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Gottlos, roh und unschicklich

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
14.03.2019. Mit den Bildern wird es immer schwieriger: Wer über Fotobücher,  Ausstellungen oder KünstlerInnen schreibt, kann die Artikel kaum mehr illustrieren. Pressestellen geben fast nur unverfängliches Material  heraus, Heikleres soll lieber nicht gezeigt werden. Bildrechte blockieren die Auseinandersetzung mit Kunst. Und dann stellt sich noch die Geldfrage.
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Für Leute, die wie ich über Künstler*innen, Ausstellungen und Bücher schreiben, gehört es im Zuge eines Artikels inzwischen mit zur spannendsten Frage, welches Pressematerial, vor allem: welche Fotos man von Museen oder Verlagen zur Verfügung gestellt bekommt. In alten Zeiten, sprich: noch vor ein paar Jahren, war das einfach. Entweder man bekam einen Überblick über die gesamte Auswahl, oder aber man hatte vorab selbst eine Auswahl getroffen, die man dann  problemlos in druckfähiger Größe zugeschickt bekam.

Das hat sich grundlegend geändert.

Das hat einerseits mit der immer heftiger geführten Debatte um Bild- und Verwertungsrechte zu tun und der Möglichkeit, mit Bildern und Texten im Sinne der Berichterstattung frei und dabei möglichst unentgeltlich zu verfahren. Man könnte sagen, dass es sich im Kern um eine Auseinandersetzung um ein Gut handelt, dessen Besitz immer schon heiß begehrt und umkämpft war: Geld. Habe ich auf etwas das alleinige Recht, gebe ich zudem nicht nur den Preis , sondern auch den Gebrauch vor, den man davon machen kann.

Zu dieser, in kapitalistischen Zeiten ohnehin wenig verwunderlichen Problemlage, deren Sprengkraft sich bei weitem noch nicht entfaltet, sondern erst angedeutet hat - etwa im Urteil des Bundesgerichtshofs zum Fotografieverbot im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum -, gesellt sich eine zweite Debatte, die in ihren möglichen Auswirkungen vielleicht als noch verheerender eingeschätzt werden muss: der Kampf um den Geltungsbereich und die Inhalte der Political Correctness: Wer darf was wann wo und wie - und wer darf nicht.

Wenn man es von dieser Warte aus betrachtet, ist die "Political Correctness" kein aktuelles Phänomen - wie vor allem von rechtskonservativer Seite immer wieder behauptet wird, sondern etwas, das es immer schon gegeben hat: Der Kampf um Deutungshoheit, wie ihn etwa Paul Feyerabend in Bezug auf die Wissenschaft oder Michel Foucault in Bezug auf die hierarchische Ordnung von Diskursen dargestellt haben. Am Beispiel des legendären Salon de Paris des 19. Jahrhunderts, in dem Karrieren gemacht oder im Keim erstickt wurden, könnte man rückwirkend darüber nachdenken: Wer durfte überhaupt ausstellen? Wer kam ins Grand, wer ins Petit Palais? Wem blieb der Zugang versperrt? Wer wurde gänzlich totgeschwiegen? Und warum wurde Manet irgendwann vorgelassen, während Cézanne draußen bleiben musste?

Die Messe Paris Photo im Grand Palais 

Auch das Moralinsaure des gegenwärtigen Diskurses gab es immer schon: die Gottlosigkeit, die Verrohung der Sitten, die Verführung der Jugend, die Unschicklichkeit für Frauen, die Schrumpfung des Gehirns - alles wurde aufgefahren, um den freien Zugang zu gewissen Büchern, Filmen und Gemälden zu erschweren oder ganz zu verbieten.

Auch die Leichtfertigkeit, mit der heute Anschuldigungen wie "rassistisch" oder "sexistisch" im Mund geführt werden, gab es schon zu Zeiten, in denen Rassismus und Sexismus noch zu unhinterfragten Konstanten der patriarchalen, westlichen Gesellschaften gehörten. Von "ketzerisch" bis "entartet" lauteten die Verdikte, die solcherart stigmatisierte Künstler*innen und ihre Werke in existenzielle Bedrängnis bringen konnten. Mit "typisch weiblich" wurden noch in den achtziger Jahren Aspekte eines von einer Frau geschaffenen Kunstwerks augenzwinkernd abgewertet. Ein "schwules Ambiente" war zu selben Zeit ebenfalls nichts, das die eigenen vier Wände oder eine Bühne bereicherte, sondern das es zu vermeiden galt.

"Kontext, Vokabular, Ideologien und Technologien verschieben sich alle mit der Zeit", schreibt Siri Hustvedt in ihrem Essay "Warum Goya?", aber "Furcht, Zorn, Gewalt, Verlust" - mithin der ewige menschliche Kampf, bleibt immer derselbe. Dementsprechend geht "weißer alter Sack" heute vielen leicht über die Lippen, die sich über das zuvor gebräuchliche "alte Schachtel" empören würden.

