Magazinrundschau

Die Normalitätsdefinierer

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.08.2023. Die London Review of Books versucht einem kriegsversehrten Kiew ins Gesicht zu sehen. Der Merkur fragt sich, ob nicht auch mal die Demokratiefähigkeit der überaus sendungsbewussten Mittelklassen in Deutschland untersucht werden sollte. In Novinki vergleicht der Historiker Miloš Řezník die polnische mit der tschechischen Geschichtspolitik. Die New York Times porträtiert den chinesischen Bestseller-Autor Hao Qun.

London Review of Books (UK), 10.08.2023

Der britische Autor und Journalist James Meek kehrt zurück nach Kiew. Er beobachtet, wie der Krieg die Stadt, in der er lange Zeit lebte, verändert und sich in den Alltag der Menschen eingeschlichen hat: "Er zeigt sich jenseits der Nachrichten von der Front, der Leichenzüge, der Fahnen über den frischen Grabsteinen, der Trauer der Freunde und Verwandten der Gefallenen, obwohl es davon reichlich gibt." Fester Teil des Stadtbildes sind die Soldaten geworden, überall sieht man sie, schreibt Meek, mit ihren Krücken, Schlingen und Prothesen. Unter ihnen sind auch "Sunny" und sein Freund: "Eines Nachmittags sah ich auf Chreschtschatyk einen schmächtigen, blassen, bärtigen Soldaten in Kammgarn vor einem Restaurant namens Mafia rauchen. Er trug einen Union-Jack-Aufnäher am Ärmel. Ich fragte ihn, ob er Brite sei. Er sagte, er stamme aus Scunthorpe. Er war früher Schiffsbauer, aber, so sagte er, der Krieg habe ihn 'angezogen'. Er hatte in Syrien gekämpft. Jetzt diente er bei einer ukrainischen Einheit in Kramatorsk im Donbas, etwa vierzehn Meilen von der Front entfernt. Er nannte mir nicht seinen richtigen Namen, sondern nur seinen nom de guerre, den Namen, den Soldaten auf beiden Seiten zu tragen pflegen: seiner lautete Sunny. Wir tauschten Nummern aus. Ich wollte an diesem Abend abreisen, hoffte aber, dass ich vorher noch mit ihm sprechen könnte. Er ging zurück ins Restaurant, um zu Ende zu essen, und ein paar Minuten später folgte ich ihm hinein. Er aß mit einem anderen Soldaten, der bis zum Kinn wie jeder andere junge Mann aussah. Aber nicht, wenn man weiter hochschaute. Alles in dem Restaurant war in gewisser Weise vertraut, aber das nicht. Der Kamerad hatte eine Wunde in der Mitte seines Gesichts überlebt, um ein Leben zu führen, das nun ein anderes sein würde. Ich wollte starren; ich wollte nicht hinsehen; ich wollte vermeiden, dass es so aussah, als ob ich starrte oder als ob ich versuchte, nicht hinzusehen. Ich sagte Sunny, dass ich hoffte, ihn später zu sehen, und schüttelte die Hand seines Kameraden. 'Schön, Sie kennenzulernen', sagte ich."

Merkur (Deutschland), 01.08.2023

Seit den Neunzigern ist "die Demokratie" immer stärker in Gefahr - zumindest nach Ansicht derjenigen, die ihre Vorstellungen von Demokratie durch die Vorstellungen politischer Gegner in Zweifel gezogen oder wie im Falle von Verfassungsänderungen unter Beschuss sehen, beobachtet der Politologe Philip Manow. Zu fragen wäre seiner Meinung nach allerdings: Welche Auffassung von Demokratie liegt welchen Kampagnen zum Schutz derselben zugrunde? Seit geraumer Zeit zeichne sich ein Demokratieverständnis der Einhegung ab, so Manow, mit dem "ein Milieu seine Macht zu arrondieren versucht - ein Milieu, dessen weiterhin vorherrschende Kontrolle über die Deutung des Geschehens mit seiner abnehmenden Kontrolle über dessen Dynamik einhergeht. Seine Kategorien herrschen noch, aber sie tragen immer weniger zur Beherrschung der Lage bei. .... Zu erkunden wäre, was sich längerfristig (und nicht nur im üblichen demokratischen Wechsel zwischen einer Regierung und einer Opposition) verschoben hat. Recht besehen müsste es also darum gehen, eine Politische Ökonomie der liberalen Demokratie zu entwickeln, die sich in gewisser Weise als notwendiges Komplement zu einer Politischen Ökonomie des Populismus versteht. Das würde auf die richtige und wichtige Anregung reagieren, sich doch nicht nur andauernd mit den neuen, echten oder eingebildeten, Verlierern zu beschäftigen, sondern auch einmal mit den Gewinnern, also den neuen, überaus sendungsbewussten Mittelklassen, mit deren politischem Projekt, aus dem heraus die neuen Zeitdiagnosen von den Selbstgefährdungen der elektoralen Demokratie überhaupt erst verstanden werden können. Es scheint aussichtsreicher und ergiebiger, sich mit den Prozessen gegenwärtiger politischer Normensetzung, Normierung, Normalitätsdefinition, mit den Normalitätsdefinierern zu befassen, mit den politischen Prämien auf den Besitz der Kategorisierungsmacht - aussichtsreicher jedenfalls als mit denen, die durch sie als Abweichler konstituiert werden. Denn die obsessive Beschäftigung mit Letzteren, die die Sozialwissenschaften seit nun fast zwanzig Jahren praktizieren, hat ja doch immer nur die vorherrschenden Abgrenzungen nachvollzogen und damit zertifiziert."

