Fotolot

Die Botschaft ist das Medium

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
21.09.2020. Roger Eberhards Band "Human Territoriality" über Grenzzäune, Migration und den Kampf um natürliche Ressourcen und Damian Heinischs "45" über eine Zugreise, die den Migrationswegen seiner Familie nachfährt, gewinnen Bedeutung nur über den Kontext, den sie illustrieren. Anders die Fotografien von Julia Steinigeweg, die den Punkt suchen, an dem das Virtuelle und das Reale ineinander übergehen.
Fotolot-Newsletter abonnieren
Blättert man die Kataloge der Verlage durch, hat sich seit dem Einbruch von Corona ins alltägliche Leben in Bezug auf das Fotobuch eher wenig getan, was jedoch nur bedingt mit Corona zusammenhängt, da die Planungen in den Verlagen lange im Voraus gemacht werden (mit Pufferzonen für Aktuelles oder Lukratives). Zwei Bücher der letzten Monate können stellvertretend für das Meiste stehen: untadelig, ohne das Fotoherz jedoch wirklich schneller schlagen zu lassen.

Da wäre zuerst Roger Eberhards bei Patrick Frey erschienenes Buch "Human Territoriality", ausgewählte Werke davon waren gerade in der Galerie Robert Morat zu sehen. Die Aktualität des Themas - Grenzzäune, die errichtet werden; Migration, die Staatsgrenzen überwindet; Grenzstreitigkeiten, entfacht durch den Kampf um Wasser und den profitablen Abbau natürlicher Ressourcen - hat dafür gesorgt, dass die Arbeit nicht nur im deutschsprachigen Raum umfassend besprochen wurde.

Leider Gottes halten die Fotos nicht, was der Text verspricht. Eberhards Fotos würden, so heißt es, "die prinzipielle Instabilität menschlicher Grenzziehungen enthüllen". Auf den Fotos sieht man eine Wüstenlandschaft, eine Tankstelle, einen Sex-Shop, einen Palmenhain, zumeist schmucklos und frontal fotografiert. Ohne den Kontext enthüllen diese Fotos jedoch gar nichts, und wenn man den Kontext dann hat, wirken sie eher wie Illustrationen.

© Roger Eberhard, Galerie Robert Morat


Aus der historischen Tiefe der New Topographics um Stephen Shore kommend, hatte man kurz die Hoffnung, dass sich die zahllosen Bücher dieser Art der letzten vierzig Jahre mit Thomas Struths "Unconsciuos Places" oder "Nature and Politics" langsam mal erschöpft haben könnten oder sich zumindest mit der ästhetischen Dichte und narrativen Weite von Nadav Kanders "Yangtze - The long River" auseinandersetzen würden... aber nein, die Karawane zieht weiter. Eberhards Anliegen ist hochaktuell - aber wenn man nicht wüsste, dass er bereits gut zehn Bücher veröffentlicht hat, könnte man "Human Territoriality" auch für die lobenswerte Abschlussarbeit eines Studenten an einer Hochschule halten.

Hayahisa Tomiyasu etwa hat kurz nach seinem Abschluss in Leipzig den MACK First Book Award 2018 gewonnen. In seinem viel beachteten Buch "TTP" fotografierte er von seiner Studentenbude aus in immer derselben Einstellung (er war Meisterschüler bei Peter Piller) die Vorgänge um eine Tischtennisplatte und dokumentierte dabei die unglaubliche Entdeckung, dass Leute von unterschiedlicher Herkunft, Geschlecht und Alter die Platte nicht nur fürs Tischtennis nutzen, sondern auch, um sich darauf hinzulegen oder Flaschen darauf abzustellen. Manchmal finden sogar Tiere ihren Weg auf die Platte - Dinge, die man sich zum Beispiel in Berlin Kreuzberg bis dahin nicht hätte vorstellen können. Roger Eberhard hat 2016 ein ähnlich mitreißendes Projekt verwirklicht: "Standard", in dem er Zimmer der Standard-Klasse von Hilton Hotels in zweiunddreißig Ländern sowie die Aussicht daraus fotografierte.






