der Milan Kundera gut kannte, war ein überzeugter Kommunist in den frühen Fünfzigern und ein Reformkommunist in den Sechzigern. Der russische Einmarsch 1968 verwandelte ihn in einen Dissidenten, einen einflussreichen Schriftsteller und Philosophen. In den letzten dreißig Jahren seines Lebens, bis zu seinem Tod 1990, widmete er seine ganze intellektuelle Energie der Analyse jenes Systems, dessen Entstehung er unterstützt hatte. Wir verbrachten hunderte, wenn nicht tausende Stunden mit Diskussionen über die Vergangenheit. Ich wurde Zeuge seiner quälenden Selbstbefragung und seiner Suche nach Antworten auf die Jaspersche Frage nach der Schuld. Ich war glücklich, dass er mir die Möglichkeit gab, auch ein Dissident zu werden, obwohl er immer dachte, dass er dafür zu tadeln sei. Im zarten Alter von 14 Jahren setzte mich das kommunistische Regime auf die Liste seiner Feinde und beraubte mich so der Möglichkeit, ein stiller und konformistischer Parteigänger zu werden, was ich anfänglich versucht hatte.

Ja, ich war glücklich, weil ich meinen Vater zu den regelmäßigen Treffen mit verbotenen tschechischen (und einigen slowakischen) Schriftstellern begleiten konnte. Es war eine bemerkenswerte Gesellschaft. Autoren wie Karel Pecka und Zdenek Rotrekel, die in den Fünzigern jahrelange Strafen im Gefängnis oder in den Uranminen verbüßt hatten, saßen Seite an Seite mit Autoren, deren Veröffentlichungen in jenen Jahren den Kommunismus glorifiziert hatten und denen ein privilegiertes Leben vorbestimmt schien. Mit Staunen verfolgte ich Diskussionen, die oft von Peckas Vorwürfen angestoßen wurden: Ihr habt das System unterstützt, das mich und tausende andere ins Gefängnis geworfen hat. Ihr wolltet nicht wissen. Ihr wart blind und taub, weil ihr es sein wolltet.

Damals dachte ich, er sei zu hart in seinem Urteil. Schließlich hatten auch sie ihre Strafe erhalten - in Form von Publikationsverboten. Sie gaben ihre Fehler zu. Ihr Schreiben war geprägt vom Gefühl der Schuld und einige, wie mein Vater, mussten sogar ins Gefängnis. Sie hatten die Charta 77 zusammengestellt und unterschrieben, sie repräsentierten das Ethos der Universalität der Menschenrechte und der Unteilbarkeit der Freiheit. Warum sollte man sie jetzt büßen lassen? Wozu diese moralische Überlegenheit der Opfer, ein Gefühl, auf das ich zugegebenermaßen nicht scharf war?

Es ist kein Zufall, dass diese Diskussionen immer nach Mitternacht begannen, nach vielen Gläsern Wein. Es war wie ein Alptraum, in dem man wohl gehütete Geheimnisse plötzlich preisgibt. Diese Debatten waren erschütternd, aber auch aufregend. Sie waren wie ein Theaterstück über einen Prozess, in dem das Verbrechen nicht im Handeln, sondern im Denken und Schreiben lag. Seine Teilnehmer suchten nach Gründen für die moralischen und intellektuellen Fehler der angeklagten Autoren, und man war allgemein der Ansicht, dass sie sich durch ihre späteren Schriften, die so viel besser waren als die Werke ihrer Jugend, von ihrer Schuld entlastet hatten.

Aber was, wenn es außer dem intellektuellen noch eine andere Art von Versagen gibt? Konnte ein junger Kommunist unter dem Regime in den frühen Fünfzigern mitmachen, ohne das Leben anderer Menschen zu beeinflussen, einfach durch sein Dabeisein, das Dinge einschloss wie die Hand bei Parteitreffen zu heben? Diese Frage wurde in den Diskussionen damals nie gestellt, nicht einmal von dem sonst so unermüdlich bohrenden Karel Pecka. Im Zusammenhang mit der Kundera-Debate ist mir klar geworden, dass auch ich diese Frage meinem Vater nie gestellt habe. Zum Beispiel habe ich ihn nie gefragt, ob er je daran beteiligt war, einen Studenten von der Universität zu verweisen. Ich habe ihn auch deshalb nie gefragt, weil ich zu jener Zeit noch nicht bereit war für eine Antwort.