Außerdem wirft die Mathematikerin Paola Lopez einen ernüchternden Blick unter die Motorhaube von ChatGPT: Die KI kann zwar einiges, aber im Grunde nicht viel - und um dies zu leisten, braucht es nicht nur gigantisch viel Energie, sondern auch ein ganzes Heer unterbezahlter Leute in Shitjobs, die ChatGPT davon abbringen sollen, beleidigende oder gar traumatisierende Texte zu liefern.
Archiv: Merkur

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.08.2023

Der Psycholinguist Csaba Pléh spricht im Interview mit Benedek Várkonyi über die Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die menschliche Kommunikation. "In meiner optimistischen Lesart wird sie die Kommunikation von Mensch zu Mensch verbessern. Wenn Sie die in Textverarbeitungsprogrammen eingebauten grammatikalischen und stilistischen Funktionen nutzen, wird sich Ihre eigene Formulierung verbessern, weil sie Ihnen sehr interessante Ratschläge gibt, und das ist gut so. Ich formuliere zum Beispiel im Englischen wesentlich mehr Schachtelsätze als notwendig. Das passiert freilich, weil der Mensch stolz darauf ist, die Passivstruktur verwenden zu können. Also formuliert man Texte anders. KI wird die Kommunikation zwischen den Menschen in vielerlei Hinsicht verfeinern. In anderen Bereichen wird sie wohl verarmen, doch diese Gefahr geht nicht nur von den Maschinen aus, sondern auch von uns selbst."

Novinky.cz (Tschechien), 01.08.2023

Der tschechische Historiker Miloš Řezník ist Direktor des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Als dort im Mai der kanadisch-polnische Historiker Jan Grabowski einen Vortrag über polnische Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg halten wollte, zertrümmerte der rechtsextreme polnische Abgeordnete Grzegorz Braun die Mikrofonanlage, so dass der Vortrag abgebrochen werden musste (mehr dazu auch beim Dlf Kultur). Veronika Pehe hat sich mit Řezník über diesen Vorfall und die generelle Situation der Geschichtswissenschafte in Polen n unterhalten. Der Abgeordnete Braun vertritt zwar innerhalb des politischen Spektrums Polens nur eine marginale Strömung, so Řezník, doch wenn man die von ihm vertretene, sehr aggressive Geschichtspolitik betrachte, die die akademische Forschung dort, wo sie ihr nicht gefalle, in die Defensive zu drängen oder gar ihre Akteure einzuschüchtern versuche, dann sei das kein marginales Phänomen. "Die polnische Rechtsregierung hat die Vorstellung, mittels Geschichtspolitik lasse sich die nationale Identität erheblich stärken. Ihrer Meinung nach gilt es ein historisches Narrativ zu entwickeln, auf das die Angehörigen des polnischen Volks stolz sind. Statt einer sogenannten 'Politik der Schande' - die kritische Reflexion traumatischer, unangenehmer Themen wie die Kollaboration oder der Beitrag einzelner Polen zur Judenverfolgung - möchte sie lieber Themen wie die polnische Hilfeleistung für Juden im Zweiten Weltkrieg hervorgehoben sehen. Das ist per se nichts Illegitimes. Der Staat kann sagen, gut, wir suchen uns aus der Geschichte die und die positiven Helden heraus und werden ihrer verstärkt gedenken. Das Problem ist jedoch, dass in der polnischen Geschichtspolitik der Beistand für die Juden als Verhalten des polnischen Volks begriffen wird, hingegen der fehlende Beistand oder gar die Mithilfe bei der Judenverfolgung als das Verhalten Einzelner. Und alles, was dieser Auslegung widerspricht, ist Gegenstand von Angriffen." Nach einem Vergleich zu seinem Heimatland Tschechien befragt, meint Řezník, dort entbrenne zwar hin und wieder ein Streit darüber, wie etwa die Phase der 'Normalisierung' zu interpretieren sei, "aber wenn man das von Warschau aus betrachtet, hat man das Gefühl, dass es den Tschechen eigentlich eher egal ist. Entweder interessiert es sie nicht, oder sie können sich damit abfinden, dass die Rolle der tschechischen Bevölkerung, zum Beispiel während des Protektorats oder im Kommunismus, nicht immer eindeutig war. Sie können sich sogar damit identifizieren, weil sie darin eine Art Bestätigung ihres eigenen Klischees finden. Das ist ein riesiger Unterschied. In Polen ist die politische Kultur in diesem Punkt näher bei der Ukraine oder auch Russland, wo die nationale Identität immer über ein historisches Narrativ gebildet wird."
Archiv: Novinky.cz

