Essay

Und was ist mit Oak Island?

Von Ulli Kulke
08.03.2010. Judith Schalanskys schöner "Atlas der abgelegenen Inseln" erzeugt eine Mischung aus Fernweh und Grauen. Dabei fehlen noch ein paar einsame Flecken auf der Weltkarte.
Judith Schalansky:
Atlas der abgelegenen Inseln
Marebuchverlag, Hamburg 2009, Gebunden, 144 Seiten, 34,00 EUR
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Länger als 30 Kilometer dürfen sie in ihrer Nord-Süd-Richtung nicht sein. Und die Breite, ihre Ost-West-Ausdehnung, kann 20 Kilometer nicht überschreiten. Alles, was größer wäre als dieses Rechteck, passt einfach nicht in Judith Schalanskys Buch. 50 kleine Welten stellt die Grafikerin und Autorin in ihrem bemerkenswerten Buch vor: "Atlas der abgelegenen Inseln", allesamt im selben Maßstab, und eine Seite bildet da eben 30 mal 20 Kilometer ab, mehr nicht.

In fast allen Fällen indes sehen wir fast nur Wasser auf den Seiten. Ozean, Hochsee, Wasserwüste. Meist mit nur einem einzigen, winzigen Fleck in der Mitte, vielleicht drei, vier Quadratkilometer groß. Er allerdings tritt dann wundersam plastisch gezeichnet hervor, Hügel, Küsten, Kraterränder, Atollringe, kleine Dörfchen, ab und zu auch ein Flughafen. Inseln eben. Keine Trauminseln, um die geht es hier gar nicht, nicht um Tahiti. Sondern um Süd-Thule und all die anderen vergessenen Eilande, die niemand kennt, weil niemand hinkommt, sich niemand für sie interessiert, obwohl sie so viel zu erzählen haben. Die meisten von ihnen ganze Romane, Dramen, Räuberpistolen. Ferne Welten, die denkbar fernsten, und die kleinsten. Schalansky formatiert ihre Geschichten jeweils auf eine Zweidrittelseite, auf die gegenüberliegende, ebenso streng schematisch wie die Karten-Abbildungen der Inseln. Wenn auch luftig, spielerisch im Inhalt. "Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde", lautet der Untertitel auf dem Buchdeckel.



(eine Doppelseite aus dem Buch)


Schalansky hat ein Gesamtkunstwerk hingelegt. In einer Person als Gestalterin, Illustratorin, Autorin, Produzentin von ihrem Werk über eine der pittoreskesten Angelegenheit der globalen Geografie, die sie uns ausgerechnet mit ihrer Ästhetik des Minimalismus nahe bringt. Es sind jene Orte, die, wenn überhaupt, so nur auf den größeren Weltkarten als Punkte erscheinen. An den Stellen inmitten der Ozeane, wo niemand eine Insel erwartet. Die alleräußersten Gipfel der sechs-, achttausend Meter hohen Gebirge, die vom Meeresboden aufsteigen, auf denen dann die Menschen wohnen. Oder auch nicht, weil sie längst von ihnen abgehauen sind.

Pitcairn (offizielle Website) ist so ein Fall. Hier wohnten vor gut 200 Jahren die Helden des bekanntesten Dramas der Christlichen Seefahrt (und heute noch ihre Nachfahren), von dem viele gar nicht wissen, dass es tatsächlich geschah: Die Meuterei auf der Bounty. Sie metzelten sich nieder. Die Autorin erzählt uns von Marlon Brando, wie er in seiner Rolle als Meuterer-Häuptling Fletcher Christian, ja als sterbender Schwan, den Heldentod erleidet auf Pitcairn, und entführt uns zwischen ihren mageren 25 Zeilen unweigerlich, fast hypnotisch in diesen Traum von Fluch und Paradies.

Oder St. Kilda (mehr hier), die geheimnisvolle, längst verlassene Insel vor den äußeren Hebriden, wo Schalansky uns aus den 16 Ruinen der hundert Jahre alten Geisterstadt einen dokumentierten, aber ungeklärten Kindstod in vielen Dutzend Fällen schauerlich angrinsen lässt. Oder Tristan da Cunha (neueste Nachricht auf der offiziellen Website: "SV Concordia lost at sea en route to Tristan da Cunha - crew all safe") dann ganz am anderen Ende des Atlantik, wo Menschen wiederum erst vor 100 Jahren auf die Idee kamen, in diese Unwirtlichkeit zu ziehen. Aus strategischen Gründen und sicher nicht deswegen, weil sie Gottfried Schnabels sagenhafter "Felsenburg" so sehr gleicht - schade eigentlich. Oder eben jenes Süd-Thule, wohin gewiss niemals jemand ziehen wird; das im antarktischen Meer wie der letzte, stecknadelkopfgroße Rest des Südkontinents liegt, nach dem James Cook seinerzeit suchen sollte, weil ansonsten die Erdkugel eine Unwucht in ihrer Drehung hätte, wie die Wissenschaftler im fernen London damals meinten.

