Fotolot

Vom Kopf auf die Füße

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
14.01.2022. Katrin Jaquet, Fred Hüning, Manuela Braunmüller, Antonia Gruber: Einige neue Positionen der Fotografie in Deutschland, die anzuschauen sich lohnt.
Fotolot-Newsletter abonnieren
Das Fotolot ist als Kolumne für Gegenwartsfotografie konzipiert und dabei überwiegend dem künstlerischen Spektrum verpflichtet. Nach Art eines Trüffelschweins nehme ich mir dabei die Freiheit, nach dem zu suchen, das mir als besonders lohnenswert erscheint. Zwar schreibe ich auch mal eine berechtigte Hymne auf ein Buch über Gary Winogrand oder verreiße ein anderes über Walker Evans. Prinzipiell verorte ich mein essayistisches Schreiben nicht anders als meine Romane jedoch in der Gegenwart.

Wer das bedenkt und sich einigermaßen mit der Materie auskennt, wird nachvollziehen können, dass es manchmal nicht einfach ist, etwas zu finden, das einen begeistert. Zu ähnlich sind verschiedene Ansätze, zu klar erkennt man historische Vorbilder oder die Absicht, Trends und Zeitgeistnarrativen zuzuarbeiten. Und ja, vieles ist (mir) einfach zu vordergründig und zu wenig komplex. (Und nein, nur weil man sich eines analogen "Michael Ackerman Retro Styles" bedient oder von "Post-Fotografie" faselt, werden die Dinge nicht automatisch komplexer.)

Manchmal versuche ich, das Dilemma polemisch zu übertünchen. Gemessen an den Emails, die ich bekomme, sind Beiträge dieser Art bei den LeserInnen besonders beliebt. Aber auch wenn gewisse KuratorInnen und KünstlerInnen es sich verdient hätten, dass man ihnen rhetorisch immer wieder mal einen kleinen Tritt verpasst, möchte ich das Fotolot nicht zu einem Zentralorgan für Kulturbetriebspolemik werden lassen.

Was also machen? Das innere Trüffelschwein dazu zwingen, Seitenwege zu gehen, nicht immer nur strikt der eigenen Nase nach. So kann es passieren, dass man auf außergewöhnliche Positionen stößt, die im Betriebsrauschen wenn auch nicht untergehen, so doch vielleicht (noch) nicht ganz die ihnen gebührende Aufmerksamkeit bekommen.

Vom 14. Januar bis zum 6. Februar zeigt das Berliner Künstlerhaus Bethanien die Ausstellung "neg" von Katrin Jaquet. Nach dem Tod ihrer Mutter hat sie deren chronologisch geordnete und etwa hundert Jahre bis zur Urgroßmutter zurückführende Fotoalben durchforstet und dabei festgestellt, dass die Bilder ausschließlich Szenen aus dem Leben einer glücklichen Familie zeigen - nicht einmal Momente der Enttäuschung oder Langeweile gibt es. Negative älteren Datums sind mit der Zeit verloren gegangen. Jaquet rekonstruierte sie digital, überlagerte damit Positive jüngeren Datums und erzeugte vielschichtige Bilder von ästhetischer Gebrochenheit und psychologischer Ambivalenz, die die Flieh- und Zugkräfte zum Ausdruck bringen, denen eine Familiengeschichte ausgesetzt ist.

© Katrin Jaquet






















1971 in Rendsburg geboren, kehrt Jaquet damit zu ihren Wurzeln und einer ihrer besten Arbeiten zurück. Schon in ihrer Abschlussarbeit 1998 an der Kieler Hochschule - "Mama I-III" - steht die Familie im Mittelpunkt, dabei vor allem die Person der Mutter. Bereits damals arbeitet Jaquet mit Schichten und Überlagerungen. In der Serie "Mama I" projiziert sie Dias des Gesichts ihrer Mutter auf ihr eigenes Gesicht. "Mama II" ist das Ergebnis eines performativen Aktes: Sie projiziert Fotos aus ihrer Kindheit an die Wand, geht physisch-körperlich in sie hinein - teils nur als Schatten oder gespenstisches Volumen -, schlüpft in die Rolle verschiedener Personen und fotografiert sich dabei selbst.

Die Verfremdung wirft dabei immer auch die Frage auf, inwieweit das Bild von der Kindheit von vermeintlich objektiven, starren Bildern oder subjektiven, wandelbaren Erinnerungen geprägt ist.

Bei "Mama III" werden Bilder der Kindheit durch den weit aufgerissenen Mund in Jaquets Mundhöhle projiziert, durch die Rundung des Gaumens entsteht der Eindruck einer biografischen Schneekugel. Konzeptuell und visuell großartig! Ich musste spontan an Francis Bacons "Heads" denken, von denen Mark Stevens sagt: "Es ist, als würde man in eine Höhle gehen und das wilde Tier riechen, bevor man es sieht." Eine Singularität auch in Jaquets Oeuvre, das an sich von großer Feinmotorik geprägt ist.

