Magazinrundschau
Unsere geisterhafte Verfassung
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.06.2021. Atlantic sucht bei den Amerikanern vergeblich nach gemeinsamen Werten. Auch Denik N vermisst einen Wertekompass bei den Tschechen. La vie des idees fragt, wie Irland sich säkularisieren kann, wenn an den Schulen weiter das katholische Wertesystem gilt. Peter Nadas denkt in Elet es Irodalom über Vor- und Nachteile der digitalen Fotografie nach. Die London Review fragt, warum Afrika so wenig interessiert ist an sich selbst. Der New Yorker ortet einen Gelbhaubenkakadu in einem Gemälde von Mantegna und überlegt, wie der australische Vogel dahin kam.
London Review of Books (UK), 01.07.2021
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Susan Sontag sagte über Simone Weil, dass nicht unbedingt ihre Ideen selbst bewunderungswürdig seien, sondern vielmehr diee absolute Ernsthaftigkeit, mit der sie sich ihnen hingab. Toril Moi kann dem in ihrer Hommage auf die sozialrevolutionäre Mystikerin nur halb zustimmen: "Weil wollte ernstlich das Leiden anderer teilen. Als Lehrerin verbrachte sie einen Großteil ihrer Zeit mit Gewerkschaftsarbeit. 1934 bis 35 nahm sie eine Auszeit und arbeitete an einer syndikalistischen Analyse des Marxismus, die später als 'Unterdrückung und Freiheit' veröffentlicht wurde. Im Dezember begann sie am Fließband von Alsthom zu arbeiten, wo elektrische Maschinen gefertigt wurden. Die Arbeit war gefährlich, und sie wurde von den Vorarbeitern schikaniert. Da es ihr an Kraft und Gewandtheit mangelte, machte sie Fehler und konnte ihre Quoten nicht erfüllen. Nach einem Monat wurde sie krank und musste sechs Wochen aussetzen. Zur besseren Genesung schickten ihre Eltern sie in ein Sanatorium in die Schweiz. Sobald es ihr besser ging, kehrte sie in die Fabrik zurück, wo sie einen weiteren Monat überstand, bevor sie kündigte (oder gekündigt wurde). Danach fand sie Arbeit bei Carnaud, wo Gasmasken und Ölkännchen produziert wurden, auch da wurde sie nach wenigen Wochen entlassen. Dann wurde sie von Renault eingestellt, aber Ende August entlassen. Das Erleben von gefährlicher, körperlich erschöpfender und seelisch zermürbender Fabrikarbeit bildet den Hintergrund für ihre Schrift 'La condition ouvrière' - eine Sammlung von Tagebuchnotizen, Briefen und Essays -, in denen sie untersucht, wie der Kapitalismus Körper und Seelen der Arbeitenden zerstört. Als Hannah Arendt dies in den fünfziger Jahren las, meinte sie, es sei das Beste, was je zu diesem Thema geschrieben wurde."
Besprochen werden zudem Anne Sebbas Biografie der 1951 in den USA zum Tode verurteilten Sowjetspionin Ethel Rosenberg und David Storeys Memoir "A Stinging Delight".
Elet es Irodalom (Ungarn), 25.06.2021
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The Atlantic (USA), 01.08.2021
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In einem weiteren Beitrag zeichnet Kaitlyn Tiffany die Firmengeschichte von Kodak nach: "Das Geschäftsmodell war einfach: Verteile zigmillionenfach billige Kameras, mitunter waren sie sogar gratis, und erschaffe eine lebenslange Kundschaft für das viel lukrativere Produkt des Films. Der Reichtum machte Kodak ehrgeizig. Man schuf das Filmformat für Hollywood, die Super-8-Technologie für den Homemovie-Markt, das System, um den Mond zu kartografieren, und Spionagekameras … 'Beweise es mit Kodak', 'Urlaub ohne Kodak ist vergeudeter Urlaub', 'Lass Kodak die Geschichte erzählen', gingen die Werbeslogans. 'Kodaking' wurde zum Verb, so wie 'Instagramming'."
Außerdem: Timothy McLaughlin und Rachel Cheung schreiben einen Nachruf auf das Tabloid Apple Daily, "aufrührerisch und sensationslüstern, feurig und unverschämt prodemokratisch", mit dessen Schließung durch die chinesischen Behörden die Pressefreiheit in Hongkong zu Ende geht. Und anlässlich von Laura Fairries Filmdoku "Lady Boss: The Jackie Collins Story" feiert Sophie Gilbert die britische Bestsellerautorin, die Frauen mit ihren Romanen wieder und wieder versichert hat, dass "ihre Lust und ihre Autonomie" so wichtig ist wie von jedem anderen.
Denik N (Tschechien), 29.06.2021
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La vie des idees (Frankreich), 25.06.2021
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Magyar Narancs (Ungarn), 23.06.2021
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New Yorker (USA), 01.07.2021
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Wie kommt ein Gelbhaubenkakadu auf ein Gemälde Mantegnas (hier das ganze Bild)? Der Vogel hat sein Hauptvorkommen in Australien und einigen Inseln Indonesiens und belegt, dass es Handelsbeziehungen zwischen Europa und Gegenden gab, deren Namen man damals noch nicht mal kannte. Der Vogel thront über einer Madonna Mantegnas, die heute im Louvre hängt, und soll wohl auch den Reichtum seines Auftraggebers, des Herzogs von Gonzaga zeigen. Entdeckt hat den Vogel die Historikerin Heather Dalton, die in Melbourne lebt, und Rebecca Mead erzählt die Geschichte dieser Entdeckung. Dalton "hielt es für plausibel, dass der Papagei über das neunzig Meilen östlich gelegene Venedig nach Mantua gelangt war, wo Kaufleute Glas und Keramik exportierten und Luxusartikel einführten. In ihrem Aufsatz für die Zeitschrift Renaissance Studies bemerkte sie: 'Wohlhabende Bürger italienischer Stadtstaaten, die solche Waren kauften, wussten vielleicht ihre Seltenheit zu schätzen, verstanden aber wenig von ihrer geografischen Herkunft.' Waren, die auf venezianischen Märkten ankamen, hatten auf ihrer Reise viele Male den Besitzer gewechselt: 'Ein Papagei kann wie ein Kunstwerk eine ganze Reihe von Besitzern gehabt haben, während er nach Westen in Richtung Europa transportiert wurde.' Eine Handvoll italienischer Händler soll sich laut Dalton im 15. Jahrhundert bis nach Java und zu den Molukken vorgewagt haben, wo sie möglicherweise auf chinesische Kaufleute trafen, die auf bestehenden Handelsrouten noch weiter östlich unterwegs waren - und unterwegs einen prestigeträchtigen Papagei erbeuteten." Übrigens gab es schon im berühmten Falkenbuch des Stauferkönigs Friedrich II. aus dem 13. Jahrhundert einen solchen Kakadu.
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