
Der Historiker Anton Jäger
unternimmt einen interessanten Versuch, mit Fotografien von Wolfgang Tillmans und Romanen von Annie Ernaux, Didier Eribon und Michel Houellebecq die
Wandlung des Politischen nach dem Mauerfall zu deuten. Die 90er waren eine total unpolitische Zeit, meint er mit Tillmans: Alle versanken in ihren privaten Utopien, Ideologien hatten abgewirtschaftet. Belächelt wurde, wer Politik ernst nahm. Die Phase der
Post-
Politik begann. Seit dem Finanzcrash 2008 hat sich das immer mehr geändert: Mehr Amerikaner als je zuvor sind zur letzten Kongresswahl gegangen, die Briten hatten eine Rekordbeteilung bei der Brexitabstimmung. Gleichzeitig haben die Parteien immer mehr Mitglieder verloren, dafür können Bewegungen wie Black Lives Matter oder Umweltaktivisten wie Fridays for Future und die "Letzte Generation" Hunderttausende motivieren. Die Postpolitik geht in eine
Hyperpolitik über, in der der Populismus blüht und jeder - oft geprägt von seiner "Identität" - seine eigene Krise findet, die er bekämpft: "Heute ist wieder alles politisch, und zwar mit Nachdruck. Aber trotz der grenzenlosen Leidenschaften, die einige unserer mächtigsten Institutionen - von Kunstinstituten über politische Parteien bis hin zu supranationalen Gremien - übernehmen und umgestalten, sind nur sehr wenige Menschen in die Art von organisierten Interessenkonflikten verwickelt, die wir einst im klassischen Sinne des zwanzigsten Jahrhunderts als 'Politik' bezeichnet hätten. Der Neoliberalismus wird
nicht durch eine wiederauflebende Sozialdemokratie abgelöst; die Globalisierung zerfällt nicht in eine 'Deglobalisierung', und der Wohlfahrtsstaat kehrt nicht zu seiner klassischen Nachkriegsform zurück. Wie ist diese neue Periode zu verstehen? Eine sofortige Analyse ist immer gefährlich. Wie eine Hochgeschwindigkeitskamera läuft auch die Zeitgeschichte Gefahr, der Fluidität und Unbestimmtheit der Situation zum Opfer zu fallen, die sie einzufangen versucht, eingekeilt zwischen impressionistischem Detail und großer Abstraktion. Es ist sicherlich schwierig, eine 'Geschichte der Gegenwart' zu schreiben, wenn die Gegenwart selbst so diffus geworden ist: Ähnlich wie die marxistische Geschichtstheorie in einem Zeitalter nach der Geschichte als obsolet empfunden wurde, ist uns die
sich entfaltende '
Polykrise' in ihren gewaltigen Abstraktionen immer einen Schritt voraus: 50 Prozent Rückgang des BIP, 30 Prozent Arbeitslosigkeit, fünf Billionen Dollar Konjunkturprogramm, fünfzehn Millionen verlorene Arbeitsplätze. 'Geschichte' und 'Politik' finden eindeutig statt - aber können wir überhaupt noch sagen, was 'Geschichte' und 'Politik' bedeuten?"