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Betäubt vor Frittenbuden

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
21.04.2022. Es gibt eine Flut von neuen Fotobüchern über die achtziger Jahre in Deutschland. Mal grau in grau, mal farbig. Man könnte lange meditieren, warum wir diese Zeit so lieben. Oder man greift eines dieser Bücher heraus: Enno Kaufholds "St. Pauli. Fotografien 1975 - 1985". Für uns sind die Fotos neu: Respekt zollen muss man Kaufholds Entscheidung, die Fotos über Jahrzehnte unter Verschluss zu halten, um die Persönlichkeitsrechte der Abgebildeten zu wahren.
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Gleichgültig, ob Osten oder Westen: die siebziger und achtziger Jahre boomen.

Vorne mit dabei etwa der Verlag Hartmann Books: Ulrich Wüst zeigt konzeptuell puristische "Stadtbilder" aus der DDR im Zeitraum von 1979 bis 1985. Fotos in feinsten Abstufungen von Grau, die Straßen, Plätze und Gebäude in Szene setzen, die zwar von Menschen errichtet wurden, jedoch leergefegt von ihnen sind.

In grobkörnigen Schwarzweiß-Bildern fängt Günter Steffen auf leeren Straßen und in Hinterhöfen die frühen Morgenstunden in Ostberlin zwischen 1984 und 1989 ein - "Die Hauptstadt" eben, mal düster und verhangen, mal im Licht der aufgehenden Sonne schimmernd.

Im Jahr "1986" bot sich Michael Kerstgens durch ein Stipendium die Gelegenheit, sich mit dem Freizeitverhalten der Westdeutschen zu beschäftigen. Er zeigt sie beim Wandern, beim Minigolfen, beim Sonnenbaden, in Autos, in Umkleidekabinen, im Freibad, auf dem Tennisplatz. Die Farbfotografien sind Dokumente einer unbedingten und trotz Kaltem Krieg, AIDS und Tschernobyl unbeschwerten Hingabe an die bundesrepublikanische Gegenwart.

Bei Steidl gibt es auf über vierhundert Seiten Harald Hauswalds inzwischen selbst Geschichte gewordenen Bilder aus dem prallen Menschenleben in Ostdeutschland zwischen Betrunkenen und Strammstehenden, knutschenden Pärchen und Fahnenschwingern - "Voll das Leben" eben.

Spector Books wiederum veröffentlichte Helga Paris' Kleinod "Leipzig Hauptbahnhof 1981/82" (für gerade mal zwanzig Euro!). Es zeigt Bahnangestellte, Toilettenfrauen, Kellner, Losverkäufer und Reisende, die ohne jede Hektik auf Züge warten oder einfach bei einem Bier im Bahnhofsrestaurant abhängen, wie das früher nicht unüblich war.

© Enno Kaufhold, Junius Verlag




















Man könnte Überlegungen anstellen, warum es seit ein paar Jahren zu einer derartigen Häufung von Ausstellungen und Büchern über jenen Zeitabschnitt kommt. Man könnte konkrete Anlässe heranziehen wie den dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls.
Man könnte mutmaßen, der heutige Blick auf die achtziger Jahre ist ein wehmütiger, da die Marktwirtschaft noch sozial war, der Klimawandel und das Artensterben trotz mahnender erster Stimmen noch weit weg schienen und die Sorgfaltspflicht im Umgang mit den Anliegen der ArbeitnehmerInnen in Händen eines Menschen wie Norbert Blüm lag.

Oder aber man nimmt die Position eines Aliens in ethnologischer Mission zur Erde ein, das bei näherer Betrachtung unweigerlich zu dem Schluss kommen muss, es handele sich beim Kulturbetrieb im deutschsprachigen Raum zwischen Bach, Brecht und Beuys um eine Art von vergangenheitslastigem Ahnenkult, der in Tempeln (Museen, Theater, Konzertsäle, ...) von dafür zuständigen PriesterInnen (KuratorInnen, RegisseurInnen, DirigentInnen, ...) zelebriert wird, und in den neunzig Prozent des gesamten Kulturetats fließen.

