Fotolot

Der große Gulli-Deckel

Über Bilder, Bände und Sites Von Thierry Chervel
18.04.2016. Ulrich Wüst fotografierte die DDR unmittelbar vor dem Mauerfall, Stefan Koppelkamm unmittelbar danach und dann nochmal mit Abstand. Zwei Meditationen über deutsche Geschichte.
Fotolot-Newsletter abonnieren
Eine der Fragen, die ich Ulrich Wüst am 19. April gerne stellen würde, wäre, ob er 1989 schon wusste, dass 1989 ist. Morgen spricht Wüst im C/O Berlin über seine Leporellos und Berlin- und DDR-Bilder, die dort ausgestellt sind, und über den Katalog mit dem suggestiven Titel "Später Sommer / Letzter Herbst". Als hätte er's gewusst!




Wüst arbeitet schon lange mit Leporellos. Sie ermöglichen es, Fotos einen anderen Rhythmus zu geben als etwa die Nebeneinanderhängung in der Ausstellung oder die Seitenabfolge in Büchern. Leporellos sind panoramatisch, geben Bildern Fluss. Manche Leporellos zeigen dann auch Momentaufnahmen einer Auto- oder Zugfahrt durch die graue graue DDR. Seine Bilder stehen in dieser Tradition: sehr grau, nüchtern, nie ganz weiß, nie ganz schwarz, also manchmal ungefähr so trübe, wie man die DDR in Erinnerung hat. Großartig sind die Leipzig-Fotos, die der Katalog nicht als leporelloartige Abfolge von Bildern, sondern einzeln präsentiert werden. Die Straßen sind immer nass, die Häuser so grau, dass sie nun doch fast schwarz sind.

In der "Oktober"-Serie spürt man den historischen Moment. Wieder wie in einem Panorama, als wären sie in von einem Autofenster aus aufgenommen, zeigt sie die Spaliere für die Parade zum vierzigsten Jahrestag der DDR. Unfreiwillig komisch, ja seherisch - sicher ohne dass sich Wüst das in diesem Moment ausmalte - der große Gulli-Deckel vor den im Gleichschritt paradierenden Beinen der paradierenden Volkssoldaten: Genau, dahin sind sie verschwunden.

In der Ausstellung sind auch einige frühere Bilder Wüsts zu sehen. Er war Architekt. Seit 1984 arbeitete er als freier Fotograf. Mit großer Beiläufigkeit registrierte er den Zustand. Meistens ist viel Platz auf den Fotos. Manchmal sieht man Häuserreihen, in denen ein älteres Haus, eingerahmt von noch etwas stabileren Exemplaren, den letzten Atemzug zu tun scheint. Nirgends gibt es in Wüsts Fotos eine Spur des offiziell verlangten Optimismus.

Es ist eine schöne Koinzidenz, dass Stefan Koppelkamm im Leipziger Museum der bildenden Künste gleichzeitig ausstellt. Auch er ein Fotograf von Häusern und von Architektur. Während Wüsts Fotos an die Grenze zum Kratzigen, Verrauschten und Beiläufigen gehen und auf den ersten Blick mit Amateuraufnahmen verwechselt werden könnten, haben Koppelkamms Bilder von vornherein etwas schärfer Artikuliertes, auf ein größeres Format hin gedachtes.

Dokumentaristen sind sie beide. Aber vielleicht wäre Wüst eher ein Beobachter des Kontexts und Koppelkamm einer, der fokussiert.




Koppelkamms grandiose Idee war zugleich eine der grundlegendsten (und häufig zur Schönung gedachten) Erzählweisen der Fotografie: vorher nachher. Er fotografierte in Berlin und anderen Städten der Ex-DDR nach dem Mauerfall bestimmte Häuser - einige zeichenhafte, andere wie willkürlich herausgegriffen. Und fotografierte sie im Abstand von zehn Jahren und mehr aus exakt der selben Kamerapostion nochmal.

Darin liegt die ganze Geschichte dieser Häuser - und die ganze deutsche Geschichte seit 1989. Wie von der Geschichte übriggelassen, ja ausgespuckt, wirkten die Häuser nach 1989. Heute sind sie allesamt (naja, fast!) wärmegedämmt. Aber sind sie auch bewohnt?

Thierry Chervel

Ulrich Wüst
: "Stadtbilder / Spätsommer/ Randlagen" Ausstellung im C/O Berlin, bis 24. April. Katalog: Ulrich Wüst: "Später Sommer / Letzter Herbst". Mit einem Text von Felix Hoffmann. Gestaltet von Naroska Design. Festeinband. 27 x 21 cm, 96 Seiten, 66 Duplexabbildungen, Deutsch/Englisch. 39,90 Euro, Heidelberg 2016. Bestellen über Perlentaucher bei buecher.de.

Stefan Koppelkamm: "Häuser Räume Stimmen", Ausstellung im Museum der Bildenden Künste Leipzig, bis 26. Mai. Katalog: Stefan Koppelkamm: Häuser Räume Stimmen. Texte von Arnold Bartetzky, Bernadette Dufrêne, Valentin Groebner, Annett Gröschner, Hans-Werner Schmidt, Ines Weizman. Deutsch, Englisch.
2016. Hatje Cantz Verlag, 207 Seiten, 115 Abbildungen, 21,00 x 30,60 cm, gebunden mit Schutzumschlag. 35 Euro. Bestellen über Perlentaucher bei buecher.de.