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Die entgangene Speise

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
03.08.2020. Michael Nichols fotografiert Tiere ohne Romantisierung. Seine Fotos sind sowohl in Gestus als auch Farbgebung oft expressiv, richtiggehend dramatisch. Egal, ob ein Löwe in der kobaltblauen Dämmerung der Serengeti ein gerade erlegtes Zebra verspeist oder ob ein Tiger in Indien zum Sprung ansetzt - die Botschaft ist klar: Die Tiere haben ein Recht auf ein eigenes Leben.
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Vielleicht ist es der Urlaubssaison geschuldet und der Tatsache, dass ich mich auf einer Hütte am Rande des Wiener Walds befinde, dass es zum ersten Mal im Fotolot eine Besprechung eines Buches mit Fotos von wilden Tieren gibt, wie sie in Geo-Reportagen zu sehen sind.

Tiere gibt es auch auf der Hütte genug, die über eine große, gewachsene Blumenwiese verfügt, und keinen aseptischen englischen Rasen, wie er in den letzten zehn Jahren leider auch auf Grundstücken wie diesem um sich gegriffen hat.

Es gibt hier Wildbienen, Hornissen, Tagpfauenaugen, Kohlweißlinge, Grünspechte, Füchse, Dachse, Eidechsen und Hirschkäfer. Unweit des Gartens, am Waldrand, ist eine Futterstelle für Rotwild. In diesem Jahr transportieren Holzwespen trockene Gräser, die teils das Dreifache ihrer Körpergröße haben, zu einem alten Gartenstuhl am Schuppen. Sie bauen im hohlen Metallröhrensystem, aus dem Stuhllehnen und -beine gemacht sind, ihr Nest.

In Michael "Nick" Nichols Buch "Wild" das gerade in der Edition Lammerhuber erschienen ist, geht es jedoch nicht um Gärten, die idyllisch eingebettet in mitteleuropäischer Flora und Fauna liegen. Zugleich mit Erscheinen des Buchs gibt es noch bis 4. Oktober eine umfangreiche Ausstellung im Naturhistorischen Museum in Wien.

© Michael Nichols,,Edition Lammerhuber



















Nichols ist eine für seine Aufnahmen vielfach preisgekrönte Legende der Wildlife Photography. Das langjährige Mitglied der Agentur Magnum hat zwischen 1989 und 2015 allein dreißig umfangreiche Bildreportagen für National Geographic gemacht, nur unwesentlich weniger für Geo.

Er begleitete den Umweltaktivisten Mike Fay auf dessen Projekt "Mega Transect", bei dem in einem Fußmarsch von 455 Tagen und 3.200 Kilometern die verbliebenen freien Flächen für Wildtiere in Zentralafrika von der Ost- bis zur Westküste dokumentiert wurden. Herzstück des Unterfangens war dabei die Dokumentation und der Kampf gegen die Wilderei, vor allem an Nashörnern und Elefanten.

Nichols arbeitete auch mit der weltberühmten Primatenforscherin Jane Goodall zusammen. Dabei gelang ihm ein ikonisches Foto, das viele schon gesehen haben werden, ohne zu wissen, dass es von Nichols stammt: Jane Goodall hat ihren Kopf gesenkt, einzelne, lose Haarsträhnen leuchten golden im Sonnenlicht, während man den ausgestreckten Arm des Schimpansen Jou-Jou sieht, der mit seinen Finger zärtlich mit Goodalls Haar spielt.
Eine Szene, die an Michelangelos Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle, aber auch an die Verfilmung des Lebens von Dian Fossey "Gorillas im Nebel" erinnert, als die von Sigourney Weaver dargestellte Fossey neben dem Silberrücken im Gras liegt, ihren Arm ausstreckt und plötzlich spürt, wie der Silberrücken seine Hand in die ihre legt.

Jonathan Safran Foer sprach in Bezug auf sein aufrüttelndes Buch "Tiere essen", in dem es um die für Tiere, aber auch Menschen schlimmen Folgen der profitorientierten, industriellen Massenproduktion von Fleisch geht, vom "zerbrochenen Verhältnis des Menschen zu den Tieren" - eine Feststellung, die er angesichts der Entstehung des aktuellen Corona-Virus als Folge der furchtbaren Zustände auf chinesischen Tiermärkten bekräftigte (Resümee im Perlentaucher).

