Magazinrundschau

Eine neue imperiale Tradition

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.08.2023. New Lines schildert, wie chinesischen Oppositionellen im Ausland ihre Identität gestohlen wird. Himal berichtet vom Unabhängigkeitskampf Belutschistans. Prospect fragt, was die britischen Royals mit den Hunderten Millionen Pfund machen, die sie mit der Ausbeutung des Meeresbodens einheimsen. Millionen Menschen könnten erblinden, weil wir zu wenig draußen sind, lernt Wired. Die New York Times erzählt die phantastische Familiensaga der Wildensteins.

New Lines Magazine (USA), 28.08.2023

Identitätsbetrüger gibt es seit es Identitäten gibt. Aber Dank der Verbreitung des Internets gibt es heute mehr denn je. Jeremiah Steinfeld stellt die Opfer besonders perfider und vor allem politisch brisanter Scams vor, nämlich Kritiker der chinesischen Regierung, die sich plötzlich mit vermeintlichen verbrecherischen Handlungen ihrer digitalen alter egos konfrontiert sehen: "Wang (Jingyu), ein in den Niederlanden lebender chinesischer Aktivist, fragt sich, ob er zum Wahnsinn getrieben und dadurch dazu gebracht werden soll, nach China zurückzukehren. In seinem Fall begannen die Drohungen ein Jahr vor dem Vorfall um (die niederländische Journalistin Marije) Vlaskamp. Letztes Jahr hatte Wang, der seit mehreren Jahren in den Niederlanden wohnt, dabei mitgeholfen, die Existenz geheimer chinesischer Polizeistationen offenzulegen. Seitdem wurde sein Name für einen bunten Reigen an Drohungen und böswilligen Unterstellungen missbraucht. 'Sie rufen oft die niederländische Notfallnummer an und berichten über erfundene Verbrechen,' so Wang. Einmal behauptete ein Anrufer, in seiner Wohnung befänden sich Geiseln und Waffen. Ein anderer behauptete, er hätte seine Freundin attackiert. Als die Poizei sie fragte, ob das stimme, stellte sie klar, dass es eine Lüge war. Mehrmals wurde Wang nach solchen Anrufen verhaftet. Er glaubt, dass die Chinesische Botschaft in den Niederlanden hinter den Angriffen steckt und beschwert sich darüber, dass die niederländische Regierung nicht deutlich genug reagiert." Vollständig geklärt ist die Identität der Identitätsdiebe bislang nicht: "Die Botschaft bestreitet, involviert zu sein. Ihrer Darstellung nach hatten ihre Mitarbeiter Wang bei der Poizei gemeldet, weil sie alle Bombendrohungen ernst nehmen. Das wirft die Frage auf: Wer genau steckt hinter den Angriffen? Einzeltäter? Der chinesische Staat?"

Prospect (UK), 29.08.2023

Die Windsors haben mit der Ausbeutung des Meeresbodens Millionen verdient, obwohl er eigentlich - wie das Meer und die Küste - Teil der Allmende ist, kritisiert Guy Standing. "Ein Gemeingut hängt davon ab, dass der 'Souverän' - im Falle des Vereinigten Königreichs die Monarchie - als Verwalter oder Treuhänder fungiert und die Verantwortung für die Erhaltung des Gemeinguts für kommende Generationen trägt. Mehr als 650 Jahre lang hat die Monarchie nach einer Entscheidung von König Edward I. im Jahr 1299 diese positive Verpflichtung akzeptiert, die als Public Trust Doctrine bekannt ist. In den vergangenen 60 Jahren hat die Monarchie jedoch nach und nach das blaue Allgemeingut - den Meeresboden um die britischen Inseln - geplündert und in ein kapitalistisches Imperium verwandelt. Dieses Imperium hat der königlichen Familie in den zehn Jahren seit 2013 schätzungsweise rund 193 Millionen Pfund eingebracht. Der neue König Charles III., der sich als Thronfolger einen Ruf als Umweltschützer erworben hat, hat dieses System geerbt und profitiert weiterhin davon."