Ab und zu sind auch bekanntere Eilande unter der Aufzählung der abgelegenen 50, die Osterinsel zum Beispiel. Vielleicht ja auch nur deswegen, weil uns Schalansky zeigen will, dass auch diese Insel auf jeden Fall zu denen gehört, zu denen sie gewiss nie hinreisen will.

Weil, was immer hinter dem Geheimnis dieses leergeholzten Felsplateaus im Südpazifik mit seinen finsteren Steinskulpturen stehen mag, es nur maßlos deprimierend sein kann. Kleine, abgelegene Inseln bergen Abgründe von Depressionen und Depressionsgefahren in sich. Nicht zufällig sah und sieht man bis zum heutigen Tage in vielen Fällen vermeintlicher tropischer Paradiese keinen anderen Weg als das Alkoholverbot. So wie man es in den nordischen Ländern der allzulangen Polarnacht mit prohibitiven Alkoholsteuern versucht. Die Autorin vermag es vielfach, ganz ohne Augenzwinkern aber mit subtilem Schauer, uns in diesen Strudel mit hinab zu nehmen.

Immer wieder geht es um den Tod auf der Insel. Und manchmal auch um Wiederauferstehung. Zum Beispiel auf St. Helena (offizielle Website), wo man Napoleon abholte. "Der Kaiser kehrt heim", schließt sie ihr Helena-"Kapitel" - nachdem er verstorben und schon begraben war. Dieses Mal ja tatsächlich friedlicher, und ohne anschließendes Waterloo, wie es nach Elba der Fall war. Im Tod sozusagen geläutert und dann zu Unsterblichkeit gelangt auf ferner, abgelegener Insel. Der große Kaiser auf dem winzigen Flecken inmitten des Atlantik.

Nichts wird endgültig geklärt, über keine der Inseln. Ein enzyklopädischer Anspruch steckt nicht hinter den 20 bis 30 Zeilen kurzen Schilderungen der Einzelfälle, nichts weniger als das. Aber gerade der Fokus auf nur eine Begebenheit in der Insel-Biografie, die subtile, aber irgendwie deutliche Botschaft, dass da jedesmal noch ganz andere Geschichten dahinter stehen, lässt das Buch unter die Haut gehen. Dabei wäre dieser Ansatz des pars pro toto ja auch auszuweiten auf den Gesamtblick. Gibt es doch noch viele weitere 50 abgelegene Inseln, die 50 mal 50 Geschichten erzählen könnten.

Wer bei dem Buch Blut leckt über Schauergeschichten auf einsamen Inseln, der darf sich selbst auf die Suche nach den anderen begeben. Was ist mit dem einsamen Suwarrow-Atoll inmitten des Pazifik, der äußersten der äußeren Cook-Inseln, auf der im 17. Jahrhundert schon menschliche Knochen gefunden wurden, aber auch ein unermesslicher Schatz, der anschließend wieder in der Versenkung verschwand? Eine Insel, auf der sich moderne Robisonaden abspielten. Robert Dean Frisbie lebte dort im Krieg jahrelang allein als Marinebeobachter. Tom Neale tat es ihm später nach, der dann - damals noch ohne Satelliten-Handy oder Funk - wochenlang mit einem Bandscheibenvorfall einsam gequält mit seinen Hühnern fristete, bevor er zufällig von einem Pazifik-Einhandsegler gerettet wurde.

Und was ist mit Oak Island, jener Insel vor der kanadischen Atlantik-Küste, deren zwei alte Bewohner die Autorin, selbst wenn sie nun doch mal hinfahren wollte, todsicher abweisen würden. Sie sitzen nämlich seit Jahren auf einem Schatz, irgendwo in der Tiefe, wahrscheinlich unhebbar. In 20 Metern fand man Balken, in 40 eine menschliche Hand, in 60 Metern kunstvoll kanalisierte Abflüsse ins Meer - und alles soll aus dem frühen 18.Jahrhundert stammen. Oder Palmerston, auch eine Cook-Insel, die vor 300 Jahren ein Patriarch namens Marsters besiedelte mit drei Frauen, um drei Stammlinien zu gründen, die heute noch Bestand haben. Überraschend gesund zwar, aber mit allen einschlägigen gesellschaftlichen Verfänglichkeiten der Abgeschiedenheit.

Inseln, abgelegene zumal, haben uns schon immer fasziniert und als Topos für die großen gesellschaftlichen Würfe gedient. Große Erzähler wie Paul Theroux haben sich ihrem Topos verschrieben. Sie haben - als Gewürzinseln - jahrhunderte lang die Weltgeschichte bestimmt, dienen - als Atlantis zum Beispiel - als Menetekel für den Weltuntergang, wecken - als künstliche Inseln - die Phantasien von Philosophen wie auch das Begehr von Möchtegern-Despoten. Wer heute meint, der Ferntourismus habe sie alle erschlossen und alle weißen Flecken auf dem Gobus getilgt, habe jede einzelne, letzte Insel in die Kataloge und so quasi zu uns ins Wohnzimmer geholt, der täuscht sich. Wer dies nicht glaubt, der stöbere in Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln."

Ulli Kulke