Roger Eberhard: Human Territoriality. 116 Seiten 24 x 33 cm, Hard Cover. Verlag Patrick Frey, Zürich 2020, 60 Euro. ISBN: 978-3907236000

(Bestellen bei eichendorff21)

++++++++++++++++++++++++++

Indem wir diesen Haken geschlagen haben, sind wir nun beim zweiten Buch, das wiederum den MACK First Book Award 2020 gewonnen hat: Damian Heinischs "45".

Auch hier setzt sich die Ästhetik der Hochschul-Abschlussarbeit fort - Heinisch ist jedoch bereits 52 und unterrichtet seit 2003 selbst. Vom seriellen Konzept her würde Heinisch gut nach Leipzig passen, und wenn er fünfundzwanzig Jahre jünger wäre, wäre "45" ein interessantes Werk, das für die Zukunft hoffen lässt.

Das British Journal of Photography, nebenher eine Haus- und Hofpostille des Londoner MACK Verlags, geht in der Besprechung des First Book Award nicht ein einziges Mal auf Heinischs Fotos ein. Stattdessen gibt es Kontext satt: "1945 verschwindet Heinischs Großvater. Alles, was von seinem Leben bleibt, ist ein Tagebuch, in dem er Eindrücke der Zugreise von Gliwice in Schlesien/Polen ins Arbeitslager nach Debalzewe/Ukraine schildert (...). Dreiunddreißig Jahre später und nach einer Phase langer Arbeitslosigkeit entschied sich Heinischs Vater, Gliwice zu verlassen und ein neues Leben in Westdeutschland zu beginnen. Veranlasst von dieser Familiengeschichte aufgezwungener Migration, machte sich Heinisch selbst auf die Reise von Gliwice nach Oslo, deren Resultat das Fotobuch '45' ist."

Hört sich eigentlich recht interessant an.

© Damian Heinisch, MACK

Was dann im Buch folgt, sind ausschließlich durchs geschlossene Fenster des Zugabteils geschossene Fotos. Man sieht: Männer, die sich am Bahnsteig unterhalten; Frauen, die in Wiedersehensfreude die Arme ausbreiten; einen Waldrand in der Ferne; eine Industrieanlage; Schnee; ein Mädchen mit dunkler Daunenjacke, das die Kapuze ins Gesicht gezogen hat; ein Mädchen in pinkem Sweatshirt mit Handy in der Hand; ein Stück Straße mit Schlaglöchern.

Fotobücher dieser Art, in der die Fotos das Narrativ gewissermaßen nur noch begleiten, stellen Marshall Mc Luhans Formel "The Medium is the Message" gewissermaßen auf den Kopf: "The Message is the Medium".

Eine Anmerkung Heinischs lautet: "Es scheint, dass Europa seine Wunden nach dem Zweiten Weltkrieg geheilt hat. Länder wurden wieder aufgebaut, neue Gesellschaften entwickelt. Aber ein Gefühl der Schande wurde von Generation zu Generation weitergegeben und beeinflusste unser tägliches Leben und unsere Entscheidungen."

Auch wenn ich Respekt habe vor Heinischs Motivation und die farbige, den Lichtverhältnissen geschuldete Körnigkeit der Fotoserie definitiv einen ästhetischen Reiz ausübt, kann ich nicht erkennen, welchen (noch dazu für die Öffentlichkeit bestimmten) Mehrwert die Fotos Heinischs Familiengeschichte oder der europäischen Nachkriegsgeschichte per se hinzufügen.






Damian Heinisch: 45. 190 Seiten, Soft Cover. MACK, London 2020, 30 Euro. ISBN: 978-1912339757

+++++++++++++++++++++++++

Nun zu etwas Erfreulichem: Das Werk der jungen Fotografin Julia Steinigeweg.

Im Alter von gerade mal neunundzwanzig Jahren debütierte sie 2016 bei Peperoni Books mit "Ein verwirrendes Potenzial", eine Arbeit über Menschen, die mit Puppen als Partnern leben, gleich, ob sie ihnen die Frau oder das Kind ersetzen. Der Titel bezieht sich darauf, wie Menschen leblose Objekte projektiv als Surrogate lebendiger Menschen akzeptieren und dementsprechend behandeln - man kann ihn jedoch auch auf Steinigewegs Potenzial als Fotografin anwenden, von dem ihr Verleger Hannes Wanderer - der nun wirklich schon viel gesehen hatte - beeindruckt war: "Bilder von der ungeheuren Dimension der Einsamkeit und dem verzweifelten Versuch, sie zu überwinden. Genau 21 Bilder, aber was für welche, in einem radikal gestalteten Buch."