Die Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo sitzt derzeit zwischen allen Stühlen: Sie versucht die Stadt grüner zu machen, lebenswerter, was allerdings nicht nur die Konservativen verärgert, sondern auch den Armen kein Stück aus ihrer Misere hilft, im Gegenteil. Die Royalisierung von Paris läuft auf Hochtouren und der neue König heißt Bernard Arnault, Besitzer des Luxuskonzerns LVMH, erzählt Deyan Sudjic, der den irren Aufwand bei der Inthronisierung von Pharrell Williams als Chefdesigner von Chanel (gehört zu LVMH) auf dem vergoldeten Pont Neuf beobachtet hat: "Während die Vororte jenseits des Stadtrings - wo neun Millionen der 11 Millionen Einwohner leben - noch immer brannten, waren Marion Cotillard, Tilda Swinton und die Muse des Hauses, Vanessa Paradis, beim Open-Air-Laufsteg von Chanel zugegen. ... Anstelle von Jill Biden und dem japanischen Kronprinzen, die der Krönung von König Charles III. beiwohnten, hatte Williams' 1.750-köpfige Gemeinde Beyoncé, Rihanna und A$AP Rocky als Gäste. Anstelle der Chorsänger in der Abtei ließ Williams Golfcarts von Models fahren, die LVMH-Gepäck schleppten. Er eröffnete die Veranstaltung mit einem Konzert eines 50-köpfigen Orchesters, das Lang Lang am Klavier begleitete. Er ließ einen Gospelchor mit 80 Sängern auftreten und beendete die Veranstaltung mit einem Konzert von Jay-Z. Nach dem Auftritt bewirtete Williams die Massen mit Champagner und Burgern, die in Papierservietten mit LVMH-Monogramm eingewickelt waren.  Mit der Gestaltung einer überzeugenden Zeremonie, die zumindest oberflächlich betrachtet integrativ wirkte, hatte Arnault für Paris alles erreicht, was Charles in der Westminster Abbey nicht gelungen war. Es wurde eine neue imperiale Tradition geschaffen."
Archiv: Prospect

H7O (Tschechien), 25.08.2023

Lucie Řehoříková unterhält sich mit der ukrainischen Galeristin und Kuratorin Viktorie Nikitina, die gerade einen Residenzaufenthalt im tschechischen Brno abgeschlossen hat. Nikitina begann schon kurz vor dem Krieg mit der Aktion "Buy art to support Ukraine", bei der durch die Versteigerung von Grafiken ukrainischer Künstler medizinische Versorgungen der Armee finanziert werden, und kurariert Ausstellungen im Zentrum für Gegenwartskultur in Dnipro. "In den ersten Tagen [des Krieges] schien uns, dass alles, was wir bisher gemacht hatten, jeglichen Sinn verliert", erzählt Nikitina. "Wie soll man Ausstellungen planen, wenn Raketen fliegen? Doch nach einem Monat (…) wurde uns bewusst, dass Kulturinstitutionen in so tragischer Zeit viel Nützliches für das Land tun können und sollten." Bei der ersten Ausstellung war sie sich nicht sicher, wie das Publikum reagieren würde, "die Leute waren ja nicht nur von den Nachrichten traumatisiert, sondern von wirklichen Verlusten, denn in unserer Stadt leben etwa vierhunderttausend umgesiedelte und geflüchtete Personen, die nach und nach aus den bombardierten und besetzten Gebieten gekommen sind. Aber es hat sich gezeigt, dass das Durchleben persönlicher Traumata gerade mittels der Kunst sehr wichtig und erwünscht ist." In den ersten Monaten hätten die meisten ukrainischen Künstler das direkte Geschehen um sich herum ins Bild gesetzt. "Das war ein Moment, in dem Künstler und Publikum das gleiche Informationsfeld verband, gemeinsame Ängste und Leiden. Jetzt, im zweiten Kriegsjahr, verarbeiten die Künstler ihre vom Krieg hervorgerufenen Traumata sehr unterschiedlich. Sie blicken allmählich vorsichtig in die Zukunft, suchen Antworten darauf, wie unser Land, seine Kultur und die Einstellung seiner Gesellschaft aussehen werden. Viele Ukrainer interessieren sich nun mehr als jemals zuvor für die eigene Geschichte und Kultur und entdecken dabei etliche weiße Flecken und historische Mythen, die ihnen vom russischen Imperium und der Sowjetunion aufgedrückt wurden. Es handelt sich um einen sehr wichtigen Moment der Selbsterkenntnis und der Stärkung der ukrainischen Nation. Es ist tieftraurig, dass der Anreiz zu all dem ein Krieg sein musste …"
Archiv: H7O
Stichwörter: Ukraine

