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Auf dem Weg zur absoluten Blume

Über Bilder, Bände und Sites Von Thierry Chervel
23.06.2017. Wer Robert Mapplethorpes Blumen als "Blumen des Bösen" betrachtet, irrt. Im Gegenteil: Sie sind Monumente der Stille und der Konzentration auf den Gegenstand.
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Herbert Muschamp bezeichnet Mapplethorpes Blumen in seinem instruktiven Vorwort als "Blumen des Bösen".

Da ist sicher was dran. Gleich am Anfang zeigt der Band eine von oben im Topf fotografierte Orchidee, deren Schlagschatten sich auf der hellen Tischplatte als Teufelchen abzeichnet. Oder als Faun? Dass Mapplethorpe katholisch aufwuchs und als Kind Sonntags in die Kirche ging, wird immer betont. Aber seine eigene Schönheit mit der leichten Sattelnase, der Weite seines Gesichts und der wilden Tolle ist eher die eines Fauns. Ab und zu setzte er sich Hörnchen auf. In Fenton Baileys und Randy Barbatos Film über Mapplethorpe sagt einer der Interviewten, bis heute beeindruckt von Mapplethorpes Gestalt, dass er ihm wie ein Fabelwesen vorkam, eine Kreuzung aus Bock und Engel. Sein Gesicht erinnert mich ans Fin de Siècle. Er hätte Maler wie Gustave Moreau und Dichter wie Stéphane Mallarmé begeistert.

Self Portrait, 1982. Copyright: Robert Mapplethorpe Foundation. Used by permission. Mapplethorpe Flora: The Complete Flowers, Phaidon.Self Portrait, 1982. Copyright: Robert Mapplethorpe Foundation. Used by permission. Mapplethorpe Flora: The Complete Flowers, Phaidon.


Aber so ganz überzeugt bin ich von den "Blumen des Bösen" nicht. Gewiss, manche Blüten erinnern an eine Vulva, viele Stempel an einen Penis. Und der Penis war bekanntlich Mapplethorpes Obsession: In seinen pornografischen Bildern und in seinem Black Book emanzipiert er den Penis für die Kunst: Auf seinen Bildern ist er immer erigiert oder auf dem Weg dahin.

Aber er sexualisiert die Blumen nicht. Sie sind nicht harmlosere Variationen dessen, was er in seinen pornografischen Bildern eigentlich tut. So konnte man die Bilder vielleicht verkaufen: Die Connaisseurs stellten sich sein X-Dossier ins Geheimfach, die Gräfinnen kauften die Königslilien.

Muschamp verweist in seinem Vorwort mit leichtem Spott auf die Ikebana-Ästhetik der fünfziger Jahre, die grazilen Pflanzenarrangements in Gartenkatalogen und Zeitschriften fürs Heim. Das ist ist genau die Sphäre, in der Mapplethorpe als Sohn einer kinderreichen Familie in den Suburbs weit außerhalb von New York aufwuchs. Allein ein Blick auf die Vasen zeigt, wie tief Mapplethorpe diese in den fünfziger Jahren gepflegte Kunst der Dekoration geprägt hatte: Es handelt sich sehr häufig um skandinavische Glas- oder Keramikvasen aus eben jener Zeit. Es gibt praktisch keine Vase in den Fotos Mapplethorpes, die aus den siebziger oder achtziger Jahren stammt. Charakteristisch sind Berndt Fribergs Keramikvasen mit subtiler Hasenfellglasur und anmutigen Nacken- und Schulterlinien (etwa hier), heute begehrte Sammlerstücke. Seine Blumen stecken auch in Vasen von Gunnar Nylund, den brühmten Gulvasen von Otto Brauer und manchen Stücken aus Murano. Auf einem Foto findet Mapplethorpe die Vasen so interessant, dass die Blume die Nebenrolle spielt, es sind "Vetro pesante"-Vasen des Murano-Meisters Alfredo Barbini.

Auch die "künstlichen Sonnen", in denen laut Muschamp Mapplethorpes Blumen angeblich erstrahlen, erblicke ich nicht. Seine Blumen sind nie grell, keine geschminkten Schönheiten, denen der Verfall ins Gesicht geschrieben steht. Schon dass die meisten Blumen noch in schwarzweiß fotografiert sind, bedeutet eine Objektivierung. Mapplethorpe spielt zuweilen mit den Schatten, die die Blumen werfen - er ist kein Becher-Schüler! - aber sie wirken immer wie Antworten auf Sonnenlicht, nicht wie die brutalen Schlagschatten von Blitzlichtern.

