Virtualienmarkt

Keulen, die ins Leere schlagen

Von Rüdiger Wischenbart
05.07.2013. Edward Snowden zeigt wie einst Mathias Rust, dass sich selbst massivste Machtsysteme überraschend leicht unterlaufen lassen. Auch für den digitalen Buchmarkt sollten seine Enthüllungen Folgen haben: Unternehmen, die an europäische Kunden verkaufen, sollen auch europäischen Gesetzen gehorchen.
Was also tun, im Angesicht der totalen Überwachung durch die NSA, die britischen und nun auch die französischen Dienste? Nur die deutschen Schlapphüte, so hören wir, haben vielleicht am Daten-Joint geschnuppert, aber nichts Genaues über dessen Inhaltsstoffe gewusst, und gewiss nicht inhaliert.

Die eine, wunderbare Gebrauchsanleitung liefert Sascha Lobo mit einem Kommentar auf Spiegel Online, der einen Artikel des Spiegel vom Februar 1989 (!) wiedergibt, welcher in allen relevanten Details, inklusive der Empörung, schon vor 24 Jahren darlegte, wie die NSA entlang der Oberkante des jeweilig Möglichen alle Kommunikationen über Netzwerke global überwacht. Den damaligen Code-Namen "Echelon" kennt mittlerweile jeder, der das Thema nur ansatzweise recherchiert. Der grundlegende Befund ist also nicht neu, und dass sich die digitalen Möglichkeiten seit damals vervielfacht haben, ist ebenso bekannt, so wie der jüngste, massive Ausbau der NSA-Serverfarmen. Dass auch Dienste anderer Staaten, jeweils am Stand ihrer Möglichkeiten, mitloggen, kann ebenfalls keine Überraschung sein.

Was mich interessiert ist nun, was dies für die Digitalisierung der Buch-Sphäre bedeutet. Der Aspekt ist weniger abgelegen, oder orchideen- oder nischenhaft, als es erst einmal erscheinen mag.

Was ich (insbesondere an Büchern, aber auch an Zeitungen, Zeitschriften, Schriften) lese, wird zu meinem persönlichen Bildungskapital. Die emanzipatorische Geschichte der Romane lesenden, oftmals angefochtenen Fräuleins im späten 18. Jahrhundert, die Massenverbreitung der Zeitschriften (und politischen Schriften) im 19. Jahrhundert (die Revolutionen um 1848!), die Arbeiterbildungsvereine danach, das sind alles Beispiele, wie Emanzipation über und mit Hilfe von Lesen verlief. Wenn jeweils - wie seit dem Patriot Act, post 9/11, in den USA angelegt - selbst die Bibliotheksleihe zur systematisch ausgewerteten Schnittstelle für Spürnasen wird, ist die Basis der bürgerlichen Entwicklung über Bildung (über Lernen und Lesen) im Visier.

Wenn ich nun elektronische Bücher lese, bietet mir der "Amazon Kindle" an, anonymisiert anzuzeigen, wer sonst noch im jeweiligen Buch, das ich gerade lese, welche Stellen angestrichen hat. Aber auch alle anderen Plattformen, über die ich Ebooks beziehe, und die mir erlauben ein Buch am Lesegerät zu beginnen, und im richtigen Kapitel am Tablet oder Smartphone weiter zu lesen, benötigen notwendigerweise ein System, mit dem sie ganz genau mein Leseverhalten dokumentieren, in allen Details, welche dann natürlich abgegriffen werden kann.

Es gibt, ohne uns hier in weitere Details zu begeben, eine Art Nullsummenspiel zwischen digitalem Lesekomfort, und datentechnischer Fremdbeobachtung des Lesens. Jede und jeder vermag sich von hier weg ausmalen, welche personenbezogenen Daten und Profile dies alles generiert. Oder andersrum gesprochen: Emanzipatorisches Lesen findet unter Aufsicht statt.

Aber dies ist an sich nicht neu. Natürlich standen sozialdemokratische Lesevereine unter polizeilicher Beobachtung vor hundert Jahren. Aber in einem Einwanderungsland - also in den USA, in Großbritannien, in Frankreich, in Deutschland, kurzum, in vielen, und in immer mehr Ländern - wird noch mehr mit Argusaugen beobachtet, was diese Neuankömmlinge lesen, um zu identifizieren, was sie, als neue Bürger, denken.

Die politischen Verhältnisse bedürfen allerdings mitunter eines massiven - idealerweise: friedlichen - Schocks, um wahrgenommen zu werden.

Ein naheliegendes Beispiel: Am 28. Mai 1987 flog Mathias Rust ein Kleinflugzeug von Hamburg über einige Umwege bis zur Landung auf einer Brücke unweit des Roten Platzes in Moskau, damals der Hauptstadt der Sowjetunion. Damit demonstrierte er schlicht, unter anderem, wie durchdringlich die als undurchdringlichen geltenden Abschottungen des Sowjet Reiches tatsächlich waren. Er flog nicht unerkannt. Aber es wurden keine Entscheidungen getroffen, seinen Flug zu stoppen. Übrigens fand ich in der ganzen aktuellen Debatte um NSA und Ed Snowden nur eine Bloggerin, Michaela Mumm, die sofort auf Rust verwies).

Ed Snowden gelang es offenbar, so umfangreiche Datenmengen aus der NSA heraus zu schaffen, und diese auch so zu verteilen, so dass diese weiterhin, auch nach den ersten spektakulären Veröffentlichungen, noch immer genug Unsicherheit über weitere sensible Datenbestände aus seiner Tätigkeit und Übermittlung herrscht.