Himal (Nepal), 29.08.2023

Was Kaschmir für Indien ist, ist Belutschistan für Pakistan: Auch dort kämpft eine starke Bewegung für die Unabhängigkeit, berichtet der pakistanische Politologe Salman Rafi Sheikh. "Das pakistanische Militär ist mindestens seit 2006 in intensive Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen in Belutschistan verwickelt, als Akbar Bugti, der Sardar des Bugti-Stammes, in einer von General Pervez Musharraf, dem damaligen Präsidenten Pakistans, genehmigten Operation getötet wurde. Diese Aktion löste das aus, was Belutschen-Nationalisten heute als den 'fünften Unabhängigkeitskrieg' in Belutschistan seit 1948 bezeichnen, als sich ein Teil der Belutschen gegen den Beitritt zum neuen unabhängigen Pakistan erhob. In den letzten zehn Jahren hat sich Pakistans interner Krieg in Belutschistan nicht nur deshalb verschärft, weil der Staat es versäumt hat, den eigentlichen Grund für den separatistischen Aufstand anzugehen - d. h. die Forderung der Belutschen nach Kontrolle über die reichen Bodenschätze der Provinz und nach einem gerechten Anteil an der Macht -, sondern auch, weil sich der Staat bei dem Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, in überwältigender Weise auf die Anwendung von Gewalt verlassen hat." Bisher hat das nicht viel genützt, obwohl die Belutschen nicht nur gegen Pakistan kämpfen, sondern auch gegen China. "Für die belutschischen Aufständischen ist China eine moderne Ostindien-Kompanie, die die Ressourcen Belutschistans ausbeutet, ohne der lokalen Bevölkerung irgendeinen Nutzen zu bringen. Chinesische Firmen bauen die Bodenschätze Belutschistans ab, und der Ausbau des Hafens von Gwadar ist die Krönung des chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors."
Archiv: Himal
Stichwörter: Pakistan, Belutschistan

The Insider (Russland), 29.08.2023

Wer war Prigoschin? Ein Caesar, ein Napoleon oder ein Mussolini, fragt sich Georgy Garin. Bei allen gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede, aber er noch bei einem anderen Ereignis innerhalb der russischen Geschichte fündig: Bei der Kornilow-Affäre im August 1917. Auch damals befand sich Russland im Krieg, hinzu kamen jedoch noch Unruhen im ganzen Land. General Kornilow wurde von der Provisorischen Regierung in Moskau unter Kerensky mit der Zusammenstellung eines Heeres beauftragt. In der Überzeugung, die Provisorische Regierung vor einem bolschewistischen Staatsstreich zu schützen, machte sich Kornilow an die Arbeit. Als die Regierung ihm jedoch diktatorische Vollmachten versagte, rief er die Russen zum Aufstand gegen die Regierung auf, was diese dazu zwang, mit den Bolschewiki zusammenzuarbeiten. Ein blutiger Bürgerkrieg begann: "Gemeinsamkeiten: Die Meuterei begann im Militär, und ihre Ziele umfassten in erster Linie die Rettung der Armee und die Verbesserung der Lage an der Front. Die Rebellen beschuldigten die Regierung, die innenpolitische Lage absichtlich zu verschärfen. Ein wichtiger Faktor war ein völliges Missverständnis zwischen allen Konfliktparteien. Unterschiede: Viele Befehlshaber der Armee stellten sich auf die Seite Kornilows, seine Glaubwürdigkeit in der Armee war total. Nach der Revolte wurde Kornilow verhaftet. Insgesamt war die Kornilow-Affäre von Chaos geprägt, das in weiten Teilen von den allgemeinen Turbulenzen in Russland bestimmt war." Kornilow kämpfte später auf Seiten der Weißgardisten. Prigoschin war ein anderes Schicksal beschieden.
Archiv: The Insider
Stichwörter: Russland