Mapplethorpes Licht, ist subjektiv, aber sanft: Es lässt die Blumen gelten. Er spielt auch nicht mit Unschärfe. Es geht also sehr wohl ums Arrangement, darum, das Objekt sehen zu lernen. Ganz bewusst knüpft er an die Ikebana-Ästhetik der Fünfziger an. Arrangement und Inszenierung gelten der Sache.

Vielleicht lassen sich seine Blumenbilder als Etüden bezeichnen, Skizzen auf dem Weg zur Kunst, die allerdings ihr eigenes Recht haben. Mapplethorpe wollte Künstler sein, nicht Fotograf. Im handwerklichen Sinne hatte er es nie gelernt. In der Dunkelkammer ließ er Spezialisten für sich arbeiten. Zur gleichen Zeit förderte das Moma ganz andere Fotografen, die New Topographics und William Egglesteon, Fotografen, die nach draußen gingen, möglichst in den Westen und der Wirklichkeit scheinbar nichts hinzufügten. Fotografen wie Stephen Shore suchten in ihren Bildern so etwas Zufall und Absichtslosigkeit. Hat irgendeiner von ihnen jemals eine Blume fotografiert?

Gemein hatten sie mit Mapplethorpe allerdings, dass auch sie Künstler sein wollten, nicht Gebrauchsfotografen im Auftrag irgendwelcher Magazine oder Werbebosse. Mapplethorpe sagt, dass er sich irgendwann der Fotografie zuwandte, weil er erkannt hatte, dass sie "Kunst" sein kann. Vorher hatte er vorgefundene pornografische Bilder collagiert.

Irgendwann lernte er bekanntlich den reichen Förderer und Lover Sam Wagstaff kennen, der ihm eine Hasselblad und ein Loft kaufte. So gut wie alle Blumenbilder und die meisten anderen seiner Fotos dürfte er hier aufgenommen haben. Wie bei Andy Warhol waren bei ihm Arbeit und Leben an ein und demselben Ort verschmolzen. Er konnte also immer zur Kamera greifen, wenn ihm eine Idee kam: Blumen sind dafür sehr nützlich. Sie wehren sich nicht, lassen sich widerstandslos arrangieren. Widerstand ist rein immanent, er kommt durch das Licht und die Frage der witzigsten, charmantesten oder ergreifendsten Komposition.

Es ist ja leider so, dass man in Fotobüchern oft nicht genug darüber erfährt, wie Fotografien ganz konkret und technisch zustande kamen. Welche Kamera, welches Objektiv, welche Lichtquellen verwendet wurden ist doch entscheidend, um ein Bild am Ende zu verstehen.

African Daisy, 1982, Dye Transfer. Copyright: Robert Mapplethorpe Foundation. Mapplethorpe Flora:The Complete Flowers, Phaidon (page 217).African Daisy, 1982, Dye Transfer. Copyright: Robert Mapplethorpe Foundation. Mapplethorpe Flora:The Complete Flowers, Phaidon (page 217).

Mir kommt es so vor, als hätte Mappelthorpe im wesentlichen Tageslicht verwendet, das an bestimmten Momenten unterschiedlich in sein Loft hineingestrahlt hat und ihm bestimmte Inszenierungen ermöglichte. Der Raum hinter seinen Blumen ist oft nicht völlig abstrakt. Man erkennt eine Wand, eine Tischplatte und vor allem und immer wieder die schrägen Schattenstreifen von Jalousien auf der Rückwand (Beispiel) und manchmal sogar auf den Blumen selbst, die die Nähe eines Fensters suggerieren. Der Einsatz von Tageslicht ist ein weiteres Argument gegen die These von den "Blumen des Bösen".

Auch an den gelben "Blumen in einer Vase" (auch die Titel sind sachlich!) lässt sich das heikle Verhältnis von Künstlichkeit und Objektivität illustrieren, Die Rückwand ist in der Komplementärfarbe der Blumen gehalten und ganz leicht strukturiert. Der Zweig ragt nach rechts aus der blaugelben Vase heraus. Es scheint sich um ein Exemplar aus Murano zu handeln, das Glas ist durch eine geriffelte Oberfläche aufgeraut. Auf den Tisch ist ein weiterer kleiner Zweig gelegt. Das Licht auf den Blumen kommt von vorne und scheint auch den Hintergrund gleichmäßig anzustrahlen. Schatten sind kaum auszumachen. Wahrscheinlich hat der Tisch einigen Abstand zur Rückwand. Nur: Wenn das Licht von vorne kommt, könnte dann die Vase in ihren großartigen Farben aufleuchten? Glas, das einfach von vorne angestrahlt wird, antwortet in der Regel nur mit störenden und verflachenden Reflexen. Es könnte sein, dass Mapplethorpe noch ein zweites Licht hinter der Tischplatte installiert hat, das die Vase sanft von unten anstrahlt um ihre Farben zur Schwingung zu bringen. Die Vase ist nicht mit Wasser gefüllt. So gesehen ist das Arrangement künstlich, es ist nur um des Fotos willen da.

