Magazinrundschau - Archiv

The Point

6 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 14.03.2023 - The Point

Der Historiker Anton Jäger unternimmt einen interessanten Versuch, mit Fotografien von Wolfgang Tillmans und Romanen von Annie Ernaux, Didier Eribon und Michel Houellebecq die Wandlung des Politischen nach dem Mauerfall zu deuten. Die 90er waren eine total unpolitische Zeit, meint er mit Tillmans: Alle versanken in ihren privaten Utopien, Ideologien hatten abgewirtschaftet. Belächelt wurde, wer Politik ernst nahm. Die Phase der Post-Politik begann. Seit dem Finanzcrash 2008 hat sich das immer mehr geändert: Mehr Amerikaner als je zuvor sind zur letzten Kongresswahl gegangen, die Briten hatten eine Rekordbeteilung bei der Brexitabstimmung. Gleichzeitig haben die Parteien immer mehr Mitglieder verloren, dafür können Bewegungen wie Black Lives Matter oder Umweltaktivisten wie Fridays for Future und die "Letzte Generation" Hunderttausende motivieren. Die Postpolitik geht in eine Hyperpolitik über, in der der Populismus blüht und jeder - oft geprägt von seiner "Identität" - seine eigene Krise findet, die er bekämpft: "Heute ist wieder alles politisch, und zwar mit Nachdruck. Aber trotz der grenzenlosen Leidenschaften, die einige unserer mächtigsten Institutionen - von Kunstinstituten über politische Parteien bis hin zu supranationalen Gremien - übernehmen und umgestalten, sind nur sehr wenige Menschen in die Art von organisierten Interessenkonflikten verwickelt, die wir einst im klassischen Sinne des zwanzigsten Jahrhunderts als 'Politik' bezeichnet hätten. Der Neoliberalismus wird nicht durch eine wiederauflebende Sozialdemokratie abgelöst; die Globalisierung zerfällt nicht in eine 'Deglobalisierung', und der Wohlfahrtsstaat kehrt nicht zu seiner klassischen Nachkriegsform zurück. Wie ist diese neue Periode zu verstehen? Eine sofortige Analyse ist immer gefährlich. Wie eine Hochgeschwindigkeitskamera läuft auch die Zeitgeschichte Gefahr, der Fluidität und Unbestimmtheit der Situation zum Opfer zu fallen, die sie einzufangen versucht, eingekeilt zwischen impressionistischem Detail und großer Abstraktion. Es ist sicherlich schwierig, eine 'Geschichte der Gegenwart' zu schreiben, wenn die Gegenwart selbst so diffus geworden ist: Ähnlich wie die marxistische Geschichtstheorie in einem Zeitalter nach der Geschichte als obsolet empfunden wurde, ist uns die sich entfaltende 'Polykrise' in ihren gewaltigen Abstraktionen immer einen Schritt voraus: 50 Prozent Rückgang des BIP, 30 Prozent Arbeitslosigkeit, fünf Billionen Dollar Konjunkturprogramm, fünfzehn Millionen verlorene Arbeitsplätze. 'Geschichte' und 'Politik' finden eindeutig statt - aber können wir überhaupt noch sagen, was 'Geschichte' und 'Politik' bedeuten?"

