Virtualienmarkt

Im Königreich der Algorithmen

Von Robin Meyer-Lucht
12.05.2004. Ob Adware oder Gmail: Das Mediengeschäft wird automatisiert. Software-Roboter umschwirren die Nutzer. It's a google world.
Kürzlich erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung folgende Anzeige: "Liebe debitel-Kunden, -Aktionäre und -Handelspartner", schrieb der frisch sanierte Handy-Vermarkter mobilcom an die Kunden der Konkurrenz: "Falls Sie wechseln wollen - wir freuen uns auf Sie." Eine solche Anzeige mit hohen Streuverlusten ist old media. Im Internet hätte mobilkom die Notiz auch gleich auf der Homepage von debitel anbringen können. Eine entsprechende Platzierung zumindest bietet das amerikanische Unternehmen Claria an. Die "Marktführerin im verhaltensbasierten Online-Marketing" hat nach eigenen Angaben weltweit 43 Millionen Rechner mit einer werbetechnischen Fernsteuerung bestückt. Ein Claria-Programm streut beim Surfen die jeweils zu Sites und Nutzerverhalten passenden Pop-Ups ein. Mitglied in diesem Club der Werbefenster-Lemminge wird etwa, wer KaZaA installiert und nicht aufpasst, was er alles durchwinkt (mehr hier).

Claria macht sich im Möglichkeitsraum des Internets programmiertechnisch versiert und mit atemberaubender Dreistigkeit breit. Mitte März ordnete ein Kölner Gericht per einstweiliger Verfügung an, Claria solle unterlassen, was wie die Allmachtsphantasie eines jeden Werbers anmutet: Anzeigen anderer Autovermieter vor den Seiten von Hertz Deutschland aufploppen zu lassen (mehr hier). Derartige juristische Hakeleien schüchtern Claria bislang kaum ein. Der Umsatz stieg in den vergangenen drei Jahren von 15 Millionen auf 90 Millionen Dollar. Der operative Gewinn liegt bei 35 Millionen Dollar. Der Börsengang steht unmittelbar bevor (mehr hier).

Claria ist schamlose Vorreiterin einer umfassenderen Entwicklung. Während Computerprogramme bis vor wenigen Jahren vor allem dazu dienten, Banküberweisungen oder Raketen zu steuern, dringen sie inzwischen immer weiter in das klassische Mediengeschäft vor. Zunehmend sieht sich der Nutzer von Online-Medienangeboten mit avancierter Programmierung konfrontiert. Das Web ist ein aktiver, ein verdammt aktiver Medienträger. Unter der Oberfläche findet das große Krabbeln der Algorithmen statt.

Eine Firma steht paradigmatisch für die rasch zunehmende Automatisierung des legalen Mediengeschäfts: Google. Vom programmiertechnischen Bravourstück Suchmaschine aus weitet das Unternehmen seinen Algorithmen-Zauber auf immer neue Bereiche wie Anzeigen- und Nachrichtenangebote aus. Im Vergleich dazu trägt Yahoo als klassisches Portal noch das alte Massenmedien-Paradigma in sich. Yahoos Erfolg basiert darauf, Inhalte früh gebündelt und so rasch eine relativ große Reichweite aufgebaut zu haben. Yahoo ist erfolgreich, weil man früh da war; Google ist erfolgreich, weil man besser programmieren kann und deshalb groß wurde.

Der Unterschied lässt sich bis in die Gründerbiografien zurückverfolgen. Beide Angebote wurden von Stanford-Doktoranden gegründet. Yahoo steht für "Jerry's Guide to the World Wide Web". Jerry Yang promovierte in Elektrotechnik und wurde nebenbei dank früher Mosaic-Erfahrung zum ersten Redakteur des Webs. Googles Sergey Brin und Larry Page dagegen sind Informatiker - Page gar in zweiter Generation - , die von Anfang an nur ans Programmieren dachten.

Die neuen algorithmischen Titanen bedrängen die klassischen Online-Publikationen. Innerhalb eines Jahres steigerten die Suchmaschinenbetreiber ihren Anteil am US-Onlinewerbemarkt von 15 auf 35 Prozent. Niemand verkauft mehr Online-Werbung als Google: 651 Millionen Dollar waren es allein von Januar bis März 2004. Die Einblendungen erscheinen dabei zunehmend nicht mehr nur auf der Suchmaschine, sondern in Kooperation auch auf redaktionellen Sites. Dabei werden die Banner passend zu Schlagworten auf den Seiten ausgewählt (mehr hier). Google ist derzeit zugleich auch der größte Online-Werbevermarkter mit dem größten Inventar an Werbeplätzen, deren Belegung algorithmisch versiert gesteuert wird. In dieses Bild passt auch der geplante Freemail-Service Gmail: Hiermit sollen die in Google-Manier bespielten Werbeplätze weiter ausgebaut werden.

Doch diesmal könnte der Publikumsliebling zu weit gegangen sein. Das Durchsuchen privater Emails nach werberelevanten Schlagworten überschreitet die Grenzen des guten Geschmacks und datenschutzrechtlicher Mindeststandards. Google steht plötzlich ein wenig zu nutzerausnutzerisch da (mehr hier). Das Signal an die Investoren erwies sich als diskursives Minenfeld. Am Beispiel Gmail lässt sich hervorragend aushandeln, was vom Möglichen auch zulässig und statthaft ist. Die Erschließung des digitalen Möglichkeitsraums ist ein Gezerre um Macht und Normen. Dabei reagieren die Anbieter durchaus auf Nutzersensibilitäten. So hat die Welt jüngst die Registrierungspflicht für ihre Site wieder abgeschafft, nachdem sie zwischenzeitlich rund ein Viertel weniger Besuche verzeichnet hatte.

Die jüngste algorithmische Intrige gegen gültige Medienstandards heißt IntelliTXT. Mit Hilfe der Applikation können Online-Publikationen bestimmte Worte in ihren Texten grün unterstreichen lassen. Fährt man mit dem Mauszeiger über ein derart markiertes Wort, so springt - man ahnt es bereits - ein passendes Werbekästchen auf (mehr hier). Die Algorithmisierung des Medien- und besonders des Werbegeschäfts ist in vollem Gange. Man sei wehrhaft und fasziniert. Ob sich Claria oder andere "Adware" auf dem eigenen Rechner befindet, kann man hier prüfen.