Meduza (Lettland), 29.08.2023

Am 23. August wurde das Flugzeug des Wagner-Anführers Jewgeni Prigoschin abgeschossen - mittlerweile ist sein Tod bestätigt. Lilia Yapparowa hat Wagner-Söldner gefragt, wie sie über die Zukunft der Söldnertruppe denken. Ein Putsch gegen die russische Regierung scheint danach recht unwahrscheinlich: "Aktive Wagner-Kämpfer und -Veteranen geben zu, dass sie als Reaktion auf Prigoschins Tod wahrscheinlich nichts Ernsthaftes unternehmen werden. 'Es ist natürlich traurig. Jewgeni Wiktorowitsch war ein seriöser Kerl, wir nannten ihn Vater', erklärte ein Söldner, der kürzlich eingeladen wurde, mit dem Wagner-Kontingent in Afrika zu arbeiten. 'Aber die Zeit ist bereits vergangen, wissen Sie?'." Auch in der Bevölkerung genoss Prigoschin einiges an Sympathie. Mit einigen von ihnen hat sich Ekaterina Barkalowa vor dem PMC Wagner Center in Sankt Petersburg unterhalten, wo Kerzen aufgestellt waren.
Archiv: Meduza

Wired (USA), 22.08.2023

Eine Epidemie ist im vollen Gange, aber kaum jemand sieht sie - buchstäblich: Die Rede ist von Kurzsichtigkeit, die in den letzten Jahrzehnten in den Industrienationen dramatisch zugenommen hat, und einige Betroffene sogar erblinden lässt. Liegt's am hohen Smartphone-Gebrauch oder schlicht an der Genetik? Nein, das sind populäre Mythen - es liegt vor allem am Dopamin-Mangel, der alle Gesellschaften trifft, deren Leben sich immer mehr in geschlossenen Räumen abspielt, erfahren wir in Amit Katwalas Reportage. Insbesondere in Asien, wo ein rigides Erziehungssystem die Kinder jahrelang von früh bis spät büffeln lässt, grassiert die Kurzsichtigkeit unter Minderjährigen. Eine zentrale Rolle bei dieser Beobachtung und für die Gegenmaßnahmen nimmt dabei der Forscher und Arzt Pei-Chang Wu ein: Er "überzeugte den Direktor der Schule seines Sohnes Maßnahmen zu ergreifen und die Kinder pro Tag sechsmal nach draußen zu scheuchen, was zu sechseinhalb Stunden mehr Aufenthalt im Freien pro Woche führte. Als Wu zu Beginn des Programms im Februar 2009 Messungen vornahm, lag die Häufigkeit von Kurzsichtigkeit unter den Sieben- bis Elfjährigen an der Schule seines Sohnes und an jener Schule, die er zur Kontrolle hinzugenommen hatte, bei 48 Prozent. Ein Jahr später wurden an der Kontrollschule doppelt so viele neue Fälle von Kurzsichtigkeit registriert wie an der Schule seines Sohnes. ... Die Ergebnisse des in Taiwan infolge installierten Tian-Tian-120-Programms waren sofort zu sehen und beeindruckend. Nach Jahren eines Aufwärtstrends erlebte die Häufigkeit von Kurzsichtigkeit an taiwanesischen Grundschulen 2011 eine Spitze von 50 Prozent. Danach senkte sie sich. Binnen weniger Jahre lag sie bei 46,1 Prozent. ... Dem Internationalen Myopie-Institut zufolge werden 2050 zehn Prozent der Bevölkerung extrem kurzsichtig sein. Wiederum 70 Prozent von diesen werden pathologische Kurzsichtigkeit haben, die zu Blindheit führen kann. Wir sprechen hier von bis zu 680 Millionen Menschen, die vom Verlust der Sehkraft oder Blindheit betroffen sind, mit katastrophalen Folgen für Volkswirtschaften und Gesundheitssysteme."
Archiv: Wired