La regle du jeu (Frankreich), 22.07.2023

Maria de França unterhält sich mit der frankorussischen Autorin und Übersetzerin Galia Ackerman, die auch die Gründerin des sehr wertvollen, im Perlentaucher häufig zitierten Internetmagazins Deskrussie ist. In Frankreich hatte sie schon 2019 in ihrem Buch "Le régiment immortel - La guerre sacrée de Poutine" annonciert, dass der Ultranationalist Putin einen Krieg mit dem Westen anzetteln würde. Dieser Krieg hat sich längst internationalisiert, wie sie am Beispiel Afrika zeigt, wo die Franzosen zu den großen Verlierern gehören: Putins Zerberus Jewgeni Prigoschin hat hier alle Riegel gesprengt, indem er lokale Autokraten und Putschisten unterstützte, zuletzt in Niger. Auch in der Ukraine ist Putin je mehr auf der Siegerstraße je länger der Krieg dauert: "Für das Putin-Regime ist ein langer Krieg sehr vorteilhaft: Er ermöglicht es ihm, die russische Gesellschaft weiter zusammenzuhalten und an der Macht zu bleiben, denn selbst diejenigen, die gegen diesen Krieg sind - ich meine nicht die normalen Oppositionellen, sondern diejenigen, die zum Establishment gehören - sagen sich: 'Mein Land befindet sich im Krieg, und selbst wenn dieser Krieg ein Fehler ist, ist es mein Land, und jetzt, da wir nun mal drinstecken, dürfen wir ihn nicht verlieren, sondern müssen ihn gewinnen.' Es ist bekannt, dass die Unterstützung für den Krieg innerhalb der russischen Gesellschaft nicht abgenommen, sondern zugenommen hat, und zwar genau aus diesem Grund. Der lange Krieg ist also in Putins Interesse. Der kurze Krieg hingegen ist im Interesse der Ukrainer - und er muss im Interesse des Westens sein."
Archiv: La regle du jeu

HVG (Ungarn), 03.08.2023

Vor kurzem sind die Ergebnisse einer Studie zur Kompetenzerfassung von Schülern der Mittelstufe in Ungarn veröffentlicht worden, nach denen eine Verschlechterung der Grundkompetenzen um 40 Prozent festzustellen war. Ein Regierungsmitglied erklärte dies auf Anfrage mit "Integrationsschwierigkeiten" insbesondere in Gebieten, in denen die Roma-Bevölkerung überdurchschnittlich vertreten ist. Über die rassistischen Äußerungen des Abgeordneten gab es viel Empörung. Nach Meinung der Publizistin Boróka Parászka verdeckt jedoch die um Rassismus geführte Debatte einen wesentlichen Punkt: nämlich das totale Versagen von dreizehn Jahren Bildungspolitik der Regierung Orban. "Vierzig Prozent der ungarischen Achtklässler blieben laut der Umfrage unterhalb des Grundniveaus. Wie ist das möglich? Es gibt lediglich Schätzungen darüber, wie viele Roma oder Menschen mit 'Roma-Zugehörigkeit' in Ungarn leben: ungefähr sechs Prozent der Bevölkerung. Wie kann das eine Verschlechterung von 40 Prozent erklären? Gar nicht. (…) Ungarn hat ein Gefälle von West nach Ost, auch in der Integration. Es gibt zwar überall Probleme, aber am schwersten ist der östliche Teil des Landes betroffen. Vergleichen Sie diese Karte mit der Karte der Schulschließungen, Schulzusammenlegungen und der Lehrer, die ihren Beruf aufgeben. Ohne Schule und Lehrer ist es schwierig, Kompetenzen zu stärken. Nicht nur der Roma mit 'Integrationsschwierigkeiten', nicht nur der in den isolierten Siedlungen lebenden und zu den abgeschlagenen Schichten gehörenden Vertreter der Mehrheitsgesellschaft, sondern jedes Schülers. Selbst im Herzen Budapests kann heutzutage jeder ein funktionaler Analphabet werden, wenn die Eltern kein Geld für Privatschulen haben oder keine Beziehungen, um das Kind in eine funktionierende Stiftungsschule oder kirchliche Schule zu schicken. (…) Diese Situation kann in Ungarn, wo Rassismus gefragt ist, mit den Roma erklärt werden."
Archiv: HVG

