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Das am wenigsten bekannte Gefühl

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
08.01.2021. Frank Gaudlitz gelingen seine herausragenden neueren Fotoarbeiten nicht zuletzt deshalb, weil er den Sprung aus der klassischen Straßen-, Dokumentar- und Porträtfotografie hinein in die Bildende Kunst und Malerei wagt. In diesen Fotos erkennt man weniger die lebendige Erinnerung an August Sander und Walker Evans, sondern eher die Farben von Gauguin oder Matisse, die versuchen, dem Sujet des klassischen Stilllebens eine neue Bedeutung zu verleihen.
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Seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag gilt in Österreich ein strenger Lockdown, der es mit sich bringt, dass nun auch die Museen wieder geschlossen sind, während sich zur gleichen Zeit an den Skiliften die Leute drängen. In Deutschland sind die Museen schon seit Anfang November zu, während in Einkaufszentren und Baumärkten bis in den Dezember ein reges Treiben herrschte.

Da ist es ein Glück, dass ich unmittelbar vor der Schließung des Potsdam Museums die Gelegenheit hatte, die große Retrospektive "OST.SÜD" des 1958 im brandenburgischen Vetschau geborenen Frank Gaudlitz zu sehen - die meines Erachtens interessanteste Einzelausstellung eines Fotografen aktuell in Berlin und Umgebung. Spannender etwa als die von Michael Schmidt im Hamburger Bahnhof oder von Harald Hauswald bei "C/O Berlin", da Gaudlitz seine Herangehensweise sowohl formal als auch inhaltlich mit der Zeit weiter entwickelt und ausdifferenziert hat, während Schmidt und Hauswald im Grunde ihrem einmal eingeschlagenen Weg treu blieben.

Nach einer Ausbildung zum Jugenderzieher leitete Gaudlitz in den achtziger Jahren ein Lehrlingswohnheim in Stahnsdorf. Dort zeigte er in einer Ausstellung unter anderem Fotos von Mathias Leupold. Die Ausstellung wurde von der Stasi geschlossen und Gaudlitz verlor seinen Job. Ein Glück für die Fotografie, könnte man sagen, denn erst der Rauswurf brachte Gaudlitz dazu, sich intensiver mit ihr zu beschäftigen und sich ihr am Ende vollumfänglich zu widmen.

Die ersten Arbeiten nach dem Berufsverbot sind Aktaufnahmen männlicher Körper, sowohl in Räumen als auch im Freien. Arbeiten, die eher untypisch sind für die Art von Dokumentarfotografie, die Gaudlitz nach der Wende lange Zeit betreibt, die jedoch dazu beitragen, dass er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig aufgenommen wird und bei Arno Fischer diplomiert.

Thema seiner Abschlussarbeit ist der mit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges verbundene Abzug der sowjetischen Truppen vom Gebiet der ehemaligen DDR.

In seiner Serie "Die Russen gehen" (1991-94) dokumentiert Gaudlitz nicht nur den stabsmäßig koordinierten Aufbruch, sondern widmet sich auch den verwaisten Kasernen und Truppenübungsplätzen. Auf Grabsteinen fotografiert er die der Nachwelt zugedachten Porträts jener Soldaten, die die Rückkehr nach Russland nicht mehr miterlebten, sondern für immer in deutscher Erde verblieben.  

Russland wird Gaudlitz lange nicht mehr loslassen, in den neunziger Jahren reist er mehrmals nicht nur nach Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in die entlegene Gebiete der Straflager und GULAGs, der Bergwerke und Kohlereviere, des Baikalsees und des Altai Gebirges im Grenzgebiet zur Mongolei und zu China.

© Frank Gaudlitz, Kerber Verlag

Er widmet sich den durch die Wende aufkeimenden, jedoch rasch enttäuschten Hoffnungen einfacher Arbeiter und Bäuerinnen auf ein besseres Leben - Menschen, denen im Kommunismus keine andere Bedeutung zukam, als all ihre (Arbeits-)Kraft für die hochfliegenden Ziele und Fünfjahrespläne der Partei im Sinne des Stachanow-Mythos zu verbrauchen.

