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Irritierend lebendig

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
08.10.2019. Ann Massal greift überwiegend nicht auf eigene Fotos zurück, sondern meist auf solche, die sie gefunden, gesammelt oder einfach irgendwo herausgerissen hat, als sich die Gelegenheit bot. Diese Fotos verfremdet sie mit unterschiedlichen Techniken - und Ergebnissen von drastischer Buntheit.
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Das Cover von Ann Massals Buch "The Eye of the Cyclops" zieht den Blick auf sich. Es zeigt das Profil eines bläulich schimmernden, vom Körper abgetrennten und gehäuteten Tierkopfs, vermutlich ein Widder. Frappant dabei ist das Auge, das irritierend lebendig wirkt, und argwöhnisch den Blick desjenigen zu erwidern scheint, der den Kopf betrachtet. Vielleicht der eingefrorene Blick auf seinen Schlächter unmittelbar vor der Schlachtung.


Ann Massal - The Eye Of The Cyclops from Kehrer Verlag Heidelberg on Vimeo.



Das ansonsten pinkfarbene Plastik-Cover ist zudem mit einem Loch versehen, das sich auf jedem der tausend Exemplare der ersten Auflage an anderer Stelle befindet, und von Massal eigenhändig angefertigt wurde.

Das Cover gibt  - auch wenn  nicht alle Bilder seine verstörende Intensität erreichen - einen Hinweis auf Massals sich im Buch entfaltenden, pointierten, spielerischen sowie farbenfrohen Zugang. Die Fotos kreisen allgemein und zugleich sehr subjektiv um die Kluft zwischen dem von der Beauty Industrie genährten Wunsch nach der Perfektibilität des eigenen, möglichst schönen Körpers sowie dem animalischen Ursprung der Triebe und Begierden.

Massal weiß nur zu gut über die sowohl disziplinierende als auch zerstörerische Kraft von Körpernormen Bescheid. 1977 in Paris geboren, hat sie nach einem Studium Werbung und Marketing fünfzehn Jahre für L'Oreal gearbeitet und war am Ende Leiterin der Marketingabteilung von "The Body Shop". 2015 bis 2017 absolvierte sie schließlich an der von JH Engström in Schweden und Frankreich betriebenen Fotoschule "Atelier Smedsby" einen zweijährigen Workshop, dessen Resultat das vorliegende Buch ist. Auszüge daraus wurden schon 2016 bei der Fotobiennale in Seoul gezeigt, der Dummy war 2018 auf der Short List für den Dummy Award Kassel.

Spiel mit der Farbe. Foto aus dem besprochenen Band. Copyright: Anne Massal und Kehrer Verlag. 

Zum Glück weisen die Arbeiten nur wenig Ähnlichkeit mit dem Interview auf, das ein Autor namens Angelo Cirimele mit ihr geführt hat, über den es im Internet unter anderem heißt, er sei ein "trained philosopher", und der brisante Fragen stellt wie: "Ist der Köper dazu verurteilt, zu verfallen, während ein Bild immer glatt und schön bleibt?"

Schon in der ersten Spalte der ersten Seite des Interviews streifen beide alles, was Kurator*innen auf ihrer Diskurs-Einkaufsliste gleich positiv abhaken können: Female Gaze. Body Positivity. Schönheitsnormen. Posthumane Lebensformen. Roboter. Instagram. Kim Kardashian. Der unvollkommene Körper. Sexualität. Pornografie. Tod.

Der unmittelbare Impuls, das Buch sofort in eine Ecke zu pfeffern, unterbleibt deshalb, weil das Interview zum Glück am Ende des Buches, und nicht am Anfang steht. Die Fotos, die man bis dahin gesehen hat, verhandeln natürlich auch jene Dinge, über die Massal im Interview spricht: aber ohne jeden Fingerzeig, ohne jede Eindeutigkeit, ohne jede demonstrative, diskursive Bezugnahme.

Massal greift überwiegend nicht auf eigene Fotos zurück, sondern meist auf solche, die sie gefunden, gesammelt oder einfach irgendwo herausgerissen hat, als sich die Gelegenheit bot. Eine unerschöpfliche Quelle dieser Sammelleidenschaft, die sie im Buch zu miteinander verbundenen Narrativen verknüpft, ist zum Beispiel ein nur Sammlern zugänglicher und fast ausschließlich von Männern frequentierter Sexshop in Paris. Diesem hat Massal die meisten der zahlreichen Fotos nackter Männer sowie Nahaufnahmen ihrer Penisse, ihrer Hoden und ihrer Brusthaare entnommen. Wobei der erigierte, bei der Penetration von Mann und Frau abgelichtete Penis wie im richtigen Leben auch auf dem Foto mehr her macht, als das verschmierte, faltige Schrumpeltierchen, zu dem er danach wird.

© Ann Massal, Kehrer Vrlag.jpg
Aber um genau diese nicht wirklich ästhetischen oder im herkömmlichen Sinn schönen Momente und Zustände geht es Massal - auch, wenn sie Tiere, Gemüse, rohes Fleisch oder einfach nur Formationen aus Dunst und Wolken zeigt. Momente der Rohheit, Derbheit, ja, Hässlichkeit, die zugleich das allergrößte sexuelle und emotionale Glück versinnbildlichen und bedeuten können.

Hervorzuheben ist - neben der gelungenen Verdichtung des (vermutlich aus einer Unmenge) gewählten Materials - Massals Spiel mit der Farbe. Die Bilder sind mit unterschiedlichen Färbe-, Tropf-, Bleich- und Schnitttechniken bearbeitet - manchmal ist es einfach nur roter Nagellack, den Massal wie zufällig und doch präzise über einen fotografierten männlichen Körper tropfen und trocknen lässt. Neben der Verwendung sexueller, teils intuitiv irgendwie als schmutzig einzustufender Bilder wird das Buch auch auf dieser Ebene zu einem Anschauungsunterricht für junge Fotograf*innen, unter denen viele angetreten sind, die Flächigkeit der Fotografie aufzubrechen, sie in unterschiedlicher Weise vor, während und nach der Aufnahme in die haptische Dreidimensionalität der bildenden Kunst zu überführen: Übermalungen. Collagen. Skulpturen. Installationen.

Große Stilsicherheit bei der Montage prekären Materials sowie bei der farbintensiven Nachbearbeitung sind vielversprechende Voraussetzungen. Man darf gespannt sein, wie es nach diesem ersten Wurf bei Ann Massal weiter geht.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de

Ann Massal: The Eye of the Cyclops. 144 Seiten, 24 x 32 cm. Softcover, Kehrer Verlag, Heidelberg 2019, 29,90 Euro. ISBN: 978-3-86828-924-4 . (Bestellen bei buecher.de)