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Wieder an den Nullpunkt

Über Bilder, Bände und Sites Von Peter Truschner
29.09.2017. Es hat nicht viele deutsche KünstlerInnen gegeben, die von Beginn an so gehätschelt und gepusht wurden wie Wolfgang Tillmans. Nun hat er eine Retrospektive in der Fondation Beyeler. Eine kritische Zeitreise durch den Katalog der Ausstellung.
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Als ich zu Bekannten von meinem Vorhaben sprach, etwas über Wolfgang Tillmans zu schreiben, setzten manche ein besorgtes Gesicht auf und verliehen ihrer Hoffnung Ausdruck, ich würde mit Tillmans nicht hart ins Gericht gehen. Diese Sorge hat ihre Ursache darin, dass Tillmans' Fotos aus den späten Achtzigern, frühen Neunziger Jahren für sie zu einer kollektiven Erinnerung geworden sind, als wären sie Teil ihres eigenen, selbst angefertigten Fotoalbums jener Zeit, als sie zu Grunge und Techno abgingen und mit Alkohol und Ecstasy einen intimen Umgang pflegten. Jemand, der sich an Tillmans vergreift, vergreift sich indirekt auch an ihrer Jugend. Das ist insofern aufschlussreich, als man - noch ohne sich den dreihundert Seiten starken, bei Hatje Cantz erschienen Katalog "Wolfgang Tillmans" der gleichnamigen Retrospektive in der Fondation Beyeler näher angeschaut zu haben - persönlich mit etwas konfrontiert wird, was sowohl der Konzeption des Buches als auch unzähligen Beiträgen zu Tillmans über die Jahre immanent ist: ein explizites Wohlwollen dem Künstler gegenüber, das hin und wieder die Grenzen zur Sentimentalität hinter sich lässt. Das Zweite ist, dass viele eine Meinung zu Tillmans haben - sein Ansatz, sein Anliegen, seine Verdienste um die Fotografie -, kaum jedoch eine zu konkreten Werken, wenn es sich nicht gerade um ein Lieblingsporträt oder "buddy pics" handelt wie bei "Barnaby" (1994) oder "Chemistry square" (1992).

Die Herausgeberin des Bandes und Kuratorin der Ausstellung, Theodora Vischer, ist sich dieses Problems bewusst: "Das Werk von W. T. wird gerne in Verbindung mit seiner Persönlichkeit wahrgenommen." Ihr ambitioniertes Vorhaben besteht nun darin, die "Einmaligkeit" von Tillmans "ausdrucksstarken" Bildern in den Vordergrund zu rücken, der "traditionelle Genres wie Porträts, Stillleben und Landschaftsbilder erneuert" und "das mechanische Medium der Fotografie in eine ausdrucksstarke, eigenständige Bildsprache verwandelt" hat.

Der beachtlich hohe Sockel, auf den Vischer Tillmans stellt verdankt sich keiner persönlichen Vorliebe, sondern entspricht dem ganz normalen Umgang mit Tillmans: Es hat nicht viele deutsche Künstler*innen gegeben, die von Beginn an so gehätschelt und gepusht wurden wie Tillmans. Auch hat es nur wenige gegeben, deren Selbstauskünfte den Bedürfnissen von KuratorInnen, KritikerInnen und KunsthistorikerInnen dermaßen entgegengekommen sind, sie geradezu gespiegelt haben, wie die von Tillmans. Selbst Christoph Schlingensief, ein in seinem letzten Lebensjahrzehnt vom Establishment ähnlich auf Händen getragener Artgenosse, musste sich erst eine Zeitlang gegen massiven Widerstand durchsetzen - eine Erfahrung, die Tillmans erspart blieb. Leider, ist man versucht zu sagen, wenn man durch die Ausstellung gegangen ist und sich durch das Buch geblättert und gelesen hat.

