Magazinrundschau - Archiv

New Eastern Review

4 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 05.09.2023 - New Eastern Europe

Dor Shabashewitz lenkt den Blick auf das am Kaspischen Meer gelegene Gebiet Astrakhan. Die Oblast, einst ein unabhängiges türkisches Khanat, wie wir lesen, ist heute ein föderales Subjekt Russlands. Aber, so Shabshewitz, ein "ziemlich untypisches". Seit Jahrhunderten ist die Region ein "Hotspot der ethnischen Vielfalt: hier leben Kasachen, Tataren, Nogaier, Tschetschenen, Aseris und Kalmücken. Etwas über die Hälfte der Bevölkerung bezeichnet sich selbst als ethnisch russisch, so Shabashewitz. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine begannen hitzige Debatten über die Zukunft der Region im Falle einer Auflösung Russlands. Wie in vielen Regionen mit ethnischen Minderheiten wurde auch hier "ein unverhältnismäßig hoher Anteil der nicht-slawischen Einwohner für den Krieg rekrutiert. Von den 218 bekannten Namen von Einwohnern des Gebiets Astrachan, die im Kampf in der Ukraine gefallen sind, sind 54 Prozent eindeutig nicht-slawisch". In der Folge bekamen separatische Bewegungen einzelner ethnischer Gruppen mehr Zulauf. Bisher hat sich keine zusammenhängende Unabhängigkeitsbewegung gebildet, beobachtet Shabashewitz: "Das vielleicht ungewöhnlichste Merkmal der öffentlichen Diskussionen über die Zukunft Astrachans ist, dass sie von Bewegungen und Einzelpersonen initiiert und geführt werden, die die am wenigsten zahlreichen Minderheiten der Region repräsentieren. Bei den hitzigen Debatten zwischen den Kalmücken (7.000 Menschen im Gebiet Astrachan) und den Nogaiern (8.000 Menschen im Gebiet Astrachan) wird leicht vergessen, dass es in der Region 150.000 ethnisch kasachische Einwohner und über 50.000 Tataren gibt. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, wie nationalistisch und ethnisch geprägt der Sezessionismus im heutigen Russland ist. Die Kasachen haben als ethnische Gruppe einen eigenen souveränen Staat, und die Tataren haben Tatarstan - ein größeres und weiter entwickeltes föderales Subjekt Russlands, das nicht an Astrachan grenzt und eine lange Tradition von Unabhängigkeitsbewegungen hat, die in den 1990er Jahren teilweise erfolgreich waren. Die Existenz dieser Entitäten könnte der Hauptgrund für die relative Inaktivität der größten Minderheiten Astrachans sein." Sie "ziehen einfach in ihren bestehenden Nationalstaat".
Stichwörter: Astrachan