Vor allem die Technologie hat mit der Digitalen Revolution einen Quantensprung hinsichtlich der Geschwindigkeit gemacht, in der sich Informationen verbreiten und an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt zugänglich sind. Eine Debatte darüber, ob man Balthus im MoMa in New York noch zeigen kann oder für die Besucher mit einem Kommentar versehen muss, führen zu einer sofortigen Diskussion darüber, ob man in Basel eine Balthus-Ausstellung veranstalten sollte, sowie zu Mutmaßungen in den Social Media über gewisse Vorlieben von Menschen, die einen Bildband von Balthus kaufen.

Diese radikal beschleunigte und potenziell flächendeckende Distribution geht dabei eine Allianz mit dem gegenwärtigen Narzissmus der feinsten Unterschiede ein. Während er die Biodiversität auf der Erde in unfassbarer Geschwindigkeit zerstört, besteht der Homo Oeconomicus des globalen Kapitalismus vehement darauf, dass jeder seiner Ausdifferenzierungen Respekt entgegengebracht und auf die daraus ableitbaren Empfindlichkeiten bedingungslos Rücksicht genommen wird.

Für die Kunst bedeutet das: Um Konflikten aus dem Weg zu gehen, die durch die Kränkung narzisstischer Subjekte hervorgerufen werden, versucht man in vorauseilendem Gehorsam, jeden Konflikt zu vermeiden, der zu einem Imageschaden für die jeweilige Institution oder das Unternehmen führen kann. In weiterer Folge sollen nicht nur Museen, Theater, Orchester oder Film Sets für die involvierten Akteure zu einem Safe Space werden, sondern die Kunst an und für sich.

Auch der vorauseilende Gehorsam ist letztlich nichts Neues und kann zudem durchaus wertvolle Aspekte transportieren wie die Sensibilisierung hinsichtlich sexueller Übergriffe und Machtmissbrauch in Folge von #metoo. Andererseits verleitet er zu Schnellschüssen: Kaum sind die Vorwürfe über sexuellen Übergriffe von Bruce Weber publik geworden, wird die zwei Jahre vorbereitete Ausstellung in Hamburg diskussionslos abgesagt. Kaum hat die Schauspielerin Roseanne Barr einen rassistischen Tweet abgesondert, werden auf aller Welt über dreißig Jahre alte Folgen von "Roseanne" aus dem Programm genommen - obwohl Barr zum damaligen Zeitpunkt noch eine ausgesprochene Linksliberale war.

Um eine Brücke zum Ausgangspunkt dieses Textes zu schlagen, möchte ich zwei Beispiele anführen, die das aufgrund der genannten Sachverhalten problematischer gewordene Schreiben über Fotografie und Kunst im Allgemeinen illustrieren.

© Sally Mann, courtesy Gagosian Gallery

Vor kurzem gab es die große Retrospektive "A thousand Crossings" von Sally Mann im Getty Museum in Los Angeles, die im Juni auch im Jeu de Paume in Paris zu sehen sein wird. Beim Verlag "Abrams" erschien dazu das gleichnamige Buch. Mann ist in vielerlei Hinsicht faszinierend. Nicht nur hat sie großartige Bilder von den Landschaften und Menschen des amerikanischen Südens gemacht, die es an Intensität mit Klassikern wie Robert Adams aufnehmen können - berühmt und teilweise berüchtigt ist sie vor allem für die Porträts ihrer nackten Kinder in "Immediate Family" (1992) und die schonungslose Darstellung verwesender, mit der nackten Erde verwachsender toter Körper ("What remains", 2004). Der Tod und Vergänglichkeit sind auch in den Fotos der Kinder präsent, ebenso wie Sinnlichkeit und unspezifische Lust.

Zwar gab es für die Porträts der Kinder Kritik von der amerikanischen Rechten - im linksliberalen Milieu nahm bis heute ebenso wenig jemand daran Anstoß wie an ihrer Missachtung der Privatheit des Todes.

Als ich über die Ausstellung und das Buch schreiben will, schickt mir der Abrams Verlag fünf völlig unverfängliche Fotos - vier davon elegische Baum-Motive -, die die Heftigkeit von Manns Werk in keinster Weise wiedergeben. In den großen amerikanischen Medien ist das anders, dort ist Mann unter anderem vom Time Magazine 2001 zur bedeutendsten amerikanischen Fotografin gewählt worden (wobei auffällt: prekäre Fotos sind in den Print-Versionen deutlich weniger zu sehen als online). Aber es gab noch nie eine Einzelausstellung von Mann in Europa, ihre Reputation ist von daher nicht abgesichert, da will man offensichtlich kein Risiko eingehen und das Publikum abschrecken.

Im zweiten Beispiel geht es um das Buch "Ultima Thule" des dänischen Fotografen Henrik Saxgren. Das Buch wurde 2018 mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet und zeigt die raue, von jeder Sentimentalität wie von einem eisigen Wind blank gefegte Wirklichkeit von Wal- und Robbenjägern in der grönländischen Arktis.

