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Immersive Fotografie

Über Bilder, Bände und Sites Von Thierry Chervel
17.06.2016. Der Katalog zur Provoke-Ausstellung gibt einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der japanischen Fotografie und zugleich der japanischen Studentenbewegung. Auch Provoke war Fotografie in Bewegung - aber ohne Politik.
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Mit das großartigste an diesem Katalog ist ein Text, ein Essay des Fotografen Takuma Nakahira über William Klein, der als programmatisch für die Fotografie der Provoke-Gruppe gelesen werden kann. Klein war zu dieser Zeit schon in Japan gewesen und hatte einen Bildband über Tokio vorgelegt. Berühmt geworden war er durch seinen New York-Band von 1956, ein Fotobuch also, eine Abfolge von Bildern, in der nicht das Einzelbild akzentuiert ist. (Die Abbildung links zeigt das Cover des Provoke-Katalogs, mehr dazu unten.)

Nakahira befreit Kleins Fotos in seinem 1968 publizierten Essay von allen diskursiven Abstützungen: Nein, sagt er, sie sind keine Sozialkritik, sie zeigen nicht die Einsamkeit der Menschen, sondern sie sind eine Fotografie vor der Sprache, und sie funktionieren nach der Logik von Alpträumen und der Verwirrung von Subjekt und Objekt. Um das zu begründen, zieht er Albert Camus, aber auch japanische Theoretiker heran.

Faszinierend ist an diesem Essay unter anderem der selbstverständliche Zusammenhang, den er herstellt, zwischen dem, was in New York, Paris oder Amsterdam und dem, was in Tokio passiert. Die Szene war damals auf eine heute fast vergessene Art geradezu euphorisch globalisiert. Klein war Amerikaner, aber er lebte in Paris, er war befreundet mit Chris Marker, einem großen Freund Japans, aber auch frühen Kritiker des Kolonialismus. Und die besten Bildbände über Paris stammten zu der Zeit von holländischen Fotografen, allen voran Ed van der Elsken und Joan van der Keuken. Nakahira weiß das alles.

Vergleicht man aber Kleins New York-Bilder mit den zehn Jahr später veröffentlichten Bildern der Provoke-Fotografen, erkennt man dass Nakahiras Klein-Interpretation auch etwas spezifisch Japanisches haben muss. Die Qualität von Kleins Bildern ist heute vielleicht gar nicht mehr so leicht zu beschreiben, weil sie in die fotografische Umgangssprache eingegangen ist. Ja, die Bilder sind wild, street photography, frech, auch unscharf, körnig und schief fokussiert - aber verglichen mit den Provoke-Fotos wirken sie geradezu anekdotisch. Man kann auf Kleins Bilder noch eine ganze Menge sehen!

"Are-bure-boke" war eine Beschreibung der Provoke-Fotos: "unscharf, körnig, aus dem Fokus". Diese Beschreibung trifft auch auf Klein zu, aber in wesentlich zivilisierterem Rahmen. Die Radikalisierung bei Provoke ist ungeheuer, und vielleicht auch ungeheuer japanisch.

Der Katalog zur Provoke-Ausstellung, die zunächst in der Wiener Albertina und nun im Fotomuseum Winterthur (und danach noch in Le Bal in Paris) läuft, setzt die Provoke-Fotografie in einen ganz japanischen Kontext und zeigt so, wie eigen Nakahiras Aneignungen internationaler Impulse in der Fotografie ist.

Das ganze erste Drittel des Katalogs widmet sich den Vorläufern von Provoke in der fotografischen Studentenbewegung, die Anfang der Sechziger entstand. An allen japanischen Universitäten waren zu dieser Zeit Fotoclubs sehr aktiv (es wäre interessant zu erfahren, wie groß der Anteil der aufsteigenden japanischen Fotoindustrie von Nikon bis Olympus daran war, die damals die Rolleis und Voigtländers vom Thron stießen, aber das thematisiert der Katalog nicht). Viele der Studenten begleiteten die Proteste gegen das amerikanisch-japanische Friedensabkommen, das die Studenten als Verletzung der japanischen Souveränität empfanden. Duncan Forbes schreibt in seinem Katalog-Essay nicht allzu viel über den Kontext der Bewegung. Aber er zeigt ihren Nationalismus, der einen in der Rückspiegelung fragen lässt, ob nicht auch die deutsche Studentenbewegung von einem larvierten, gar nicht richtig verstandenen und darum um so gefährlicheren Nationalismus getragen war. Die Abwehr des "Besatzers" verband die beiden Bewegungen jedenfalls - und vielleicht auch ein moralischer Überlegenheitskomplex, der in Gewalt umzuschlagen drohte.

Die japanische Studentenbewegung radikalisierte sich wie die deutsche mit Vietnam. Die Amerikaner gaben durch diesen illegitimen Krieg den Studenten ideologisches Futter. Okinawa war eine Basis der amerikanischen B52-Bomber, von denen es in den Fotobüchern, die die Studenten damals publizierten, geradezu unheimliche Fotos gibt.

Denn das selbstverständliche Medium dieser studentischen Fotoclubs waren Fotobücher von teilweise großartiger, rauer Qualität. Die Macher des Katalogs haben auch den damaligen Studenten-Fotografen Ryuichi Kaneko interviewt, der sich von den etwas späteren Provoke-Fotografen eher distanziert. Sie handelten als Individuen und Künstler, wo die Studenten vom Kollektiv und der Bewegung träumten.


Doppelseite aus einem Fotobuch eines japanischen Studentenkollektivs gegen den Bau des Narita-Flughafens, etwa 1969, Abbildung aus dem Katalog.