Fotos wie das von Goodall und Jou-Jou bilden in Nichols' Oeuvre eine Art von Brückenschlag zwischen Mensch und Tier, der dieses zerbrochene Verhältnis thematisiert und die große Gemeinsamkeit zwischen den Spezies und Abhängigkeit voneinander herausstreicht - eine Tatsache, die angesichts der Vernichtung der Biodiversität und des rasanten Artensterbens offenkundig ist.

Eine andere Art von Fotos bilden jene, in denen Nichols das Leben der Wildtiere so gut wie möglich unbeeinflusst vom Menschen in ihrer natürlichen Umgebung festhält.

Die Fotos sind - gleichgültig, ob Nichols sie selbst oder mit Hilfe von Fotofallen gemacht hat - sowohl in Gestus als auch Farbgebung oft expressiv, richtiggehend dramatisch. Egal, ob ein Löwe in der kobaltblauen Dämmerung der Serengeti ein gerade erlegtes Zebra verspeist oder ob ein Tiger in Indien zum Sprung ansetzt - die Botschaft ist klar: Die Tiere haben ein Recht auf ein eigenes Leben und einen unantastbaren Lebensraum, der ihnen zur Verfügung gestellt und konsequent geschützt werden muss - sei es vor Wilderern vor Ort oder Wilderern internationaler Art, denen es um landwirtschaftliche Anbaugebiete oder die Ausbeutung von Bodenschätzen geht.

Das Wildtier ist etwas Kostbares, zugleich ein unersetzliches Erbe als auch eine große Verantwortung der Menschheit. Sein Verlust käme einer großen Tragik gleich.

© Michael Nichols, Edition Lammerhuber




















Um sich die Verwandtschaft zum Tier bewusst(er) zu werden, kann es manchmal Sinn machen, vermeintlich Allzumenschliches aus anderer, meist verdrängter animalischer Sicht zu betrachten, wie das Elias Canetti in "Masse und Macht" mit dem Lachen gelingt: "Gewiss enthält das Lachen in seinem Ursprung die Freude an einer Beute oder Speise, die einem als sicher erscheint. Ein Mensch, der fällt, erinnert an ein Tier, auf das man aus war und selbst zu Fall gebracht hat. Jeder Sturz, der Lachen erregt, erinnert an die Hilflosigkeit des Gestürzten: man könnte ihn, wenn man wollte, als Beute behandeln. Man würde nicht lachen, wenn man in der Reihe der geschilderten Vorgänge weitergehen und sich's wirklich einverleiben würde. Man lacht, anstatt zu essen. Die entgangene Speise ist es, die zum Lachen reizt, das plötzliche Gefühl der Überlegenheit. (...) Es scheint, dass die Bewegungen, die vom Zwerchfell ausgehen und fürs Lachen charakteristisch sind, eine Reihe von inneren Schlingbewegungen zusammenfassend ersetzen. Unter Tieren gibt allein die Hyäne einen Laut von sich, der unserem Lachen wirklich nahe kommt. Man kann ihn künstlich erzeugen, in dem man einer gefangenen Hyäne etwas zum Fressen vorsetzt und dann rasch entzieht, bevor sie Zeit zum Zupacken hatte. Ihre Nahrung besteht zum Teil aus Aas, man kann sich vorstellen, wie oft vieles, worauf sie Lust hatte, ihr von anderen weggeschnappt wurde."

Nun, da der Artikel geschrieben ist, stehe ich vom Tisch unter der ausladenden Esche auf und werde auf dem Weg zur Hütte vom Zirpen mehrerer Grillen begleitet. Als ich ein Klopfen höre, drehe ich mich um: Der Grünspecht hat, kaum dass ich aufgestanden bin, begonnen, die Esche mit seinem Schnabel zu bearbeiten.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de





Michael Nichols
: Wild. 320 Seiten, 38,5 x25 cm, Hardcover. Handsignierte Edition mit einem Fine Art Print. Edition Lammerhuber, Wien 2020, 125 Euro. Das Buch ist nur beim Verlag erhältlich.
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