© Henrik Saxgren, Hatje Cantz

Für sensible Naturen  - noch dazu solche, die dem Tierschutz oder dem Veganismus anhängen - ist das Buch schlicht eine Zumutung. Kernstücke sind nicht nur Bilder der grimmigen Eiswüste und Porträts der vom Leben in dieser Wildnis gezeichneten Menschen, sondern auch Fotos gehäuteter Tiere, deren Köpfe in Nahaufnahme aussehen wie aus einem Film der "Predator"-  oder "Alien"-Reihe. Ein zugleich kristallklar schneidendes und halluzinatorisches Werk.

Die Handvoll Fotos, die mir von Hatje Cantz für die Publikation zur Verfügung gestellt werden, sind punktgenau die harmlosesten und unverfänglichsten des Buches und geben dessen Charakter - nicht anders als bei Sally Mann - absolut nicht wieder.

Da die Pressechefin Jennifer Berndt eine äußerst hilfsbereite, entgegenkommende Person ist, frage ich nach, ob ich andere Fotos bekommen könnte. Berndt bedauert, mir nicht weiterhelfen zu können, da Saxgren lediglich diese Fotos zur Veröffentlichung freigeben hat. Ich schreibe ihm eine Email, in der ich ausführlich auf seine Arbeit eingehe und meinen Wunsch zum Ausdruck bringe, sie in allen grenzüberschreitenden Details würdigen zu wollen. Saxgren antwortet mit einem knappen Zweizeiler. In der ersten Zeile bedankt er sich für meine Nachricht. In der zweiten klärt er mich ohne Umschweife auf: "If you want other photos you have to pay."

Die beiden Beispiele öffnen einen weiten Raum für Spekulationen.

Würden Sally Manns Arbeiten die Filter des Zeitgeistes ebenso unbeschädigt überstehen, wenn sie ein Mann wäre? Würde es dann zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt eine solche Retrospektive in Europa geben?

Und würde es andersherum endlich eine große, längst fällige Retrospektive von Antoine D'Agata in Deutschland oder den USA geben, wenn sein unglaublich intensives und heutzutage in mancher Hinsicht angreifbares Werk von Antoinette D'Agata geschaffen worden wäre und schon mal das gerade populäre Totschlagargument des "male gaze" wegfallen würde?

© Antoine D'Agata, Editions Xavier Barral
Interessant dabei ist. wer oder was dafür verantwortlich ist, dass der Daumen nach oben oder nach unten zeigt. Wie kann es sein, dass so viele Maler, Fotografen und Forscher für ihren westlichen, reduktionistischen Zugang zu einheimischen Bevölkerungen auf kolonial erschlossenen Erdteilen verurteilt werden - während der Fotograf Irving Penn dafür abgefeiert wird?

Spekulationen sind nicht nur in genderspezifischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht relevant: Wird sich das Modell der Art Basel flächendeckend durchsetzen, in der es nicht nur die auf Messen üblichen Tage für die Aussteller und fürs Publikum gibt, sondern inzwischen auch eine "Unlimited"-Sektion für Auserwählte, die uneingeschränkten Zugang zu Werken, Künstler*innen, Informationen und Dienstleistungen bekommen? Werden Medien - so es sich nicht um Premium - Formate wie die New York Times handelt - in ihrer Berichterstattung im Grunde nur noch als Übel angesehen und abgespeist werden?

Und werden Künstler*innen, deren Koordinaten - Geschlecht, Alter, Herkunft sowie Inhalt und Form ihrer Werke - nicht ins Bild passen, ihre Werke wieder achtzehn Jahre mit der Vorderseite an die Wand lehnen (müssen) wie Picasso seine "Demoiselles D'Avignon"? Werden Sammler*innen gewisse Werke wieder unter Verschluss halten (müssen) und nur ausgewählten Personen enthüllen wie Jaques Lacan Courbets "L'Origine du Monde"? Werden die bedeutendsten Werke ihrer Zeit überhaupt in Zollcontainern im Hafen von Hongkong verschwinden?

Courbets "L'Origine du Monde"  im Museé D'Orsay


Auf der gegenüberliegende Seite dieses immer regressivere Formen ausprägenden Linksliberalismus hat inzwischen die wieder erstarkte Rechte ihre Zelte aufgeschlagen und formiert sich zum immergleichen, antidemokratischen Kulturkampf, dem kritische Künstler*innen und Intellektuelle seit jeher mit als erste zum Opfer fallen. Und da die Mitte vor allem die Angst vor Wohlstandsverlust umtreibt, sehen sich innovative  Künstler*innen vor die altbekannte Tatsache gestellt, dass sie gesellschaftlich nirgendwo zuhause sind.

Wie auch immer die Zukunft aussieht: Es ist anzunehmen, dass sich einiges nicht im Sinne der Freiheit der Kunst entwickeln wird; gleichzeitig dürfte wieder heftiger um die Kunst gerungen werden, als das im relativ ruhigen, letzten Vierteljahrhundert der Fall war.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de
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