Zur Ausstellung erscheint in einer Auflage von dreihundert  Exemplaren das von der Buchkunst Berlin - Verlegerin Ana Druga gestaltete, 118 Seiten starke Buch "Revisions", das einen Überblick über Jaquets Schaffen bietet.

Fred Hüning ist FreundInnen der Fotografie vor allem durch das bei Peperoni Books erschienene Buch "One Circle" bekannt - ein Buch, das Wellen über Deutschland hinaus geschlagen hat. Fotos daraus hingen etwa in der Londoner Photographer's Gallery, das Buch wurde vom Time Magazine unter die Top Ten des Jahres gewählt. Und das völlig zurecht: Bis heute ist es das visuell wohl intensivste Buch über eine Paar-Beziehung sowie die Geburt und das Heranwachsen eines gemeinsamen Kindes. Zu verdanken hat Hüning das auch seiner Partnerin Karoline, die mit der Selbstverständlichkeit einer französischen Filmschauspielerin der siebziger Jahre großteils nackt vor der Kamera agiert.

1966 geboren, findet Hüning spät zur Fotografie und gehört dem ersten Jahrgang der 2004 gegründeten Ostkreuzschule für Fotografie an. Aus einem bürgerlichen Beruf kommend, verkörpert er jene Sorte immer seltener werdender AutodidaktInnen, die kein Label bedienen wollen, sondern einfach dem nachgehen, was sie gerade interessiert.

2015 verfremdet und rekontextualisiert er im Fotobuch "Private Rooms" von UserInnen privat hochgeladene Sex Pics auf Youporn. Daneben gibt es immer wieder Kostproben seines trockenen, norddeutschen Humors, etwa, wenn er für die Wochenendausgabe der taz die "Berliner Stadtberge" fotografiert.

Mit einer Mittelformatkamera überrascht er 2020 im Schloss Neuhardenberg mit klassisch schönen Fotos von Pferden. Alles in allem das Gegenteil des bei KuratorInnen wie Publikum gleichermaßen beliebten Abspulens des Immergleichen, wie es etwa Tobias Zielony oder Thomas Demand seit Jahr(zehnt)en erfolgreich praktizieren.

© Fred Hüning





























In der aktuellen Ausstellung der Kommunalen Galerie Charlottenburg mit dem leider nervigen Titel "Hi how are you" ist Hüning nun ein Coup gelungen. Mit auf drei Quadrate verteilten sechsunddreißig Fotos bezieht er sich in figurativen Variationen der drei Primärfarben auf Barnett Newmans legendäres Bild "Who's Afraid of Red, Yellow, and Blue?" aus den Jahren 1966 bis 1970. Auch an Ellsworth Kelly muss man unwillkürlich denken, wenn man vor Hünings Quadraten steht.

Aber Hüning huldigt diesen Meistern der Monochromie nicht nur, er ironisiert und dekonstruiert sie zugleich. KünstlerInnen nachfolgender Generationen wie Cecily Brown berichteten von der einschüchternden, geradezu sakralen Aura, die Newman, Kelly oder auch Mark Rothko umgab. Kein Wunder, dass Kelly und Rothko am Ende für ihr Werk konzipierte Kapellen ausstatteten. Hüning entzieht jedem hieratischen Budenzauber den Boden, indem er auf banale Materialien wie Spülhandschuhe und Plastikflaschen zurückgreift.

Was Marx bierernst mit Hegel gemacht zu haben glaubte, macht Hüning augenzwinkernd mit Newman und Kelly: Er stellt sie vom Kopf auf die Füße. Amüsant und brillant. Unbedingt anschauen.

Unbedingt anschauen muss man sich, wenn man vor Ort ist, auch die in künstlerischer Hinsicht größte Überraschung der Ausstellung, für mich im Alterssegment unter dreißig Jahren die größte des Jahres überhaupt: Manuela Braunmüllers "One Chicken" (2021). Auf 144, als dichtes, großes Rechteck angelegten Fotografien hat sie alle Knochen eines Hühnerskeletts im fotografischen Gestus der Produktfotografie mit der Kamera festgehalten.

Anders als Jaquet oder Hüning, die ihr Können schon öfter gezeigt haben, ist die 1993 geborene Braunmüller erst mit dem unprätenziösen, dabei präzis recherchierten Film "Cow's Milk" (2018) aufgefallen, der die industrielle Verwertung all dessen dokumentiert, was sich von der Besamung bis zur Schlachtung aus einer Kuh profitorientiert gewinnen lässt. Dazu gibt es noch Fotos von Küken, nachdem sie geschlüpft sind, und weiße Federn, die in Hühnerblut treiben.