HVG (Ungarn), 24.08.2023

Ungarn veranstaltete in der vergangenen Woche die Leichtathletik-WM, für die in der Vorbereitung unter anderem ein ganz neues Stadion gebaut wurde. Außerdem wurde am 20. August der Nationalfeiertag gefeiert, ein Fest, zu dem die Regierung "Freunde aus dem Ausland" eingeladen hatte. Gekommen waren die Staatsoberhäupter aus Turkmenistan, Usbekistan, Aserbaidschan, Kirgisistan und Tatarastan sowie der türkische Präsident Erdogan, Aleksandar Vučić aus Serbien, Milorad Dodik aus Bosnien, und die ehemaligen Staatsoberhäupter Janez Janša, Andrej Babiš und Sebastian Kurz. Nach der Veranstaltung wurden erneut Stimmen laut, dass Ungarn sich auch für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele bewerben solle. Aber wozu, fragt Márton Gergely. "Das Land konnte die sich nie amortisierenden Kosten von etwa dreihundert Milliarden Forint (ca. 800 Millionen Euro - Anm. d. Red.) für die Leichtathletik-WM verkraften. Sie hat aber die Stadt nicht lebenswerter, den Verkehr nicht besser, die Umwelt nicht grüner und die Hauptstadt nicht attraktiver für ausländische Touristen gemacht. Wir sind mit einem für die Leere prädestinierten Stadion und ein paar peinlichen Fotos aus der mit Diktatoren gefüllten VIP-Lounge davongekommen. Wenn jemand in der Lage ist die Gehälter der Lehrer und die maroden Krankenhäuser zu vergessen, dann kann man vielleicht sogar sagen, dass sich das Land so viel Luxus leisten konnte."
Archiv: HVG

Guardian (UK), 28.08.2023

Mark Olden portraitiert Patson Muzuwa, einen politischen Aktivisten aus Simbabwe, der in den 1990er Jahren in der Widerstandsbewegung gegen den Diktator Robert Mugabe aktiv war. 2001 flüchtete er, in Lebensgefahr, nach Großbritannien, wo er sich seither durchschlägt - immer noch als Aktivist, der den Kampf seiner Mitstreiter aus der Ferne unterstützt; zunehmend jedoch auch als früh gealterter, gebrechlicher Mann, dem das Leben zugesetzt hat. Was ihm all die Jahre geholfen hat, fernab der Heimat zu überleben, ist die Gemeinschaft der Exilierten: "Nachdem er einige Monate lang bei Sarah Harland gewohnt hatte, zog Muzuwa, gemeinsam mit anderen Flüchtlingen und Asylbewerben aus Simbabwe, in ein Backsteinhaus in Bermondsey, in Londons Südosten. Eine lokale Kirchengemeinde half bei der Miete aus. Immer wenn ich zu Besuch kam, wurden mir Teller voller Hühnergerichte und sadza - ein Grundnahrungsmittel in Simbabwe, das aus Maismehl zubereitet wird - angeboten. Die Besucher, die in dem Haus ein- und ausgingen, formten einen Mikrokosmos des Landes selbst. 'Es war gemütlich, jeder war willkommen: die Ndebele, die Shona, die Weißen. Alle waren wir aus Zimbabwe, alle liebten wir das Essen und die Musik,' erzählte mir Muzuwa kürzlich. Ein Mitbewohner brachte ihm Ndebele bei, eine der wichtigsten Sprachen Simbabwes. Im Flur lagen stets Plastiktüten randvoll mit Second-Hand-Kleidung, die Muzuwa und seine Freunde über Spenden eingesammelt hatten, und die sie an Bedürftige in den Armenvierteln der simbabwischen Hauptstadt Harare schickten."
Archiv: Guardian

New York Times (USA), 23.08.2023

Caravaggio, Der Lautenspieler. Um 1595. Metropolitan Museum, New York.