Wie auch immer.

Im Junius Verlag erschien nun ein ganz besonderes, fotografisches Zeitdokument: Enno Kaufholds "St. Pauli. Fotografien 1975 - 1985", das mit zweihundertzwanzig ganz- und doppelseitigen Schwarzweiß-Fotos geradezu spektakulär bebildert ist - Fotos, die bis jetzt noch nie zu sehen waren, da Kaufhold sie vierzig Jahre unter Verschluss hielt. Bis 13. Mai gibt es eine Auswahl davon zusammen mit St. Pauli-Bildern von Günter Zint noch in der Berliner Fotogalerie Friedrichshain zu sehen.

Die Dekade, die das Buch umfasst, beschreibt den Höhepunkt und den Niedergang des alten Sankt Pauli. Da es im Buch leider keinen Hinweis darauf gibt, hier ein kleiner historischer Abriss.

In den fünfziger und sechziger Jahren steigt Wilfried Schulz vom einfachen Hafenarbeiter zum allmächtigen Paten von Sankt Pauli auf, der die Reeperbahn, die Große Freiheit und die Herbertstraße kontrolliert. Schulz erschafft eine Parallelgesellschaft mit einer eigenen Gesetzgebung und mit sich selbst als höchstem Richter. Wer gegen den von ihm festgelegten Ehrenkodex verstößt, muss mit lebenslangem Sankt-Pauli-Verbot rechnen. Schusswaffen und Mord sind verpönt, Schulz kontrolliert das Ganze mit einer Bande von Boxern und Karatekämpfern.

Die vom Alkohol unterspülte Gewalt entlädt sich in den Lokalen und Musikkellern wie dem legendären "Star Club" in unzähligen Schlägereien, es fliegen die Fäuste, jedoch keine Messer oder Kugeln. Die Prostitution prägt das Straßenbild, findet in Hauseingängen und Hinterhöfen statt. Irgendwann hat die ansässige Bevölkerung genug davon, man einigt sich 1967 mit der Stadtverwaltung auf die Errichtung des "Eros Center", des größten Bordells Europas, in dem auf 2.600 Quadratmetern rund dreihundert Frauen Tag- und Nachschichten schieben.

Als Schulz sich vermehrt dem Geschäft mit Spielcasinos zuwendet und dort ein Vermögen mit manipulierten Roulettetischen macht, nutzen in den siebziger Jahren organisierte Banden von Zuhältern wie die "GMBH" und die "Nutella-Bande" das entstandene Vakuum. Nach dem Bau weiterer Großbordelle strömen aus ganz Deutschland Zuhälter und Prostituierte nach Hamburg, das Geschäft blüht wie noch nie, Kiezgrößen wie "der schöne Klaus" Barkowsky fahren im Lamborghini vor und residieren im Winter auf Gran Canaria.

© Enno Kaufhold, Junius Verlag


















In den achtziger Jahren verschlechtert sich die Stimmung zusehends.

Die Containerschiffe machen die Seeleute und Hafenarbeiter überflüssig, die Polizei intensiviert ihre Präsenz, Aids beginnt um sich zu greifen. Befeuert vom gerade aufkommenden Kokain werden die Auseinandersetzungen um die kleiner werdenden Pfründe rabiater und enden schließlich tödlich. Der Griff zur Schusswaffe wird alltäglich, der Berufskiller Mucki Pinzner bringt 1984/85 im Auftrag eines Zuhälters fünf Konkurrenten um - ein bis dahin beispielloser Vorbote jener strukturellen Brutalität, die nach dem Fall der Mauer mit dem Eindringen osteuropäischer Mafiabanden zur Geschäftsbasis wurde.