Genau so fühlt sich heute ein großer Teil der tschechischen Gesellschaft. Verglichen mit anderen Ländern war die Position der Kommunistischen Partei in der Tschecheslowakei sehr stark. Teilweise deshalb repräsentierte die Generation meines Vaters die einzige geschichtliche Bahn, der die Tschechen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts folgten. Anders als in Polen, wo kommunistische Intellektuelle immer natürliche Konkurrenz hatten, etwa durch katholische Denker, und wo am Ende alle Wege in die "Solidarnosc" mündeten. Anders als in Ungarn, wo es nach 1956 für diese Generation keinen Platz gab, vor allem nicht unter Kadars mildem Regime. Und anders als in der Slowakei, wo Schriftsteller und Intellektuelle sich in die Gleichschaltung fügten.

In der Tschechischen Republik gab es keine wirkliche Alternative zur Interpretation der Vergangenheit durch diese Generation. Sie kam der Gesellschaft gelegen, sie erlaubte ihr, mit der Vergangenheit abzuschließen und ihre Helden - vor allem die Schriftsteller - in guter alter tschechischer Tradition weiter zu verehren. Ein Ergebnis der tschechischen Interpretation des Kommunismus ist die weitverbreitete Überzeugung, dass das kommunistische Regime vor allem ein raffinierter Einkerkerer des Geistes war, dass es die Gesellschaft jahrzehntelang vergiftet hat mit seiner Verachtung für die Freiheit, dass es die freien Gedanken und die Literatur zerstört hat. Obwohl diese Interpretation, die auf einem die menschlichen Seelen attackierenden Orwellschen Konzept des Totalitarismus beruht, ganz richtig ist, lässt sie nicht viel Raum für die Geschichte des "banalen Bösen". Es waren Schriftsteller, die es auf sich nahmen, diese schreckliche Praxis in ihren Romanen zu interpretieren. Mehr als alles andere ist Milan Kunderas Verteidigung eine Verteidigung der ästhetischen Interpretation der Geschichte, die nicht gestört werden soll durch peinliche Details, die die banale, unliterarische Seite des Lebens zeigen.

Die Kundera-Affäre ist explosiv, weil sie die Dominanz dieser Generation zerstört, die mit Hilfe der Literatur die Vergangenheit in wahrerem Licht zeigen wollte als das Leben selbst es mit seinen banalen und beschämenden Wahrheiten konnte, repräsentiert zum Beispiel durch ein krudes Polizeidokument, wonach ein Herr Kundera einen Herrn Dvoracek verraten hat. In der tschechischen Gesellschaft hat literarische Fiktion wirksam die realen Erinnerungen ersetzt, die niemand hören wollte, damals nicht und heute auch nicht. Übrigens waren gerade Kunderas Romane besonders erfolgreich in der Erfüllung dieser Aufgabe der Literatur.

Es ist nicht leicht, den Kommunismus in der Tschechischen Republik anders als im Geiste und mit den Begriffen der ästhetischen literarischen Interpretation zu diskutieren. Wenn man es versucht, wird man sofort der Besessenheit bezichtigt, oder, um Adam Michniks Worte zu gebrauchen, des bolschewistischen Antikommunismus. 1996, bei der Geburtstagsfeier Vaclav Havels, sah ich Karel Pecka allein an eine Säule gelehnt stehen. Als ich ihn fragte, was er da so ganz allein mache, antwortete er mit einem grimmigen Lächeln: "Ich warte auf die Kommunisten. Sie werden zurückkommen." Damals hielt ich diese Worte für einen traurigen Beweis seiner antikommunistischen Obsession. Heute lese ich sie als traurigen Beweis für die Einsamkeit eines Mannes, dessen Erinnerungen andere sind als die der Mehrheit der Tschechen. Das macht seine Stimme praktisch unhörbar, aber es gilt als schlechter Ton in der Tschechischen Republik, die einfache und peinliche Wahrheit auszusprechen: dass es seine Zeitgenossen sind, Kundera und meinen Vater eingeschlossen, die dafür verantwortlich sind, dass diese Stimme zum Schweigen gebracht wurde.