Dieser künstlerischen Diskretion verdanken Mapplethorpes Blumen ihr Überleben. Sie sind Monumente der Stille aus jenem tosenden New York der Siebziger und Achtziger, zu dessen berühmtesten Repräsentanten er gehörte: Es war die letzte kulturelle Blüte der Stadt, die Zeit von Andy Warhols Factory, des Punk Clubs BCBG, in dem seine Freundin Patti Smith debütierte, der Darkrooms im Meatpacking District, in denen sich Mapplethorpe seine anderen Objekte besorgte. Dann kam die schlechte Nachricht Aids, der Mapplethorpe und dieses ganze New York erlagen.

Man muss die Blumen gegen diese Getöse halten. Auch Mapplethrope mag nach seinen Nächten Sonntagmorgende gehabt haben, an denen er sich jenseits eines sexualisierten Blicks dem Studium des Lichts und der Dinge gewidmet haben mag. Das eine lässt sich dabei nicht vom anderen trennen. Mapplethorpe selbst sagte, dass er, der Fotografie nicht als Metier gelernt hatte, an seinen Stilleben mit Licht umzugehen lernte.

Das Buch ist nach Genres gegliedert. Erst die chronologisch am Anfang stehenden Polaraids, dann die Orchideen, die Rosen, die Iris, die Tulpen, ein Kapitel mit weiteren Blumen und die Lilien. Am Ende des Buch sind die Bilder (und übrigens einige zusätzliche Bilder, die nicht in den Katalogteil aufgenommen wurden) in Passbildformat chronologisch und mit Titeln aufgeführt. Es ist höchst instruktiv, sich die Bilder in dieser Reihenfolge anzusehen.

Gerade die frühen Polaraids offenbaren das autodidaktische Programm, das Mapplethorpe mit den Blumen verfolgte. In zwei oder drei Polaraids erreicht bereits eine wunderbare Schwebe zwischen der Spontanität des Mediums Fotografie und seinem Wunsch nach einer durchs Arrangement zur Geltung gebrachten Schönheit. Wagstaff ermöglichte ihm die Realisierung des Programms durch eine Professionalisierung der Mittel, die zugleich immer an Mapplethorpes persönliche Sphäre in seinem Loft gebunden bleiben.

Dies Programm korrespondierte dann auch mit der Lösung schwuler Sexualität aus der Sphäre der Darkrooms und der Pornografie. Seine Büffelpeitschen und Fäuste im Arsch, die Pissszenen und Schwänze im Mund schockieren nicht allein, weil sie fröhlich ausagieren, was normalerweise ungezeigt bleibt, sondern durch die Sorgfältigkeit ihrer Inszenierung, die gewiss auch ein Ausrufezeichen auf dem Weg homosexueller Emanzipation und - das ist schwer zu leugnen - ein kommerzieller Kitzel für den Kunstmarkt war, der Kompatibilität stets durch Inszenierung der Differenz erreicht.

Nicht Mapplethorpes Blumen sind also sexualisiert, seine Bilder vom Sex sind ikebanisiert.

Tulip, 1988, Dye Transfer. Copyright: Robert Mapplethorpe Foundation. Mapplethorpe Flora: The Complete Flowers, Phaidon (page 187)

Als Ikebana-Künstler ist Mapplethorpe auch eher ein Fotograf einzelner Blumen als großer Sträuße. Keine barocke Pracht. In chronologischer Lesart erzählen seine Blumen die Geschichte einer Lösung: Sie befreien sich vom Kontext der anderen Blumen, der Vasen und des Raums. Mapplethorpe ist auf dem Weg zur absoluten Blume. Am Ende sind es die Blüten, die zählen, Sträuße werden immer seltener. Bis hin zu jener Diva im Showmantel, die das Cover illustriert.

Und bis hin zu jener roten Tulpe vor rotem Grund aus dem Jahr 1988, ein Jahr vor seinem Aids-Tod, die überwältigend ist in ihrer Präzision und Eleganz und dem Übergang vom zarten Grün des Stengels zum zarten Rot der Blüte. Wer wollte da behaupten, dass Blumen bei Mapplethorpe nicht ein Symbol der Unschuld wären?

Thierry Chervel

Mapplethorpe Flora: The Complete Flowers. The definitive collection of Robert Mapplethorpe's flower photographs. Mark Holborn, et al. Gebunden im Schuber, 308 x 292 mm, Leinen. 368 Seiten. Phaidon Verlag. Mit 213 Abbildungen, 175 Euro. ISBN: 9780714871318.
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