Großartige Geschichte, klingt wie eine Familiensaga: "Die Wildensteins". Und ist auch eine, sehr lesenswert erzählt von Rachel Corbett: Keiner kannte die Familie, aber sie existiert seit fünf Generationen. Gegründet wurde die Dynastie von dem Pariser Schneidermeister Nathan Wildenstein um 1870, der durch Zufall an ein paar Gemälde von François Boucher and Maurice-Quentin de La Tour geriet und seitdem nicht mehr mit dem Kunsthandeln aufhörte. Heute sind die Wildensteins wahrscheinlich vielfache Milliardäre, ihnen gehören allein 180 Bonnards, und jeder einzelne wird auf 10 bis 20 Millionen Dollar geschätzt. Aber die Familie hatte auch beste Beziehungen zu Picasso, und im Met hängt ein Caravaggio aus ihrem Besitz, "Der Lautenspieler", der auf 100 Millionen Dollar geschätzt wird. Jetzt zeigt das Imperium Risse, dank der Pariser Anwältin Claude Dumont Beghi, die die Ex von Daniel Wildenstein vertrat, Sylvia Roth Wildenstein. Sylvia hatte durch Manipulationen von Daniels Söhnen auf ihre Erbe verzichtet, bevor sie begriff, um welchen pharaminösen Reichtum sie betrogen worden war. Nun droht den überlebenden Wildensteins riesiges juristisches Ungemach, das auch einiges über die dunkelsten Seiten des Kunstmarkts aufdecken wird: "In einem Prozess im September wird sich herausstellen, ob die Familie und ihre Partner eine gigantische Steuerrechnung schulden. Als die Staatsanwaltschaft das letzte Mal vor einigen Jahren gegen die Wildensteins vorging, forderte sie 866 Millionen Euro - 616 Millionen Euro Steuernachzahlung und eine Geldstrafe von 250 Millionen Euro sowie eine Gefängnisstrafe für Guy. Die Folgen könnten mehr als nur das Kunstimperium der Familie zum Einsturz bringen. Der Fall bietet einen ungewöhnlichen Einblick in die Art und Weise, wie die Ultrareichen den Kunstmarkt nutzen, um Steuern zu hinterziehen - und manchmal sogar Schlimmeres. Bei der Durchsuchung der Wildenstein-Tresore wurden Kunstwerke gefunden, die seit langem als vermisst galten. Dies gab Anlass zu Spekulationen, dass die Familie möglicherweise im Besitz von NS-Raubkunst oder anderweitig gestohlener Kunst war, und führte in den letzten Jahren zu einer Reihe weiterer Klagen gegen die Familie. Finanzielle Manipulationen haben der Familie Hunderte von Millionen Dollar erspart, so der Vorwurf der Staatsanwälte, aber ihre Behandlung von Sylvia könnte sie weit mehr kosten - und vielleicht zum Ende ihrer Dynastie führen."

Den Philosophen Daniel C. Dennett zählt David Marchese neben Christopher Hitchens, Richard Dawkins und Sam Harris zu den "vier Reitern des Atheismus". Nun hat er seine Memoiren geschrieben: "I've been thinking". "Wir brauchen keine Wunder", sagt er im Gespräch, "wir müssen nur verstehen, wie die Welt wirklich ist, und das ist unglaublich wundervoll." Ja, er kann schon verstehen, was Leute treibt, an Gott zu glauben, sagt er auch, aber "mehr Leute glauben an den Glauben an Gott als dass sie an Gott glauben. Das sollten wir begreifen und auch begreifen, dass Menschen, die an Gott glauben, manchmal nur sehr ungern in Betracht ziehen, dass sie sich irren könnten. Was ist, wenn ich mich irre? Das ist eine Frage, die ich mir oft stelle. Diese Menschen wollen sich diese Frage nicht stellen, und ich verstehe, warum. Sie haben Angst vor dem, was sie entdecken könnten. Ich möchte ihnen ein Beispiel sein für einen, der diese Frage stellt und nicht vom Blitz erschlagen wird. Ich werde oft mit den Worten zitiert: 'Es gibt keine höfliche Art, Menschen zu sagen, dass sie ihr Leben einer Illusion gewidmet haben.' Eigentlich habe ich gesagt: 'Es gibt keine höfliche Art und Weise, die Leute zu bitten, darüber nachzudenken, ob sie ihr Leben einer Illusion gewidmet haben, aber manchmal muss man ihnen diese Frage stellen.'"
Archiv: New York Times