H7O (Tschechien), 02.08.2023

Der polnische Journalist und Literaturwissenschaftler Aleksander Kaczorowski, der gerade ein Buch über die tschechische Literatur des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hat, musste dabei feststellen, wie männlich geprägt die Literatur dieser Zeit war, weshalb er zu seinem Leidwesen nur männliche Autoren aufgenommen habe. "Würde ich das gleiche Buch über das 21. Jahrhundert schreiben, wären dort hingegen überwiegend Frauen vertreten", sagt er im Gespräch mit Michaela Merglová. "Die tschechische Literatur hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren ein weibliches Gesicht erhalten - und das ist ein völlig neues Phänomen." (Tatsächlich sind auch unter den aktuellen Übersetzungen ins Deutsche in der Mehrheit Frauen vertreten, etwa Radka Denemarková, Petra Hůlová, Markéta Pilátová, Kateřina Tučková, Anna Bolavá, Alena Mornštajnová, Lucie Faulerová, Viktorie Hanišová - hier und hier - oder Sylva Fischerová.) Kaczorowski erklärt es sich dadurch, dass die Frauen mit den Veränderungen um 1989 auf andere Weise über sich nachzudenken begannen und diese Erfahrungen in Literatur gossen, während die Männer in eine gewisse Erstarrung verfielen und unter dem Druck standen, sich "aus dem Schatten der großen literarische Väter" wie Kundera, Hrabal oder Václav Havel herauszuschreiben. Die weiblichen Schriftstellerinnen hätten nicht diese erdrückenden Vorbilder. Ihr Thema sei oft die persönliche Geschichte im Konflikt mit der großen Historie - und der weibliche Blick bringe hier etwas Läuterndes und erfrischend Neues mit, so Kaczorowski.
Archiv: H7O

New York Times (USA), 03.08.2023

Han Zhang porträtiert den Bestseller-Autor Hao Qun, der unter dem Namen Murong Xuecun schreibt. Seine Karriere ist beispielhaft, denn sie verlief entlang den Phasen der Öffnung - und Schließung - der chinesischen Öffentlichkeit. Er begann in der Zeit, als Twitter oder Google in China noch zugänglich waren, thematisierte den neuen Mittelstand, auch in seiner Leere, wurde immer häufiger von der Polizei "zum Tee" eingeladen, inoffiziellen Verhören, wo er auch mit Schlägen bedroht wurde. Als er nicht mal über Covid schweigen wollte, wurde es ihm zusehends unmöglich zu schreiben. "Er veröffentlichte nie wieder ein Buch in China und verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Drehbüchern für Filme und Fernsehsendungen. Als er bei einem Abendessen aus Gewohnheit nach der Rechnung griff, hielten ihn seine Freunde davon ab und rieten ihm, an seine Zukunft zu denken. Zuletzt konnte er sich gerade noch eine Einzimmerwohnung außerhalb des fünften Rings von Peking leisten. Sechsunddreißig seiner Freunde - Schriftsteller, Gelehrte, Aktivisten und Anwälte - waren inhaftiert oder zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Spät nachts, beim Einschlafen, fragte er sich, wann er selbst an der Reihe sein würde. 'Ich hatte keine langfristigen Pläne mehr', sagt er, 'ich hatte das Gefühl, dass ich bereits mit einem Fuß im Gefängnis stand.'" Heute lebt er in Melbourne und lernt Englisch.
Archiv: New York Times
Stichwörter: China, Chinesische Literatur