Magazinrundschau vom 07.02.2023 - New Eastern Europe

Viel zu lange hat der Westen die Rolle der Sprache und Literatur im Konflikt mit Russland vernachlässigt und so dem russischen Neo-Imperialismus in die Hände gespielt, schreibt Tomasz Kamusella in New Eastern Europe (von Eurozine ins Netz gestellt): "Wie konnte der Westen nicht bemerken, dass Moskau Kultur und Sprache als Waffe instrumentalisiert? Während der langen Jahrzehnte des Kalten Krieges, spendete die 'große russische Literatur' Trost, es gab sogar die Hoffnung, dass ein freies Russland der Zukunft möglich wäre, das es trotz allem zu einem 'normalen europäischen Land' werden würde. Gleichzeitig haben westliche Sowjetologen und Literaturwissenschaftler die sowjetische Praxis, die Literatur anderer sowjetischer Sprachen erst nach dem Erscheinen einer russischen Übersetzung zu veröffentlichen, nicht angezweifelt. Nur dann wurde eine Übersetzung dieses nicht-russischen sowjetischen Romans oder Gedichtbandes in eine westliche Sprache erlaubt. Aber sie musste ausschließlich von der genehmigten russischen Übersetzung ausgehen, nicht vom ukrainischen, aserbaidschanischen oder georgischen Original. Diese Praxis ließ die nicht-russische Literatur der Sowjetunion im Gegensatz zur großen russischen Literatur minderwertig erscheinen. Bis heute ist im Westen der Glaube weit verbreitet, dass das Ukrainische, mit 40 Millionen Sprechern, oder das Usbekische mit 35 Millionen Sprechern, 'kleine Sprachen' sind. Deshalb kann ein ukrainischer oder usbekischer Roman nur in eine westliche Sprache - zum Beispiel Schwedisch mit 10 Millionen Sprechern - übersetzt werden, nachdem sie in einer gut besprochenen russischen Übersetzung erschienen ist. Die Sowjetunion zerfiel vor drei Jahrzehnten, aber der sowjetische Kultur- und Sprachimperialismus besteht immer noch. Der Kreml beansprucht das 'Recht' auf die post-sowjetischen Länder als Teil der 'russischen Welt', weil sie 'keine nennenswerte Kultur' neben der russischen Sprache haben. Russische Ideologen behaupten, dass post-sowjetische nicht-russische Literaturen armselig und derivativ sind, gerade mal ein blasser Schatten der großen russischen Literatur."

Magazinrundschau vom 24.08.2021 - New Eastern Europe

Für westliche Medien ist die russische Annexion der Krim Schnee von gestern, die Regierungen beharren verbal auf der Nichtanerkennung, aber de facto wird eine Reintegration der Halbinsel in die Ukraine unmöglich gemacht, schreibt Olena Yermakova. Zum Beispiel durch Dekret 201, das den Großteil der Krim zu russischem Grenzland erklärt: "Gemäß diesem Dekret haben ausländische Bürger oder Körperschaften ebenso wenig wie staatenlose Personen das Recht, Grund und Boden in Grenzland zu besitzen. Ausländer (also Ukrainer), die geschätzt 10.000 Grundstücke besitzen, sind gezwungen, ihren Besitz innerhalb eines Jahres zu verkaufen oder zu verschenken. Wenn die Frist nicht eingehalten wird, werden dem Donbas and Crimea Legal Un/Certainty project zufolge Gerichte den Besitz einer anderen Person übertragen. Die Fachleute des Un/Certainty projects halten den Schritt der russischen Behörden für ein Kriegsverbrechen gemäß dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und einen Verstoß gegen mehrere internationale Abkommen."

Magazinrundschau vom 13.06.2017 - New Eastern Europe

Wenn Europa sich nicht beeilt, dem Balkan wirtschaftlich auf die Beine zu helfen, wird es ihn verlieren, warnt (von Eurozine ins Englische übersetzt) der bosnische Schriftsteller Miljenko Jergovic. Die Bosnier erliegen derzeit den Einflüsterungen Erdogans, die Serben feiern Putin und selbst die Kroaten feiern Trump mit NS-Flagge und Neonazi-Umzügen. "Der Balkan ist wieder bereit für einen Krieg", schreibt Jergovic. "Für einen Krieg ähnlich denen die 1914 und 1941 begannen. Sie brauchen einen weiten Kontext, um ihre Rechnungen zu begleichen. Sie brauchen einen Krieg, in dem sie für fremde Könige, Imperatoren, und Sultane sterben können. Für Putin, Erdogan, Trump oder zweitrangige Irre wie Wilders oder Le Pen. Die Balkanstaaten sind wieder zu einer Arena geworden für die Art diplomatischer Manöver, die jederzeit militärische Gestalt annehmen können. Hier auf dem Balkan sind die Russen, nach einem vierteljahrhundert Abwesenheit, auf die europäische Bühne zurückgekehrt. Hier auf dem Balkan etablieren sich die Türken wieder in genau den Gebieten, aus denen sie vor 100 Jahren vertrieben wurden."