Da die Ferienzeit vorüber ist und Riehen (CH) nicht gerade um die Ecke liegt, bleiben wir beim Buch. Auf den Seiten 8 bis 17 gibt es erstmal Baumvariationen aus den Jahren 1995 bis 2014: durch das geöffnete Fenster, im Park, zwei davon grünstichig, mehr gibt's dazu nicht zu sagen. Auf Seite 18/19 dann als klarer Hinweis, mit wem man es hier zu hat, gleich mal die legendären Aufnahmen vom "Chemistry square". Danach immer wieder mal schöne Einzelstücke der "buddy pic" - Kategorie wie "Arkadia I (1996)". Seite 37ff. dann die frühen Fotokopierer-Arbeiten (1987) sowie der Rückgriff darauf zwanzig Jahre später. Seite 46ff. Aufnahmen von Kunstwerken in Museen (2002-14), die in etwa so spannend sind wie die "Bibliotheken"-Serie von Candida Höfer. Seite 48 ff. dann die Serie "paper drop" (2006-14), in dem Tillmans interessante, teils schöne abstrakte Bilder mit fotografierten, gefalteten Druckbögen gelingen. Auf den Seiten 57-69 das Gegenteil davon: völlig uninteressante, teils unscharfe Großaufnahmen zerknüllter, gebrauchter Wäschestücke, herumliegend, über die Treppe verteilt: 'Jeans, ein Treppengeländer herabrutschend', sozusagen. Seite 73-89 dann "Porträts", das eine oder andere an ältere Programme der "Berliner Volksbühne" erinnernd, eine Ästhetik also, die sich mit der Zeit doch abgenutzt hat. (Kleiner Hinweis für leidenschaftliche Egalitaristen: Für Tillmans macht es keinen Unterschied, ob es sich bei den Fotografierten um "Cameron" (2007) oder "Tilda Swinton" (2009) handelt.) Auf den Seiten 91 bis 103 entfaltet sich die von Vischer vollmundig angekündigte "Erneuerung des Stilllebens" (1995 bis 2015), wobei Tillmans überschaubares Spektrum (Fensterbänke, Zigarettenkippen, ausgepresste Orangenhälften, Pistazienschalen, eine verkümmerte Buntnessel) in seiner Vorhersehbarkeit eher deprimierend wirkt als konsequent. In einem kurzen Verzweiflungsakt blättert man weiter, um auf die geradezu hanebüchene Serie eines "apple tree" zu stoßen (2003-10) sowie zwei völlig uninteressante Fotos, die "Kopierer" (2010) mit hochgeklapptem Deckel bei der Arbeit zeigen.

Ziemlich genau bei den "Kopierern" ist für die Handvoll Tillmans-Nostalgiker, die ich dazu bringen konnte, sich mit mir Seite für Seite das Buch anzusehen, Schluss. Eine gewisse Erschöpfung macht sich breit. Ratlosigkeit. Wo ist die "Erneuerung des Stilllebens und des Porträts"? Wo sind - abseits der "buddy pics" - die "ausdrucksstarken" Bilder? Desillusionierung macht sich breit, die in einen Groll gegen mich umschlägt, als ich meinen Bekannten vorschlage, sich vorzustellen, das Gesehene (immerhin hundert Seiten) stammte nicht vom allseits verklärten W.T., sondern von einer Bayrischen Verwaltungsbeamtin namens Erna Gangelmaier, Mitte 50, aus Rosenheim: wie dann wohl ihr Urteil ausfallen würde? (Jaja, ich weiß, ein mieser, kleiner Taschenspielertrick.)

Das Schlimme (oder Gute, kommt darauf an, von welcher Seite man es betrachtet) ist, dass man nach einem Vierteljahrhundert der Lektüre von Texten zu Katalogen und Ausstellungen schon weiß, was Tillmans sagen wird, ja, muss, und was die Experten - von Obrist über Dercon bis Vischer - sagen werden, ja, müssen, um diesem Oeuvre die hohen, ja, allerhöchsten Weihen zu verleihen.

Originally W. T. "Als Jugendlicher habe ich erkannt, dass das, was andere oberflächlich nannten, für mich sehr tiefgründig war." "(...) Ich merke, dass die Dinge, die ich fotografiere, für mich gar nicht so alltäglich sind. (...) Mir persönlich geht es darum, die einfachen Dinge in meiner Umgebung in etwas Einzigartiges zu verwandeln." Über den Kopierer: "Da ist diese scheinbar kalte Maschine, aber eigentlich hat sie durchaus Seele." "Ich beseitige alles, was an der Porträtkunst künstlerisch ist" (das hat sich Velazquez entsprechend seiner Zeit in seinen Porträts der Königsfamilie auch schon gedacht, und Bacon in seinen Porträts sowieso) "interessantes Licht, 'besondere' Techniken und die verschiedenen Stile, die uns von den Porträtierten trennen (sic) " (haha, sorry, aber zu viel ist zu viel), "und die gewöhnlich als Verbesserungen des Abgebildeten gelten." Die Porträts für Magazine bringen T. wiederum "jedes (sic) Mal wieder an den Nullpunkt des Zwischenmenschlichen zurück, den Punkt des Nichtwissens." (Jedes Zen-Buddhismus-Kloster muss da vor Neid erblassen.)" Und: "(...) Zulassen, was passieren könnte, (...) offen für alle (sic) Zufälle zu bleiben, die ins Spiel kommen können." (Interessant. Wie soll das gehen, wenn man kurz vorher so vieles bewusst 'beseitigt'?) "Es geht also um diese Erfahrung (...), wie alles (sic) das Potenzial zum Außergewöhnlichen hat."


Undsoweiterundsoweiter.

