
Auch der Politologe
Ondřej Slačálek widmet sich in einem
Essay der Frage, wie es vor 30 Jahren zu der
Trennung von Tschechen und Slowaken kommen konnte, und damit unweigerlich dem Charakter der 1918 entstandenen Tschechoslowakei. "Am Anfang stand ein Handel: Ihr helft uns, die Deutschen an Zahl zu übertreffen, und wir euch, die Ungarn zu überrunden. Es ging um eine eindeutige Abkehr von Österreich-Ungarn (…) Groteskerweise bildete sich dabei eine Kopie Österreich-Ungarns im Kleinen heraus; auch hier stellte
nur eine Nation die Regierung, die andere durfte zwar ihre Minderheiten unterdrücken, aber nicht der Souverän sein. Die Tschechen schlossen mit den Slowaken keinen dualen Kompromiss wie die Österreicher mit den Ungarn, sie gaben ihnen kein eigenes Gebiet. Stattdessen nannten sie sich eine 'tschechoslowakische' Nation, was alles Mögliche bedeuten konnte. Es konnte dabei um eine 'Staatsnation' gehen, einen Zusammenschluss von Bürgern unabhängig von ihrer ethnisch-nationalen Zugehörigkeit, diese müsste dann allerdings auch die Deutschen, Ungarn, Juden, Polen, Ruthenen und Roma umfassen … was nicht mehr ihrer zahlenmäßigen Mehrheit diente. Die Tschechen schlossen lieber
nur die Slowaken in die Nation ein, setzten sich aber zugleich in die Rolle derer, die bestimmten, was diese Nation sei." Slačálek schließt seinen Essay mit einem Fazit, das eigentlich ein Wunsch ist: "Heute scheint die Geschichte der Tschechoslowakei lange abgeschlossen und lange her (…), aber vielleicht ist es gerade das Gegenteil: Vielleicht haben wir
gerade jetzt die Chance, Tschechoslowaken zu sein. Ohne die Last eines gemeinsamen Staats, mit einer gemeinsamen, aber doch ausreichend entfernten Vergangenheit, mit Sprachen, die einander immer noch verstehen können. Wir können uns gegenseitig lesen und wahrnehmen - und einen gemeinsamen Kulturraum erschaffen. Dies unter der Bedingung, dass wir die eigene
Vergangenheit reflektieren können, uns zugleich aber auch bewusst sind, dass es auf sie nicht mehr so sehr ankommt, sondern vor allem darauf, wer wir heute sein wollen."