Sie sind die neuen "überflüssigen Menschen" - ein Topos aus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts von Puschkin bis Dostojewski. Die Protagonisten von Werken wie "Eugen Onegin" oder "Die Brüder Karamasov" sind jedoch meist gebildet und gut situiert, wissen um die Missstände in der Gesellschaft Bescheid, sind jedoch unwillig oder unfähig, an ihnen etwas zu ändern. Untätige Zuschauer der Zeitläufte, führen sie ein Leben als teils gelangweilte, teils zynische Parvenüs.

Der überflüssige Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts ist der einfache Fabrik- oder Landarbeiter, dessen Arbeit teils von Maschinen übernommen wurde, und dessen Arbeitskraft keinen Wert mehr hat. Es gibt ihn selbstverständlich nicht nur als sibirischen Subsistenzwirtschafter, sondern auch als burmesischen Wanderarbeiter in Thailand, als versklavtes, philippinisches Hausmädchen in Qatar oder als Asylant, der in Kalabrien von der Mafia auf einer Obstplantage ausgebeutet wird.

Eine Auswahl von Gaudlitz' Russland-Fotos bietet das Buch "Russian Times", das 2018 bei Kerber herausgegeben wurde und in diesem Fall zurecht einen Deutschen Fotobuchpreis in Silber bekam.

In den Nullerjahren erweitert Gaudlitz seine Spurensuche im Zuge der EU-Osterweiterung auf südlichere Gefilde. In seiner Serie "Warten auf Europa" porträtiert er Menschen aus den Anrainerstaaten entlang der Donau. Seine Reise beginnt 2003 an der Mündung der Donau am Schwarzen Meer und führt ihn über Rumänien, Bulgarien, Serbien und Ungarn zwei Jahre später bis zu ihrer Quelle im Schwarzwald. Er legt dabei eine Strecke von fünfunddreißigtausend Kilometern zurück.

Die gen Westen führende Reise stellt für Gaudlitz die Richtung Westeuropa gerichteten Wünsche und Hoffnungen der ungleich ärmeren Gegenden in Osteuropa dar. Gaudlitz bittet auf seiner Reise Menschen nicht nur spontan, sie fotografieren zu dürfen, sondern mit Hilfe von Dolmetschern auch, ihre persönlichen Empfindungen zu formulieren. "Die Freude ist das am wenigsten bekannte Gefühl, das sich tief verbirgt", schriebt etwa der 19-jährige Ukrainer Stelon. "Freude ist, wenn wir weit weg von zu Hause sind und einen Brief von unseren Nächsten bekommen. Es ist das stärkste Gefühl, dass Du nicht vergessen bist."

Das Projekt führte direkt zum nächsten, "Casa Mare", im Zuge dessen Gaudlitz Menschen porträtiert, die Vertreter nationaler Minderheiten und randständiger ethnischer Gruppen etwa in Siebenbürgen oder der Vojvodina sind. Bewusst fotografiert er sie in ihrem Festtagsgewand in der so genannten "Guten Stube" ihres Hauses, was ihm die Möglichkeit gibt, traditionelle Farben und Muster der Kleidung und des Mobiliars einzufangen.

2005 sucht Gaudlitz nach neuer Inspiration in fremder, unvertrauter Umgebung und bricht nach Südamerika auf, wobei ihn besonders Länder wie Peru, Bolivien oder Ecuador mit einem hohen indigenen Bevölkerungsanteil interessieren. Die erste Serie, "Cruz del Sol" (2005-2015) wurzelt einerseits noch stark in der Schwarzweiß-Kleinbildfotografie der russischen Bilder; anderseits haben die Porträts aus Südosteuropa ihre Spuren hinterlassen, und Gaudlitz rückt bewusst vom kaleidoskopischen Erfassen einer gesellschaftlichen Situation ab und nimmt den einzelnen Menschen stärker in den Fotos. Exemplarisch dafür stehen die Porträts von Kindern, denen Gaudlitz dieselbe menschliche Würde und Größe zuteil werden lässt wie den Porträts von Erwachsenen.