In Kaufholds Buch erkennt man, dass die Prostitution mit den Großbordellen nicht wirklich von der Straße verschwunden ist.
Man sieht, wie Anwohner, neugierige Jugendliche und Touristen mit dem Milieu ganz selbstverständlich verschmelzen. Die Prostituierten werden gezeigt, wie sie an eine Wand gelehnt oder auf einer Treppe sitzend auf Freier warten oder sich zwischen zwei Freiern ein Pause gönnen. Am eindrücklichsten dabei jene Szenen, in denen die Frauen es nicht für Wert befinden, sich etwas  überzuziehen, und sich dann in Unterwäsche oder barbusig am Kiosk einen Kaffee holen.

Und es gibt die alten Menschen, Überlebende der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs, die offensichtlich danach keinen Halt im Leben gefunden haben, und deren Rente zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel ist. Meist ergeben sie sich dem Alkohol und liegen betäubt vor Frittenbuden und neben U-Bahn-Eingängen, von der Mehrheitsgesellschaft vergessen. Eindrücklich sind dabei die Porträts dieser Gestrandeten in Trinkhallen und Kneipen wie dem "Goldenen Handschuh", die nicht zufällig an Anders Petersens Aufnahmen aus dem "Café Lehmitz" erinnern.

Petersens ikonische Arbeit ist zugleich das Stichwort für einen heiklen Punkt von Kaufholds Aufnahmen: die Tatsache nämlich, dass er sie anders als Garry Winogrand oder Helen Levitt nicht mit offenem Visier machte, präsent und erkennbar für die Abgelichteten, sondern verdeckt.

Zu Beginn des Buches gibt es ein Foto, auf dem Kaufhold in einem Spiegel zu sehen ist, die Kamera unter seinem Jackett in Hüfthöhe verborgen, was den manchmal eigentümlich anmutenden Blickwinkel auf den Fotos erklärt.  Diese zweifach fehlende Augenhöhe erklärt Kaufhold dadurch, dass er Fotos machen wollte, die ohne jene Reaktionen auskommen, die es unweigerlich gibt, wenn Menschen merken, dass sie fotografiert oder gefilmt werden. Petersens "Café Lehmitz" ist ein gutes Beispiel dafür, man kann bei manchen Fotos förmlich spüren, wie die Dargestellten zu Schauspielern ihrer selbst werden, in Gestik und Mimik übertreiben.

© Enno Kaufhold, Junius Verlag




















Gleichzeitig hat Kaufholds Begründung etwas Fadenscheiniges. Gerade bei Winogrand (bevor er am Ende in LA wahllos vom Auto aus Fotos schoss) oder Diane Arbus sieht man, dass man sehr wohl selbst in intimen Augenblicken mit der Kamera präsent sein kann, ohne dass sich die Situation dadurch groß verändert. Und wenn die Menschen hie und da doch mit Argwohn oder einem Lächeln auf die Kamera reagieren, ist das auch egal.

Ich persönlich könnte mir Kaufholds Herangehensweise jedenfalls für mich selbst überhaupt nicht vorstellen. Unbedingt Respekt zollen muss man jedoch seiner Entscheidung, die Fotos über Jahrzehnte unter Verschluss zu halten, um die Persönlichkeitsrechte der Abgebildeten zu wahren.

Resultat von all dem ist, dass wir nach vierzig Jahren nun unerwartet einen wahren Schatz in Händen halten, ein visuelles Archiv und kulturgeschichtlich bedeutendes Werk, bei dem man nicht anders kann, als es fasziniert durchzublättern.

Enno Kaufhold: St Pauli. Fotografien 1975 - 1985. 320 Seiten, 31 x 23 cm, Hardcover. Junius Verlag, Hamburg 2021, 50 Euro. ISBN 978-3-96060-541-6. (Bestellen bei eichendorff21)













Peter Truschner  
 
truschner.fotolot@perlentaucher.de