Magazinrundschau vom 07.02.2023 - The Point

Andy Lamey gibt einen interessanten Überblick über einige postkoloniale Ideen von Gerechtigkeit. "Woke" Theorien laufen ja bekanntlich ebenfalls unter dem Label "Social Justice Theories". Lamey beginnt mit John Rawls, dessen Theorie der Gerechtigkeit noch ganz ohne einen Gedanken an den Kolonialismus auskommt und benennt dann die Positionen Charles Mills' (recht postkolonial) und Ngugi wa Thiongos (sehr postkolonial). Besonders hat es ihm aber der in Cornell lehrende Olufemi Taiwo (korrekte Schreibweise Olúfẹ́mi Táíwò) angetan, dem der schwarze Pessimismus und ein theoretischer Reinheitsfuror postkolonialer Denkweisen beträchtlich auf die Nerven gehen. Wenn Ngugi wa Thiongo, der ja auch in Amerika lehrt, stolz proklamiert, nur noch in seiner Muttersprache publizieren zu wollen, antwortet Taiwo mit einigen dialektischen Tücken. Olufemis Beispiel ist dabei laut Lamey seine eigene Muttersprache Yoruba: "Auf umgangssprachlicher Ebene steht Yorùbá dem Englischen in nichts nach. In bestimmten akademischen Bereichen ist das Fachvokabular jedoch noch unterentwickelt. Die erste vollständig in Yorùbá verfasste Doktorarbeit wurde zum Beispiel erst 1991 verteidigt. Die Arbeit auf bestimmten Gebieten erfordert zwangsläufig die Verwendung internationaler Begriffe und Konzepte. Eine dekolonisierte Wissenschaft birgt daher die Gefahr in sich, dass sie sich mit dem anstrengenden Projekt der Äquivalenzherstellung belastet, das darin besteht, 'übermäßig viel Zeit mit der Suche nach äquivalenten Begriffen in unseren autochthonen Sprachen zu verbringen, um zu zeigen, dass Yoruba schon lange kann, was Englisch kann'. Das Ergebnis ist, wie Táíwò betont, dass 'unsere Sprachen und ihre Möglichkeiten durch die von den externen Sprachen gesetzten Grenzen definiert werden'. Was als Versuch beginnt, sich dem westlichen Einfluss zu entziehen, endet damit, ihn wieder einzuschreiben."

Magazinrundschau vom 09.03.2021 - The Point

Wussten Sie, dass Albert Camus kurze Zeit als Meteorologe gearbeitet hat? Laura Marris, die gerade Camus' "Die Pest" übersetzt, stieß darauf bei ihren Recherchen zu den vielen Wetterangaben im Roman. "Fast ein Jahr lang, von 1937-38, trug er einen Laborkittel am Institut für Geophysik in Algier und katalogisierte Messungen des atmosphärischen Drucks von hunderten von Wetterstationen in ganz Nordafrika. Die Daten hatten sich angehäuft, und trotz der Arroganz ihrer imperialen Ambitionen konnten die Männer, die das Institut leiteten, nicht genug Geld auftreiben, um einen Wissenschaftler einzustellen, der für diese 'anspruchsvolle und in der Tat verblüffende Aufgabe' ausgebildet war. Dennoch war Camus' Vorgesetzter, Lucien Petitjean, mit seiner Arbeit zufrieden. Sie muss ihm ein detailliertes Bild des Wetters gegeben haben, das so trocken und klinisch war, dass es im Widerspruch zu seiner Erfahrung der natürlichen Welt stand. 'Wie in allen Wissenschaften der Beschreibung (Statistik - die Fakten sammelt) ist das größte Problem in der Meteorologie ein praktisches Problem: das des Ersetzens fehlender Beobachtungen', schrieb er in sein Notizbuch. 'Die Temperatur schwankt von einer Minute zur nächsten', stellte er klar. 'Dieses Experiment verschiebt sich zu sehr, um in mathematischen Konzepten stabilisiert zu werden. Die Beobachtung stellt hier einen willkürlichen Ausschnitt der Realität dar.' Bald ließ Camus das Geophysikalische Institut hinter sich und arbeitete für die Zeitung Alger Républicain. Aber seine Sensibilität für die Schwankungen des Wetters blieb ihm erhalten, besonders als er beschloss, über eine Seuche zu schreiben. Für seinen Roman griff er auf eine wissenschaftliche Quelle mit literarischen Bezügen zurück - das 1897 erschienene Buch 'La défense de l'Europe contre la peste'. Der Autor war kein Geringerer als Adrien Proust, Epidemiologe und Vater des Schriftstellers Marcel."

Magazinrundschau vom 09.07.2019 - The Point

Aktualisierung vom 10. Juli: Entgegen unserer Behauptung, dass es in Deutschland nicht so brillante Polemiken zum Habermas-Geburtstag gab, müssen wir darauf hinweisen, dass Geuss' Aufsatz zuerst auf deutsch in Soziopolis erschien. Außerdem ist Geuss nicht mehr Amerikaner, sondern - nach Einbürgerung - Brite. Pardon. D.Red.