©Frank Gaudlitz, Kerber Verlag

"In Ruta del Sol/Sonnenstraße" folgt Gaudlitz 2010 zweitausendfünfhundert Kilometer lang den Spuren Alexander von Humboldts in den Anden zwischen Ecuador und Peru. In diesem Projekt verschmelzen die Farbfotografien von Menschen aller sozialen Schichten mit großformatigen, geradezu zeitlosen Schwarzweißaufnahmen der Landschaft zu einer inhaltlichen und formalen Symbiose seines damaligen Schaffens.


Bei der Arbeit an "Sonnenstraße" begegnet Gaudlitz häufig transsexuellen Menschen. Besonders beeindruckt ihn dabei der Lebensmut von in einem männlichen Körper lebenden Frauen, die im Alltag massiv diskriminiert werden. Ihre Tapferkeit, zu sich selbst zu stehen und sich zu behaupten, lässt Gaudlitz an den Mythos der kriegerischen Amazonen denken, denen der größte Fluss der Welt seinen europäischen Namen verdankt, und die sich um einer perfekten Bogenführung willen eine Brust ausbrennen ließen.

Wie schon in "Wege nach Europa" lässt er die Menschen von sich selbst erzählen. "Ich habe an die Liebe geglaubt", sagt etwa die 38-jährige Yajaira. "Ich habe sehr früh damit angefangen, mir Hormone zu spritzen. Vor allem in meiner Pubertät habe ich mich stark nach einem Partner gesehnt. Doch bis heute habe ich keinen gefunden. Man hat mit mir gespielt und ich wurde verspottet. Ich mache niemand dafür verantwortlich. Ich lebe weiter, ich kämpfe weiter, ich arbeite weiter, ich fühle mich wohl, wie ich bin."

An die Seite der eindrucksvollen Porträts stellt Gaudlitz von den Mythen der Amazonasregion inspirierte und selbst arrangierte skulpturale Stillleben mit Gürteltieren, Trauben, Melonen, Pythons, Kaimanen, Limetten und Schildkröten - schlicht ein Höhepunkt des  Stilllebens in der Gegenwartsfotografie.

Während die Porträts und die Stillleben im Buch "A Mazo" (2015) noch nebeneinander stehen, hat Gaudlitz einige davon an den Wänden im Museum Potsdam zu einer von einem gemeinsamen Rahmen umgebenen Einheit verschmolzen - ein assoziationsreicher, visueller Rausch, wie man ihn in unseren Breitegraden nur selten zu sehen bekommt.

© Frank Gaudlitz

Gaudlitz gelingen diese herausragende Arbeiten nicht zuletzt deshalb, weil er den Sprung aus der klassischen Straßen-, Dokumentar- und Porträtfotografie hinein in die Bildende Kunst und Malerei wagt. In diesen Fotos erkennt man weniger die lebendige Erinnerung an August Sander und Walker Evans oder Gemeinsamkeiten mit Vanessa Winship, sondern eher die Farben von Gauguin oder Matisse, die versuchen, dem Sujet des klassischen Stilllebens eine neue Bedeutung zu verleihen.

Diese Arbeiten muss man ebenso wie die schwarzweißen Landschaftsaufnahmen unbedingt im Großformat an der Wand hängen sehen. Da trifft es sich gut, dass sich das Museum Potsdam gerade dazu entschlossen hat, die Dauer der Ausstellung bis 2. Mai zu verlängern.





Frank Gaudlitz: OST. SÜD. 176 Seiten, 24 × 28 cm, Hardcover. Kerber Verlag, Bielefeld 2020, 45 Euro. ISBN 978-3-7356-0698-3. (Bestellen bei eichendorff21)

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de