Das Gedächtnis der tschechischen Mehrheit hat keinen Platz für Parallelen zwischen Nazismus und Kommunismus. Sie glaubt, man könne Krieg nicht mit Frieden vergleichen, weil eine nekrophile Idee von deutscher Überlegenheit nicht verglichen werden könne mit der Idee materieller Gleichheit, die im Grunde doch etwas Nobles habe (der Grund, warum so viele Schriftsteller in ihrer Jugend daran glaubten). Aber indem sie die Geschichte ihrer kommunistischen Vergangenheit wegstoßen, berauben sie die Tschechen vielleicht eines wichtigen Teils ihres intellektuellen und literarischen Erbes. Das ist alles verständlich, vor allem weil die Erinnerungen an den Kommunismus in seiner letzten Phase eher ein Gefühl leichter Nostalgie hervorrufen als Horror. Doch diese Art der Erinnerung ist trügerisch. Für Karel Pecka und tausende andere war das Leben in den Gefängnissen der Fünfziger Krieg, nicht Frieden. Und es machte keinen Unterschied für sie, ob der ideologische Hass, der sie ins Gefängnis schickte, durch Rassen- oder Klassenmerkmale motiviert war.

Paradoxerweise ist es die Generation, die mit der Charta 77 versucht hat, den Widerwillen der tschechischen Gesellschaft zu überwinden, den Kommunismus als totalitäres Regime zu begreifen, die heute leidenschaftlich gegen die Veröffentlichung eines Polizeidokuments protestiert. Dvoracek war ein politischer Gefangener, dessen Geschichte die ganze Schändlichkeit der Fünfziger offenbart, in die sich Kunderas Denunziation auf schockierende, aber logische Weise einfügt. Ich wurde mit der Charta 77 groß, die Vorstellung der Autoren und Unterzeichner von der Universalität der Menschenrechte und der Unteilbarkeit der Freiheit wurden Teil meines Seins. Die Wochenzeitschrift Respekt, deren Redakteur ich bin, führt die Experimente ihrer eigenen Generation aus den 70ern und 80ern fort, als Realität und literarische Fiktion endlich getrennt wurden. Die von der Charta 77 und VONS (Kommittee zur Verteidigung ungerechterweise Angeklagter) veröffentlichten Dokumente waren ein sehr viel mächtigeres Zeugnis von der Natur des Kommunismus als die besten Samizdat-Romane.

Der Generationenstreit über die Interpretation der Geschichte, vor allem der Geschichte der Fünfziger, schwelte lange unter der Oberfläche, und ich selbst habe seine Existenz geleugnet. Die leidenschaftliche Diskussion, ausgelöst durch den zufälligen Fund eines Polizeidokuments und die persönliche Geschichte, die es ans Licht brachte, hat gezeigt, wie tief die Wurzeln dieses Streits liegen und wie fundamental er ist. Es ist ein Streit darüber, ob man das "banale Böse" (Denunziation war davon ein wesentlicher Bestandteil) als etwas behandeln sollte, das - unabhängig vom historischen Kontext - in sich selbst böse ist, oder nicht. Es ist ein Streit darüber, ob wir unsere Geschichte als abgeschlossenes Kapitel ansehen, für das nur eine endgültige Interpretation gilt oder ob wir darin nach dem Schlüssel für unsere eigene Freiheit suchen sollten, um auszuschließen, dass wir in der Zukunft andere Dvoraceks ins Gefängnis schicken. Es geht darum, sicherzustellen, dass wir in einem zukünftigen historischen Kontext nicht die nächste Generation von Schuldigen sein werden.

Martin M. Simecka

*

Ein Dossier zur Kundera-Affäre finden Sie hier.