Aber aus der Distanz gesehen liegt der Zusammenhang auf der Hand. Das Umwerfende an studentischen Fotobüchern, die der Katalog ausführlich dokumentiert, ist, dass sie eigentlich weder agitatorisch, noch dokumentarisch sind. Ich würde sie eher immersiv nennen.

Es sind Fotos in Bewegung, wie im Rausch dem Moment entrissen, von Studenten, die Teil der Demonstrationen waren. Sie manifestieren ihre Zugehörigkeit durch ihre Nähe zu den schlagenden Polizeistöcken, den sich bewegenden Trossen und den ekstatischen Gesichtern. Sie scheinen jenem Wunsch nach Verschmelzung mit den Massen Ausdruck zu geben, der die bürgerlichen Subjekte zuletzt in der 68er-Zeit beseelte. Die Fotografien in den Fotobüchern der Studenten sind oft gar nicht gekennzeichnet. Sie sind kollektive Werke.

Es ist, als hätten die Provoke-Fotografen diese Identifikation mit der Bewegung vom politischen Kontext losgelöst und absolut gesetzt. Nicht dass die Fotografen Daido Moriyama, Takuma Nakahira, Yutaka Takanashi und Koji Taki, die Provoke erfanden, keine Idee vom Politischen gehabt hätten. Daido Moriyama war von Shomei Tomatsu, der mit seinen Hiroshima-Fotografien berühmt geworden war und über die Studenten gearbeitet hatte, an den Provoke-Kreis herangeführt worden. Die Studentenbewegung muss seinerzeit allpräsent gewesen sein.

Um so überraschender klingt die Abschlussbemerkung zum ersten Band der Zeitschrift: "Sie mögen etwas Politischeres und Stimulierenderes von unserem grandiosen Titel Provoke erwartet haben, aber so ist es nun mal gelaufen." Provokanter kann man eine Absage an Politik in ihrer Flapsigkeit nicht formulieren.


Koji Taki, Foto aus Provoke 3, 1969, Copyright: Yosuke Taki.

Provoke, heute ein Monument der Fotografiegeschichte, hatte von 1968 bis 1970 ein gleichnamiges Magazin herausgebracht, das nur drei Nummern veröffentlichte. Sie handeln in Fotostrecken der einzelnen Fotografen vom Tokioter Nachtleben, vom Fahren im Zug, von Sex oder auch von Fotos - denn Moriyama hat auch Fotos, besonders Pressefotos fotografiert und ihr Korn vergröbert. Sie bringen eine totale Verweigerung des Einzelbilds, die von Nakahira in seinem Essay übrigens mit einer Kritik an Henri Cartier-Bresson und Robert Frank begründet wird. Protest sind sie: gegen Komposition und technische Beherrschung, früher fotografischer Punk. Einzelbilder behält man tatsächlich kaum in Erinnerung, eher den rauschhaften Gestus. Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Coverfoto des Katalogs von Tomatsu stammt, der älter war als die Provoke-Fotografen. Es zeigt Takuma Nakahira beim wilden Eindreschen auf einen Punching Ball - und wäre diesem vielleicht schon zu zeichenhaft erschienen.

Die Lösung vom Politischen muss auch etwas Befreiendes gehabt haben, denn so beeindruckend die Protestbücher der Studenten sind - sie waren auf die Vergangenheit fixiert, Hiroshima, die einstige japanische Größe.

Ich weiß nichts über die japanische 68er-Bewegung - aber zumindest von den Fotobüchern geht anders als bei der gleichen Generation in anderen Ländern nicht die geringste Kritik an der Elterngeneration aus. So etwas wie eine Reflexion der japanischen Kriegsschuld und eine Abrechnung mit den Verantwortlichen sucht man vergebens. Das Trauma der Atombomben mag eine solche Abrechnung erschwert haben.

Die Lösung vom Politischen war auch eine Selbstermächtigung, denn die Fotostrecken waren signiert, Ausdruck von Individuen. Dass sie eine Öffnung nach außen war, zeigte schon der emphatisch kosmopolitische programmatische Essay Nakahiras. Noch mehr zeigt sie sich in der Verknüpfung zum Performativen, das damals überall die Künste eroberte. Der dritte Teil des Katalogs mit einem sehr informativen Essay von Walter Moser zeigt die Arbeit der Fotografen mit dem Butoh-Tänzer Tatsumi Hijikata, der von ihnen festgehalten wurde, wie er als Derwisch durch die Tokioter Straßen raste. Auch er war ein Avantgardist der Rückbesinnung, der die Konvention sprengte, indem er auf die Tradition zurückgriff. Eines seiner Themen, und damit auch der Fotografen war die Homosexualität. Hijikata wurde übrigens nicht nur von japanischen Fotografen verehrt - auch William Klein kam nach Tokio, um ihn zu fotografieren.

Der Katalog ist ein Trumm, nicht unbedingt leicht zu handhaben, eher klein im Format, 680 Seiten dick, flexibel gebunden, die Art Kompendium, die man ungern aufgeschlagen liegen lässt, weil man Angst hat, den Rücken zu brechen - aber es lohnt sich, Zeit damit zu verbringen. Beim Verlag ist er bereits vergriffen, aber da die Aussstellung wandert, dürfte er wohl noch greifbar sein.

Thierry Chervel

Provoke - Between Protest and Performance. Herausgegeben von Diane Dufour und Matthew Witkovsky, 680 Seiten, 600 Abbildungen, Vierfarbdruck, Paperback, 19 x 25 cm, Englisch, ISBN 978-3-95829-100-3, Göttingen 1. Auflage 02/2016, 60 Euro. Bestellen bei buecher.de