Auf Seite der Rezeption führt eine derartige, vom Erfolg stetig genährte (und daher kaum einmal von Kritik perforierte) Selbstaffirmation zur rückhaltlosen Lobhudelei, die das Werk in Wahrheit mehr beschädigt, als sie ihm nützt. In ihrem Essay am Ende des Buchs spricht Vischer auf Seite 295 von der "Vielfalt, Mehrdeutigkeit und Offenheit" als den Attributen von Tillmans' Schaffen. Und: "Die Faszination, im scheinbar Offensichtlichen unvermutet Ungesehenes zu entdecken und sichtbar zu machen." Seite 296: "Der spezifische Blick von Tillmans: nie anbiedernd, aber aufmerksam, offen, liebevoll und neugierig." Auf derselben Seite (!): "Der spezifische Blick von Tillmans (...) ist geprägt von Hingabe und Neugierde gegenüber der sichtbaren Welt." Und "der eigene Blick" öffnet sich ebenfalls zum wiederholten Mal "einer (...) Bildwirklichkeit, die man sonst nicht zur Kenntnis nimmt" und "die auch nicht weiter definiert ist" (was immer das bedeuten mag). Nun gut. Auf Seite 297 macht sich Tillmans auf die Reise nach Schanghai. Oder auch nicht, denn wenn Tillmans außer Haus geht und verreist, ist das keine Banalität wie bei Ottonormalverbraucher, sondern etwas Profundes: "Nach jahrelanger Arbeit im Studio kam die Reise einer Rückkehr in die Außenwelt gleich." Die Fotos, die infolgedessen auf weiteren Reisen entstehen, "breiten eine in jeder Hinsicht neue Welt vor einem aus". Das ist eine Beschreibung, die vielleicht - in völlig unterschiedlicher Weise - auf Pieter Hugos "The Hyena and other men" oder Antoine D'Agatas "Insomnia" zutrifft, aber sicher nicht auf den Großteil der Fotos, die Tillmans unter dem Titel "Neue Welt" (2012) zusammengefasst hat.

Was bleibt nach dieser Bestandsaufnahme, die auch nicht dadurch besser wird, dass sich zum Beispiel in Tillmans Serie "Freischwimmer" (2004) tatsächlich ungewöhnliche und "ausdrucksstarke" Abstraktionen finden lassen? Im Grunde nichts. Jede/r kann sich aus Tillmans Portfolio das herausnehmen, was er/sie will, und wird damit keinen Fehler machen (mein Tipp: ein paar schöne Abstraktionen mitnehmen und ansonsten bei den "buddy pics" bleiben). Es sollte ihm/ihr dabei egal sein, dass Tillmans weder eine wirkliche Erneuerung des Porträts, noch des Stilllebens und der Landschaft gelungen ist.

Nachdem wir es noch bis zum Sternenhimmelbild "Kilmanjaro" (2012) auf Seite 176/77 geschafft haben, stellen meine Bekannten noch die Frage nach dem Ursprung des andauernden Hypes um Tillmans.

Der erste Grund ist: Tillmans hat wirklich einiges sowohl in Bezug auf die Materialität als auch die Methodik der Fotografie geleistet, das niemand in Abrede stellen kann.

Der zweite Grund ist: Seit Tillmans 1995 beim Kölner Verlag Taschen veröffentlicht, rasch zur Galerie Buchholz gefunden und 2000 den Turner Prize gewonnen hat, ist ihm - durchaus auch zum Nachteil seiner Arbeit - immer nur der Teppich ausgerollt worden. Das in Nachhinein in Frage zu stellen oder zumindest zu relativieren, würde die meisten KritikerInnen und KuratorInnen dazu zwingen, ihr eigenes Urteilsvermögen zu hinterfragen, und KritikerInnen und KuratorInnen, die dazu in der Lage und willens sind, ohne unmittelbar vor ihrer Pensionierung zu stehen, gibt es schlichtweg nicht.

Der dritte Grund ist banal, aber nachvollziehbar: Wer sich mit der Zeit vor dem marktorientierten Unternehmertum eines Jeff Koons oder Olafur Eliasson ekelt, ist bei Tillmans auf der sicheren Seite. Es ist absolut auszuschließen, dass Tillmans sich und sein Werk je in einer Weise dazu hergeben würde, wie Koons aus unverhohlener Geldgier wie der Lackierer von nebenan die Yacht eines griechischen Industriemagnaten anzupinseln oder wie Eliasson den Palazzo des französischen Milliardärs François Pinault (dem auch das Auktionshaus Christie's gehört) mit bunten Fäden zu dekorieren, als gälte es, den Weihnachtsverkauf im Kadewe einzuläuten.

Statt Oligarchen hinterherzulaufen, hat Tillmans mit dem Showroom "Between Bridges" eine Non Profit-Plattform geschaffen, die unter anderem die Arbeiten von Fotograf*innen zeigt, die mit der Zeit in Vergessenheit geraten sind, und sich dafür engagiert, dass die Menschen ihr Wahlrecht wahrnehmen. Was das betrifft, ist Tillmans in gewisser Hinsicht der geblieben, als den ihn seine Fans der ersten Stunde in Erinnerung haben. Angesichts des Ausmaßes seines Erfolgs keine Kleinigkeit.

Peter Truschner

Wolfgang Tillmans, Herausgegeben von Wolfgang Tillmans für die Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Text(e) von Theodora Vischer und anderen, Wolfgang Tillmans, Gestaltung von Wolfgang Tillmans, Paul Hutchinson. Deutsch. Berlin, Hatje-Cantz, 2017. 304 Seiten, 383 Abbildungen. Gebunden mit Schutzumschlag. 24,50 x 30,50 cm, ISBN 978-3-7757-4328-0. (Bestellen bei buecher.de)