Nichts, erst recht nicht Braunmüllers unspektakulärer Insta-Account, deutete auf einen solchen konzeptuellen Wurf hin, wie er mit "One Chicken" nun vorliegt. Die zarten, teils winzig kleinen Knochen vor pechschwarzem Hintergrund sind von einer zugleich strengen und schönen Klarheit, dass Philosophen des Wiener Kreises sich mit diesen Fotos ebenso wohl gefühlt hätten wie Sufi-Mystiker, die sich für gewöhnlich der Betrachtung des nächtlichen Sternenhimmels in der jordanischen Wüste hingeben. Eine herausragende Leistung.

© Manuela Braunmüller





















Schwer zu sagen, wie es mit Braunmüller weitergeht. In der Ernsthaftigkeit, wie sie sich für das Verhältnis von Mensch und Tier interessiert und für die Rechte der Tiere einsetzt, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass ihr die Mechanismen des deutschen Kunstbetriebs auf Dauer besonders zusagen. Aber vielleicht findet sich jemand, der dieses große Talent entsprechend zu fördern weiß.

Vom  24. Januar bis 20. Februar gibt es in der Kieler Werkstatt-Galerie von Rainer Gröschl Polaroids von Antonia Gruber zu sehen. Proben ihres Talents hat Gruber - wie Braunmüller Jahrgang 1993 - bereits mehrfach abgegeben. Aus Nylon, Holz und Glas fertigte sie 2019 eindrückliche Objekte aus Nylonstrumpfhosen, die ihr Frauen gaben, die Opfer sexueller Übergriffe wurden.

In der Serie "TTC" nimmt sie analoge Manipulationen an digitalen Porträts vor und thematisiert dabei die Fragilität der Identität sowie die Dissonanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Ein Prozess, den sie 2019 in "Advertising" erweitert, einer Collage aus prothetisch zusammengefügten menschlichen (Gesichtern, Gliedmaßen) sowie nichtmenschlichen (Tieren, Früchten, Messern und Spritzen) Bestandteilen.

In [ˈzɛlpstpɔrtrɛː] von 2020 zeigt sie 494 verwischte Polaroids in Schwarzweiß: In langen Reihen in gleichen Abständen unter und nebeneinander hängende Fotos, Fragmente einer Frau, die Gruber zugleich ist und nicht ist. Die Fotos von sich selbst nahm sie wie einst Francesca Woodman im Atelier auf, wobei sie Wert darauf legt, dass sie für sich selbst Modell steht, und nicht sich selbst oder ihren Gemütszustand darstellt.

Gruber kennt offensichtlich die aktuellen Diskurse - von #metoo und male/female gaze bis zum Aufbrechen von Geschlechterrollen -, illustriert sie jedoch nicht, sondern macht sie sich zu eigen und interpretiert sie. In [ˈzɛlpstpɔrtrɛː] können die einzelnen Fotos auch für sich selbst stehen, müssen keine klare Botschaft produzieren, sodass das Ergebnis streng ist und geschlossen, aber auch sinnlich und offen. Wenn man den Blick rasch schweifen lässt, geraten die Bilder in Bewegung und werden wieder zu der Performance, der sie entstammen.

Alles bis hierhin Erreichte bündelte sich in der Ausstellung "Bipolaroid Disorder", die Gruber 2021 im Zuge des Kölner Photoszene Festivals realisiert hat.

Nach Jahren intensiver Arbeit als Studentin, Praktikantin, Dozentin und Projektleiterin gelingt Gruber - man kann das nicht anders sagen - ein erstes Meisterwerk. 1591 Polaroids ihrer Performance ordnet sie an einer großen Wand und an den darum gruppierten Stelen an. Von einer gewissen Entfernung betrachtet, von der linken auf die rechte Seite wechselnd und schließlich in der Mitte landend, formen die Fotos riesige Gesichter. Dieser Effekt ist von Gruber gewollt, und wer auf ihrem Insta-Account die mit ihrer Kollegin Annika Hoffmann geleistete Sisyphus-Arbeit verfolgt, die nötig war, ihn zu erreichen, weiß, warum Gruber schreibt: "Schweiß und Tränen haben sich gelohnt."

© Antonia Gruber



















Das haben sie tatsächlich.

Ausgehend davon, dass auch ich natürlich nicht alles kenne, obwohl ich mir genug Bücher und Ausstellungen anschaue, dazu ungefragt unzählige Links und PDFs zugeschickt bekomme: Angesichts dieser mit "Bipolaroid Disorder" erreichten inhaltlichen und handwerklichen Konsequenz; dieser Akribie und Disziplin; dieses Spiels mit dem Raum; dieser nun erlangten Balance zwischen Ordnung und Offenheit ist Antonia Gruber auf dem von ihr besetzten Gebiet mit das größte fotokünstlerische Talent unter dreißig Jahren im deutschsprachigen Raum.

Sollte es noch den einen oder die andere dieses Rangs geben, die mir entgangen sind, wäre mir das im Sinne der Gegenwartsfotografie nur recht.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de