Singuläre Positionen haben es in der der deutschen Fotoszene schwer - Steinigewegs Talent ist aber schlicht zu eindeutig, um es zu übergehen, weshalb sie heute mit fotojournalistischen Beiträgen regelmäßig in der Zeit oder dem SZ-Magazin vertreten ist. Ihre Fotos darin haben jedoch alles andere als ein verwirrendes Potenzial, wirken im Vergleich geradezu brav und bedienen damit das risikoscheue Kuschelbedürfnis dieser Formate und eines Großteils ihrer Leser*innen. Von irgendwas muss frau ja schließlich leben.

© Julia Steinigeweg, Kerber Verlag

In ihrem neuen Buch "I think I saw her blink" geht Steinigeweg Gott sei dank andere Wege und knüpft an "Ein verwirrendes Potenzial" an. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Tatsache, dass Nadia Magnenat Thalmann, eine Schweizer Roboterspezialistin und Direktorin des Instituts für Medieninnovation in Singapur, einen ihr äußerlich nachempfundenen Roboter namens "Nadine" gebaut hat, der mit Menschen sprechen und mimetisch interagieren kann, etwa, in dem er lächelt oder blinzelt - was Steinigeweg die Möglichkeit gibt, von den leblosen Puppen zu den belebten Maschinen und Mischwesen überzugehen, von denen keiner sagen kann, ob sie nicht irgendwann wie in "Terminator" oder "Blade Runner" ein Bewusstsein und ein unkontrollierbares Eigenleben entwickeln.

Interessant ist dabei die von Steinigeweg gewählte düstere, unterbelichtete Ästhetik, in der die Grenze zwischen Realität und Virtualität verschwimmt. Fotos von Gebäuden und Straßen könnten auch in einem Videospiel aufgenommen worden sein, in denen Spieler statt mit einer Pumpgun mit einem Smartphone unterwegs sind und Fotos machen. Eingebürgert hat sich das durch das Kultspiel Grand Theft Auto (GTA) bereits 2013, seither ist diese Funktion in anderen Spielen übernommen worden. Der Fotograf Alan Butler hat das in GTA konsequent verfolgt, seine virtuellen Expeditionen werden unregelmäßig auf Twitch.tv übertragen und vom Fotomuseum Winterthur präsentiert. In "I think I saw her blink" umreißt Steinigeweg den zivilisatorischen Punkt, an dem das Virtuelle und das Reale, das Maschinelle und das Organische ineinander übergehen.

Auch wenn "I think I saw her blink" nicht dieselbe Sogwirkung entfaltet wie "Ein verwirrendes Potenzial": Wer sich für die deutsche Gegenwartsfotografie abseits großteils ausgetretener Pfade interessiert, kommt an Steinigeweg nicht vorbei. Man darf - wie bei der etwa gleich alten Louisa Clement (hier der Essay über Clement im Fotolot), die auch an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine arbeitet - gespannt sein, wohin die Reise geht.




Julia Steinigeweg: I Think I saw her blink. 68 Seiten, 24 x27 cm, Hard Cover. Kerber Verlag, Bielefeld 2020, 24 Euro. ISBN 9783735606594


(Bestellen bei eichendorff21)

+++++++++++++++++++++

Zum Schluss etwas in eigener Sache: Am Wochenende des 24. und 25. Oktober wird es - so es die pandemische Situation zulässt - im von Rolf Scheider geleiteten Berlin Creative Space eine, Theorie und Praxis vereinende Lecture mit mir zum Thema "Körper" (mit anwesendem Modell) geben. Die Teilnehmerzahl ist aufgrund von Corona beschränkt, die Kosten betragen 280 Euro. Grundkenntnisse der Fotografie (Umgang mit Verschlusszeit, Blende etc.) werden vorausgesetzt. Ziel der Lecture ist es herauszufinden, wie der individuelle Zugang zum Körper aussehen und künstlerisch gestaltet werden könnte.

Die Veranstaltungen im BCS laufen (unpersönlich) über die Eventbrite-Schiene. Wer verbindliches Interesse hat, kann sich per Email persönlich bei mir (an-)melden.

© P. T.

Peter Truschner truschner.fotolot@perlentaucher.de