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Sichtbarkeitskriterium

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
11.06.2019. Mona Kuhn muss selbst geahnt haben, dass irgendetwas an der Art, wie sie die für ihr Werk wichtigen Elemente - Licht, Raum, Schönheit, Nacktheit - zusammenführt und arrangiert, zu glatt geht. Ihr neues Buch "She disappeared into Complete Silence" ist die großartige Bewältigung dieses Problems.
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Wer zwischen den siebziger und neunziger Jahren aufwuchs, für den ist Kalifornien etwas, an das er sich erinnern kann, auch wenn er nie dort gewesen ist. Wichtiger, als einmal von den Hollywood Hills über LA oder auf der Golden Gate Bridge über die San Francisco Bay geschaut zu haben, ist ohnehin, die Stimme von Jim Morrison im Ohr zu haben, wenn man in einer sächsischen oder oberösterreichischen Pampa festsitzt. Mit Bildern von Hitchcock oder Tarantino für die Belangsendung des Immergleichen gewappnet zu sein, die das Leben sein kann.

Zwischen Silicon Valley und Big Sur ist Kalifornien nicht nur eine Traumlandschaft in dem Sinn, dass endlose Ströme von Menschen seit der Zeit des Goldrauschs und der späteren Gründung der Filmstudios dort versucht haben, den Traum, den sie über sich selbst hatten, Wirklichkeit werden zu lassen. Bilder und Zitate aus unzähligen Filmen, Büchern, Platten und Videospielen bevölkern nicht nur die konkreten Trauminhalte von Menschen anderer US-Bundesstaaten, sondern sind förmlich in ein weltumspannendes, kollektives Unbewusstes eingesickert.

Kalifornische Träume handeln oft von Schönheit und Erfolg, sind daher unausweichlich an ein Sichtbarkeitskriterium gebunden - die Limousine, die Villa, die straffe Haut - und aus Licht gemacht, nicht etwa aus dem Dunkel einer vor allen verborgenen Finsternis (wobei die Schattenseiten des schönen Scheins auszuleuchten immer schon zum Kerngeschäft aller Geschichten über Kalifornien gehörte): Sonnenlicht, Scheinwerferlicht, Blitzlicht. Das halluzinogene Licht der Erkenntnis zwischen LSD und Power-Yoga. Das verheißungsvolle Funkeln einer Platin-Kreditkarte. Der Laserstrahl, der die Wogen des Alters im Gesicht glättet.

Mona Kuhn wird 1969 als Kind einer deutschen Auswandererfamilie in Sao Paulo geboren. Im Alter von zwölf Jahren beginnt sie zu fotografieren. 1992 zieht sie in die USA, wo sie sich nach ihrem Studium in Ohio und San Francisco in Los Angeles niederlässt. Ende der Neunziger Jahre gibt es erste Ausstellungen ihrer Fotografien. Nachdem sie zuerst in Schwarz/Weiß fotografiert, wird sie mit den Farbfotografien ihres zweiten, 2007 bei Steidl erschienenen Fotobuchs "Evidence" zu einer Marke mit Wiedererkennungswert.

Von einem in der Mitte des Buches platzierten, dürren alten Mann mit grauem Bart abgesehen, sind alle anderen ausschließlich nackten Männer und Frauen jung, glatt, attraktiv und schlank, ohne jede Spur des unablässig voranschreitenden Alterungsprozesses und ohne Anzeichen individueller, dem Körper eingeschriebenen Lebensgeschichten wie Operationsnarben oder Tattoos. Porträts einzelner, namenloser Köpfe und Oberkörper wechseln mit Ganzkörper- und Gruppeaufnahmen ab, in denen Kuhn ganz stark mit selektiver Schärfe spielt.

Einerseits geben die in einem, von der Sonne durchfluteten Haus in schimmernden Pastelltönen fotografierten Bilder Anlass, das Kopfkino einzuschalten und darüber nachzudenken, in welcher Beziehung die einzelnen Personen zueinander stehen, was ihrer Versammlung in aller Nackheit vorausgegangen ist und was noch folgen wird, wenn die Fotografin die Kamera wieder wegpackt. Nicht zuletzt, ob es zu Sex kommt und in welcher Form.

Andererseits haben Kuhns Fotos nichts mit den Arbeiten von Larry Clark oder Nan Goldin gemeinsam. Die Sexualität ist zwar im einen wie im anderen Fall unleugbar und in aller Selbstverständlichkeit vorhanden; gleichzeitig scheinen Kuhns Akteure nie von der natürlichen sexuellen auf die allzumenschliche erotische Ebene zu wechseln, geschweige denn, dass sie wie in Clarks "Kids" oder Goldins" The Devil's Playground" von Sex, Drogen und temporärer Langeweile gezeichnet sind.

