Essay

Eigenes Leben

Von Ulf Erdmann Ziegler
05.01.2015. Seine Soziologie blickte auf etwas, das vorher wohl übersehen worden war: die Ambivalenz. Schicksal und Willen. Zwang und Entkommen. Eine persönliche Erinnerung an Ulrich Beck
Als ich Ulrich Beck traf, war er jünger als ich jetzt. Er hatte diesen schwärmerischen Blick, dieses protestantische Leuchten, und tatsächlich haben seine Gegner in ihn etwas Naives hineingelesen. Mir schien das nicht so. Seine Soziologie blickte auf etwas, das vorher wohl übersehen worden war: die Ambivalenz. Schicksal und Willen. Zwang und Entkommen. Das war keine Kopfgeburt.

Was wir vorhatten, war riskant: eine Soziologie in Beispielen aufleben zu lassen. Da war der Fotograf Timm Rautert, der gesagt hatte: Doch, diese Leute mit ihren disparaten Lebensentwürfen und ritualisierten Kompromissen, die kenne ich. Da können wir gleich anfangen. Und ich, noch bei der taz, war plötzlich im Boot, als Autor der "Biografien" einer Ausstellung, die auch ein Buch ergeben würde. Es wurde, na klar, viel schwieriger als gedacht, aber dafür habe ich die Zeitung damals verlassen. Zwischendrin brach ich mir einen Fuß. All das hätte auch schiefgehen können.

Beck fuhr selbst ein hohes Risiko. Er war noch in Bamberg, als wir anfingen, und dann in München, wo das Projekt auch entstand. Er hatte mir einen biografischen Fragebogen mitgegeben, den ich versuchte anzuwenden. Bald kam der Punkt, wo ich ihm erklären musste, dass ich all diese Geschichten freihändig würde finden können und aufschreiben müssen. Seine Kollegen sagten: Bei dir piept"s wohl, Individualisierung ist deine stärkste These, und du gibst die theoretischen Zügel aus der Hand? In Wirklichkeit behielt er ein scharfes Auge auf meine Texte, er zog und zog, bis die Form gefunden war.

Wir hatten den letzten Zipfel einer Ära erwischt, in der für stolze Firmen Sponsoring im großen Stil normal war, sogar für intellektuelle Projekte wie hier bei der Bayerischen Rück. Den besten Draht zum Vorstand hatte ein Philosophieprofessor namens Wilhelm Vossenkuhl, der zum Buch das Nachwort beisteuerte. Die Versicherungsleute hatten sich taktvoll zurückgezogen, als wir zusammenkamen, um unsere Texte zu besprechen, und der Fotograf war verspätet. Wir waren also zu dritt. Vossenkuhl hatte sich für einen Ton entschieden, der irgendwo zwischen satirisch und frivol lag, und jemand musste ihm sagen, dass das nicht passte. Beck überließ es mir, aber verbreitete jene positive Atmosphäre akademischer Konstruktivität, für die er international berühmt werden sollte.

Inzwischen hatten im Vorstand der Versicherung die Mathematiker übernommen, die natürlich schnell errechneten, dass Becks Begriff von "Risiko" sich mit ihrem nicht deckte. Sie versuchten, unser Vorhaben auf Prospektformat zusammenzustampfen, aber Beck und Vossenkuhl hielten entschieden dagegen. Schließlich ging die Ausstellung sogar noch auf Reise mit dem Goethe-Institut.

Als Rezensionen zu unserem Buch erschienen ("Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben", C.H.Beck 1995), wurde mir schlagartig klar, was Ulrich Beck auf sich zog: Die Verachtung und die Häme der dialektischen Durchblicker, und die etwas zu rührende Zuwendung von Leuten, die in der Schilderung eines Lebensentwurfs immer gleich den Ratschlag finden. So begriff ich das Antiideologische seiner Sorte von Aufklärung.

Das war für mich Ulrich Beck. Ein genuines Medium. Ohne seine überaus freundliche Art, Soziologie wirklich werden zu lassen, wäre ich heute vermutlich nicht da, wo ich bin. Das meinte er, glaube ich, mit "Zukunft". Dass er an einem ersten Januar gestorben ist, kann kein Zufall sein.

Ulf Erdmann Ziegler

Ulf Erdmann Ziegler, Schriftsteller, lebt in Frankfurt am Main. 2014 erschien bei Suhrkamp "Und jetzt du, Orlando!" (Roman).
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