Magazinrundschau
Falsche Kosmopoliten
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
07.12.2021. Rest of World erzählt, wie die chinesische LGBTQI-Szene im Netz ausgelöscht wird. Die World Socialist Web Site fragt, ob die New York Times noch den Unterschied zwischen Geschichte und Narrativ kennt. Der Merkur geißelt das antiaufklärerische Politikverständnis der verwöhnten Deutschen. In Liberties fragt der Übersetzer Benjamin Moser, wie wir in fremde Kulturen eintauchen können, wenn wir unsere eigene kaum noch kennen. The Atlantic warnt vor dem Aufbau eines Apparats für Wahldiebstahl durch die Republikaner.
Rest of World (USA), 30.11.2021

HVG (Ungarn), 07.12.2021

World Socialist Web Site (USA), 25.11.2021

Hätten deutsche Zeitungen noch Kulturkorrespondenten, hätten sie vielleicht intensiver über die Debatte berichtet. Denn hier geht es, ähnlich wie in der deutschen Debatte um A. Dirk Moses um den Widerstreit zwischen Geschichte und "Narrativ", Fakten und politisch erwünschten Wahrheiten. Der Streit ist um so giftiger, als selbstverständlich auch die Trumpianische Rechte sich seiner bemächtigte und ihn für ihre Zwecke ausbeutet.
Auf der World Socialist Web Site antwortet nun der Historiker Tom Mackaman auf Silversteins Artikel und das Buch. Ihn stört schon Hannah-Jones' Grundkonzept des Projekts, an dem fast nur schwarze Historiker beteiligt waren: "Wenn nur schwarze Historiker wirklich wissen können, was in 'black history' zur Debatte steht, muss daraus folgen, dass nur Weiße in der Lage sein können, die 'weiße Geschichte' zu kennen. Daraus folgt, dass schwarze Historiker sich nicht mit Episoden der Geschichte befassen sollten, in denen die Akteure überwiegend weiß waren - zum Beispiel mit der politischen Geschichte der amerikanischen Revolution oder des Bürgerkriegs. Diese Sichtweise ist offensichtlich durch und durch reaktionär. Dennoch bedingte sie den Versuch der Times, 'fast jeden Mitarbeiter' für das 1619-Projekt auf der Grundlage der schwarzen Identität auszuwählen, wie die Zeitung bei der Vorstellung des Projekts schrieb."
Silverstein verteidigt in seinem New York Times-Artikel mit geringen Einschränkungen die These, dass die Revolution zur Verteidigung der Sklaverei ausgefochten wurde, obwohl etwa Autoren wie Leslie M. Harris in Politico eingewandt hatten , dass die Sklaverei damals von Britannien überhaupt nicht in Frage gestellt und etwa in der Karibik eifrig weiter betrieben wurde, trotz des entstehenden Abolitionismus. Silverstein verteidigt auch die Idee des "Narrativs": In Antwort auf eine Rede des Gouverneurs Ron DeSantis schreibt er: Das Bestehen auf historischer Überlieferung sei selbst ahistorisch. "Wer die 'eigentlichen Fakten' gegenüber dem Narrativ hervorhebt wie der Gouverneur und viele andere, scheint von der Prämisse auszugehen, dass Geschichte eine ein für alle Mal fixierte Sache ist. Und dass Historiker nur dafür da seien einen Bestand relevanter Fakten zu hegen und zu verbreiten."
Mackaman schreibt zu diesem Argument Silversteins und Hannah-Jones': "Ihnen gilt Narrativ schlicht als eine 'Story', die über die Vergangenheit erzählt werden kann - tatsächlich haben sie ihrem Buch den Untertitel ' A New Origin Story' gegeben. In ihrer Sicht der Dinge ist eine Geschichte so gut wie die andere."
Merkur (Deutschland), 01.12.2021

Florian Hannig liefert eine kleine Begriffsgeschichte der Betroffenheit, die als schillernde Vokabel und umkämpfte Ressource für Anerkennungskämpfe der Identitätspolitik voranging: "Auch von links kam Kritik: Auf dem Weg zum Parlamentarismus warfen die ehemaligen Spontis Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit nicht nur ihre Anti-Stellvertreterpolitik über Bord, sondern distanzierten sich allgemein von Betroffenheit als politischer Praxis. Fischer fragte 1984: 'Seien wir doch ehrlich: Wer von uns interessiert sich denn für Wassernotstände im Vogelsberg, für Stadtautobahnen in Frankfurt, für Atomkraftwerke irgendwo, weil er sich persönlich betroffen fühlt?' Innerhalb der Frauenbewegung wurden Stimmen laut, die zwar nicht komplett mit dem Konzept brachen, aber nachdenklich fragten, ob die Bewegung sich durch die Norm 'Betroffenheit-geht-vor-Inhalt' einer notwendigen Form der Selbstkritik beraube."
Liberties (USA), 07.12.2021

En attendant Nadeau (Frankreich), 01.12.2021

The Atlantic (USA), 01.01.2022

Rebecca Giggs stellt zwei Bücher vor - "Hurricane Lizards and Plastic Squid: The Fraught and Fascinating Biology of Climate Change" von Thor Hanson und "A Natural History of the Future: What the Laws of Biology Tell Us About the Destiny of the Human Species" von Rob Dunn -, die untersuchen, wie es einigen Tierarten gelingt, sich der Veränderung der Welt durch die Menschen und dem Klimawandel anzupassen. Vielleicht können wir davon lernen? Die Erkenntnisse sind jedenfalls überraschend: "Wissenschaftler, die sich mit der Überwachung der städtischen Tierwelt befassen, weisen darauf hin, dass bebaute Gebiete mehr gefährdeten Arten Schutz bieten, als wir uns vorstellen können: Eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigte, dass in australischen Städten pro Quadratkilometer wesentlich mehr bedrohte Arten leben als in nicht-städtischen Gebieten. ... Am erstaunlichsten ist, wie Robert Dunn anhand mehrerer faszinierender Fallstudien zeigt, dass sich die Organismen im Zuge ihrer Entwicklung zur Nutzung der Bedingungen und Ressourcen in diesen künstlichen Umgebungen manchmal so stark verändern, dass neue Arten entstehen. Aus Getreidesilos sind einzigartige Singvögel und Käfer hervorgegangen, die von einer stärkereichen Ernährung leben. Braune Ratten haben in einigen Städten begonnen, isolierte Populationen zu bilden. In New Orleans trennen Wasserstraßen die Rattenkolonien voneinander. In New York scheinen die Ratten nur ungern durch Midtown Manhattan zu ziehen - vielleicht, weil sie dort weniger zu fressen finden. Und die Ratten der Stadt haben charakteristische Merkmale entwickelt: Sie haben längere Nasen und kürzere Zähne als anderswo, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass sie sich von weicherer Nahrung ernähren." Ob wir auch so flexibel sein können?
Außerdem: Rachel Donadio erklärt den Amerikanern die Laïcité, die Frankreich prägt.
Literarni noviny (Tschechien), 05.12.2021

London Review of Books (UK), 06.12.2021

Bookforum (USA), 01.12.2021

Film-Dienst (Deutschland), 01.12.2021

New Yorker (USA), 13.12.2021

Außerdem: D. T. Max trifft einen Waliser, der sein heute rund eine halbe Milliarde schweres Bitcoin Wallet entsorgte und seit Jahren die Müllhalden danach durchforstet. Dexter Filkins porträtiert die belarussische Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja. Alex Ross schreibt über Ash Fures Sound-Installation "Hive Rise". Und Margaret Talbot untersucht den Mythos Greta Garbo.
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