Wenn Kuhns Akte eine Bilderstrecke aus einem Paradies wären, in dem der Sündenfall - so er denn überhaupt vorkommt - bedeutungslos bleibt, wären die in Finsternis gehüllten, von Mehrfachbelichtungen innerlich zerrissen Bilder von Prostituierten und ihren Freiern von Antoine D'Agata oder die Fotos aus dem schwulen BDSM-Milieu von Robert Mapplethorpe die visuelle Blaupause für jene Form von Hölle, in der Begierden, Perversionen, Pornografie, Prostitution sowie emotionale, sexuelle und ökonomische Abhängigkeit wurzeln.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass die einzige, vom Alter gezeichnete Person in "Evidence" aussieht, wie man sich einen asketischen, indischen Yogi vorstellt. Im Hinduismus spielt die Sexualität als ungerichtete, ans Körperliche gebundene, spirituelle Energie, die es letztlich im Tantra auf die Spitze zu treiben und dadurch zu ordnen und im Sinne kosmischer Transzendenz zu beherrschen gilt, ein große Rolle.

2010 erscheint bei Steidl ihr Buch "Native" (Buchvideo), in dem sie visuell in ihr Heimatland Brasilien zurückkehrt. Wie in "Evidence" sind Kuhns fotografische Tableaus auch hier von attraktiven, nackten, jungen Menschen bevölkert. Stärker jedoch als zuvor kommt der utopische Charakter von Kuhns Konfigurationen zum Vorschein: die im Sinne von Unschuld und Natürlichkeit inszenierte Nacktheit der Männer und Frauen erinnert ebenso an historische Darstellungen von Adam und Eva wie an indigene Mythen von im Herzen reinen, teils tragischen Liebespaaren.

Kuhns Nackte sind natürlich keine Yanomami vor der Ankunft der Portugiesen. Dennoch tragen sie Unverbrüchliches aus jenen (und noch früheren) Zeiten in sich, wovon auch Kuhns Aufnahmen zumeist menschenleerer Vegetation künden, die ans Amazonasgebiet vor der Besiedelung durch den Menschen denken lassen und so idyllisch in Szene gesetzt sind wie bei Claude Lorrain. So unterschiedliche Charaktere wie Goethe oder Jean-Jacques Rousseau hätte an diesen Bildern ihre Freude gehabt.

Wie in den Gemälden von Lorrain oder Poussin kommt den Figuren eine symbolische, metaphorische Bedeutung zu, die verhindert, dass sie ein allzu starkes Eigenleben entwickeln und unabhängig vom Kontext an Bedeutung erlangen. Ergebnis davon ist eine gewisse Flachheit, Eingeschränktheit, wie sie wohl jeder künstlerischen und philosophischen Vision innewohnt, die aufs Utopische und Transzendentale zielt.

Blick aus Robert Stones Haus, Foto aus dem besprochenen Band. Copyright: Mona Kuhn und Steidl Verlag



Erschwerend kommt hinzu, dass Kuhn bei ihren frühen Einflüssen zwar Lucian Freud und Eric Fischl nennt, dabei aber mitnichten an deren hemmungslose Auslotung des menschlichen Fleisches anknüpft. Vielmehr erinnert das rundweg exquisite Setting eher an die Ästhetik der Beauty&Fashion-Industrie, für die Kuhn immer wieder tätig ist (von "Chanel" bis Harper's Bazaar) - ein Umstand, der ihre  künstlerische Vision tendenziell schwächt, sie leichtgewichtig wirken lässt.

Kuhn muss selbst geahnt haben, dass irgendetwas an der Art, wie sie die für ihr Werk wichtigen Elemente zusammenführt und arrangiert, zu glatt geht. Wie also weiter vorgehen, wenn man das spirituelle und transzendentale Element, das nun mal unabdingbar mit Vorstellungen von Reinheit und Harmonie verbunden ist, beibehalten und dabei doch lebenswirklicher gestalten möchte, ohne jedoch die Grenze zum individuell Erotischen zu überschreiten, wie es in unterschiedlichen Nuancen von Francesca Woodman bis Bettina Rheims vorkommt?