In der angelsächsischen Sphäre scheint Jürgen Habermas ganz eindeutig als "Liberaler" zu gelten. In The Pointmag veröffentlichte der amerikanische Philosoph Raymond Geuss (ex Cambridge) zum Neunzigsten des Denkers eine Polemik, wie man sie in dieser Qualität in Deutschland nicht zu lesen bekam: Geuss wirft dem Habermasschen Kult der "Diskussion" und der "Kommunikation" eine sträfliche Naivität vor. Beispiel ist für ihn der Brexit, ein Ziel das vor Jahren allenfalls zehn Prozent der Briten angestrebt hätten und das durch permanentes Schnattern und Kommunizieren zum Super-GAU einer schlecht qualifizierten Mehrheit wurde. Auch Habermas' Idee der Legitimität greift Geuss an. Ingesamt klingt seine Polemik konservativ: Das haben wir also davon, wenn dieses ganze Volk anfängt zu deliberieren.

Auf Geuss' Polemik antwortet nun der amerikanische Historiker Martin Jay, der Habermas in Schutz nimmt: Natürlich suche eine modernen Demokratie permanent nach Legitimität, und zwar durch nichts anderes als Diskussion und Kommunikation: "Die Suche nach einem plausiblen Begriff von Legitimität mittels einem diskursiven Prozess der Willensbildung als ein heuchlerisches liberales Experiment abzuqualifizieren... ist in einer säkularen Welt, in der Fragen der Souveränität, der Menschenrechte und konstitutioneller Zwänge permanent ausgehandelt werden, erschreckend zynisch."

Magazinrundschau vom 05.02.2019 - The Point

Der Philosoph Anton Barba-Kay denkt in einem Essay gründlich darüber nach, wie das Internet die politische Diskussion verändert, weil die Diskussion im Netz ohne sozialen Kontext der Sprechenden auskommen muss. Kontextlos sind auch oft Fakten, die benutzt werden, die eigene Meinung "objektiv" zu untermauern: "Studien haben gezeigt...", heißt es dann. "Doch auch wenn wissenschaftliche Daten zur prestigeträchtigsten Art des Online-Informationsaustauschs geworden sind, hat diese Entwicklung nicht zur Versöhnung unserer politischen Unterschiede beigetragen, sondern im Gegenteil die Polarisierung verstärkt. Während politische oder soziale Informationen ihre Fragmentierung in 'Fakten' erleben, weil sie nach dem Standard objektiven Neutralität bewertet werden, den wissenschaftliche Fakten verkörpern sollen, werden sie zur gleichzeitig parteiischer. Jede Tatsache ist das Ergebnis eines Urteils, das im Rahmen des Zulässigen gefällt wurde. Es gibt eine mehr oder weniger ausgewogene und nüchterne Berichterstattung, aber keine objektive oder neutrale. Wenn also die Charakterisierung des Nachrichtenwürdigen für uns online optional wird, wenn unsere Informationsquellen so vielfältig sind, dass sie auf mich zugeschnitten und kommerzialisiert sind, dann kann es nicht überraschen, wenn diese Vielfalt eher der Polarisierung als dem Konsens dient. Schließlich gibt es keinen zwingenden Grund, das, was ich 'bias' nenne, von dem zu unterscheiden, was Sie einen 'substantiellen Einwand' nennen."
Stichwörter: Polarisierung, Neutralität

Magazinrundschau vom 23.05.2017 - The Point

Andrew Kay hat ein Ph.D. in englischer Literarur, seine Dissertation befasst sich mit poetischen Theorien des Vergnügens im 19. Jahrhundert. Seit Jahren bewirbt er sich für eine Universitätsstelle. Gleichzeitig sucht er über Dating-Apps nach einer Freundin. Beide Bewerbungsarten enden in deprimierender Häufigkeit im Nirvana. Sie haben auch sonst einiges gemeinsam, lernt er und erzählt von einem Date, das in seiner Wohnung endete: "Wir küssten uns die nächsten Minuten, erst gelassen, dann mit größerer Intensität. Dann begannen wir uns auszuziehen. Während sie meinen Gürtel löste, lehnte sie sich vorwärts und sagte mir ins  Ohr: 'Ich will wissen, was du alles mit mir tun wirst. Wo steckst du das hin?' Überrascht beschloss ich die Frage als buchstäblich und akademisch modisch zu verstehen und antwortete - kein Scherz, Leser, ich sagte das wirklich, ohne eine Spur von Ironie - 'deine Vagina?" Sie zog sich zurück, sah mich an, erst spöttisch, dann mit leichter Verzweiflung. Nach einem Augenblick fing sie sich wieder und sah mich wieder an, diesmal mit der unnachgiebigen Entschlossenheit von jemandem, der mit einer 44er Magnum auf einen zielt: 'Komm schon, das ist dein Vorsprechen.'"