Copyright: Mona Kuhn und Steidl Verlag
Kuhns großartige Bewältigung dieses Problems stellt das jüngst wieder bei Steidl erschienene Buch "She disappeared into Complete Silence" dar. Um es vorweg zu nehmen: Das Buch ist eines der wenigen, künstlerisch wirklich bedeutenden zeitgenössischen fotografischen Werke abseits der Spielarten der dokumentarischen Fotografie. In der konzisen Lässigkeit, in der Kuhn dabei subtil unzählige Momente der älteren und jüngeren Kunst- und Kulturgeschichte einfließen lässt und sie in einer architektonischen Vision mit den kalifornischen Universalien von Schönheit und Licht vereint, verfügen die Fotografien auf ihrem Gebiet potenziell über einen ähnlichen identitätsstiftenden Kultwert wie der "West Coast Jazz" von Gerry Mulligan und Chet Baker oder der "West Coast Hip-Hop" von Ice Cube und Snoop Dogg.

Am Rande des knapp zwei Fahrstunden von Los Angeles entfernten, in einer Wüstenlandschaft gelegenen Nationalparks Joshua Tree fotografiert Kuhn wie in "Evidence" wieder in einem lichtdurchfluteten Haus, das der dem Minimalismus verpflichtete kalifornische Architekt Robert Stone erbaut hat. Das von klaren Stein- und Metallstrukturen sowie großflächigen Glasfronten geprägte Gebäude erlaubt beinah übergangslose Innen- und Außenansichten, die sich in unzähligen Spiegelungen auffächern. Die spröde und flimmernde Formenwelt der Wüste vor der Tür wird dadurch ein Teil des Gebäudes, seine von Kuhn in Szene gesetzte, temporäre Bewohnerin wird ein Teil der Wüste. Obwohl sie Spiegelungen immer schon fasziniert haben, ist es Kuhn nie zuvor gelungen, die Verbindung und die wechselseitige Abhängigkeit von allem miteinander derart in Szene zu setzen: Mensch. Natur. Körper. Geist. Stein. Glas. Schatten. Licht.

Menschlicher Fixpunkt in diesem Raum der Brechungen und Übergänge ist eine schöne nackte Frau, die auf den ersten Blick alle Attribute Kuhnschen Personals aufweist, bei näherem Hinschauen sich jedoch wesentlich von den vorangehenden Modellen unterscheidet. Jung, aber nicht mehr ganz jung, glatt und schlank, aber nicht unerfahren, ein klares, jedoch weniger unschuldiges als selbstbewusstes Gesicht. Eine Frau, die sich selbst mag, in sich ruht und gelassen abwarten kann, was passiert. Optisch eine Art Catherine Tramell aus Michael Verhoevens Kultthriller "Basic Instinct" - jedoch ohne erkennbare biografische Wunden, private Obsessionen, ohne jeden Exhibitionismus und ohne jede, im Film unausweichlich fatal endende erotische Verstrickung. Überhaupt ohne jemand anderen als sich selbst. Nicht, dass der von einer langjährigen Freundin von Kuhn dargestellten Frau keine Leidenschaften oder sexuellen Handlungen zuzutrauen wären - sie definieren sie nur nicht, sind nicht substanziell für ihr Leben an diesem Ort, generell für ihr Dasein in Zeit und Raum.

Der Titel geht auf Louise Bourgeois zurück, an der Kuhn wahrscheinlich die Idee gefallen hat, dass für Bourgeois Architektur eine Form von transformierter Erinnerung ist - und Erinnerung ganz eigenen, architektonischen Bauprinzipien folgt.

Die Fotos erinnern weniger an Lucian Freud, als an eine Periode im Werk von Willem de Kooning, als dieser Mitte der Sechziger Jahre von Downtown New York nach Long Island zog und dort die Intensität des Lichts in Strandnähe und in Spiegelungen auf dem Wasser erlebte und seinen großformatigen Akten und Landschaften einverleibte.

Während den früheren Arbeiten von Kuhn auf der Suche nach einer Spiritualität des Körpers und einer Aufgehobenheit des hinfälligen Fleisches in einer Form von Zeitlosigkeit etwas Unzeitgemäßes, Unmodernes anhaftete, kommt sie mit "She disappeared into Complete Silence" in der Gegenwart an und formt geradezu ein mögliches Idol einer zeitgenössischen Frau.

Schlicht ein Must Have für Liebhaber*innen künstlerischer Fotografie.

Peter Truschner

truschner.fotolot @ perlentaucher.de

Mona Kuhn, She disappeared into Complete Silence. 104 Seiten, 23,7 x 31 cm. Softcover mit Fadenheftung im Schuber, Steidl Verlag. Göttingen 2019, 45 Euro. ISBN 978-3-95829-180-5. (Bestellen bei buecher.de)