Wie in einem absurd verkehrten Domino-Prinzip fallen die Steine allerdings nicht auseinander, nach allen Richtungen, hin zur Peripherie des ursprünglichen Anstoßes, sondern zurück, in immer neue Zentren. Wir lernen, dass auch der britische, und nun auch der französische Geheimdienst ähnliche hochaufwendige Schnüffelprogramme fahren. (Nur nicht Deutschland?) Ed Snowden, der Mitarbeiter einer Servicefirma und ein "Administrator" - einer unter vielen - von Netzwerkteilen (mehr kann es ja kaum gewesen sein), hat erst einmal mit einem riesengroßen Stecken auf mehrere nachrichtendienstliche Ameisenhaufen gehauen. Nicht viel mehr. Und nun betrachten wir alle verblüfft, und wohl auch amüsiert, wie konfus die Ameisen durcheinander laufen.

Mathias Rust hatte damals mit seiner Aktion, die ähnlich als ein ad hoc Bravour-Akt angelegt war, sehr wichtige Schwächen des neuralgischen sowjetischen Sicherheitsapparats bloß gelegt, und dies öffentlich gemacht. Ed Snowden hat, gewissermaßen umgekehrt, und doch ähnlich die (mit geheimen Gesetzen für die USA legalisierten) Umtriebe der amerikanischen Geheimdienste offen gelegt.

Eine wichtige Voraussetzung dafür war, sämtliche primären Sicherungskreise dieser Dienste zu überlisten und lächerlich zu machen. Wie sonst wäre er, als ein relativ kleines Rädchen, sonst imstande gewesen, ein solch großes wie auch fundamental blamables Schwungrad in Gang zu setzen? Der Goldstandard der Geheimdienste ist doch zu behaupten, dass sie ihre mitunter abstrusen Manöver absolvieren müssen, weil nur so das Gute seitens ihrer Auftraggeber bewahrt werden könne.

Snowden called the bluff. Deshalb sind diese Dienste nun auch so sauer auf ihn.

Was lernen wir nun, insbesondere mit Blick auf (digitale und analoge) Bücher, also auch mit Blick auf eine angestrebte Freiheit von Wissen und Lernen, aus diesem unglaublichen Schlamassel?

Absurderweise erst einmal, dass ausgerechnet vor allem "moderate" Piraten die Privatsphäre ihres Lesens am besten schützen. Das sollte unmittelbar Autoren, Agenten und Verlagen zu denken geben.

Wenn jemand seine Ebooks überwiegend legal kauft, dann jedoch den Kopierschutz knackt, und in der Folge seine Bücher auch digital anonym weiter zu geben vermag, dann anonymisiert solch ein Konsument nebenher sein kulturelles Verhalten. Da dies ziemlich einfach umsetzbar ist, dürfen wir folgern, dass allfällige potenzielle Straftäter ( "Terroristen") dies ebenfalls imstande sind zu tun. Dies gilt wohl selbst für kleine, relativ private Runden politischer oder religiöser Radikaler, und noch mehr für echte, internationalisierte radikale Gruppierungen. Im Kampf gegen solche realen, oder vermeintlichen Staatsfeinde ist die Waffe der digitalen Überwachung beim Ebook Lesen folglich wohl tendenziell stumpf.

Wichtiger erscheint mir das Prinzip "Mathias Rust" zu sein.

Rust hat die damals wie heute immer noch größtmögliche Keule, die nuklearen Vernichtung, gewissermaßen ins Leere schlagen lassen.

Rust und Snowden zeigen, dass auch die jeweils größten Machtsysteme - die territoriale Überwachung damals, die digitale Überwachung heute - asymmetrisch unterlaufen werden können, und zwar nicht nur durch Terroristen. Sondern auch politisch. Rusts Flug blieb nicht unentdeckt. Allen musste klar sein, wie peinlich er Systemlücken zu identifizieren half. Rust war gewissermaßen Pussy Riots, anno 1987.

Einerseits mögen die NSA Überwachungsprogramme mitgeholfen haben, fünfzig Terror-Anschläge zu verhindern (die Zahl ist hier eher als Symbol, nicht als konkreter Wert begriffen). Andererseits haben sie offenbar ein Heer von Whistleblowers in Gang gesetzt, von denen die meisten system-intern eingefangen wurden, jedoch mehrere - darunter Ed Snowden - nicht, warum auch immer.

Die Antwort auf den Skandal - gerade in Europa - können deshalb nicht Innovationsverbote sein (im Sinne von "Finger weg vom Internet!", oder "Seht, welche Bazillen Ihr euch über die blöden Ebooks einhandelt"). Dies führt am Thema geradewegs vorbei.

Bücher als ein zentrales Format für "Wissen" wird bei jedem solchen Screening einbezogen sein, sobald die Vertreiber oder die Leser dieser Bücher ins immer breiter aufgestellte Visier der so genannten "Dienste" kommen. Siehe den Zugriff auf Ausleihen von Bibliotheken in den USA. Und vermutlich wohl ebenso, wenn sich so einfach feststellen lässt, wer nach welchem Buch wo online auch nur gesucht hat.

Das Problem ist im Kern nicht ein digitales. Es ist ein politisches: Wer ist der Souverän? Das Volk, oder irgendeine andere Konstruktion? Definiert ein Staat (zum Beispiel Deutschland), oder ein Staatenverbund (zum Beispiel die Europäische Union) die Kontrolle über ihr Territorium und deren Einwohner? Oder eine andere Instanz?

In Sachen Daten, Privatheit und Kontrolle darüber geht es deshalb ganz praktisch um energische Gesetze, die festlegen, dass Unternehmen, die sich an europäische Konsumenten wenden, auch europäischen Standards in Sachen Datensicherheit und Persönlichkeitsrechte, inklusive Ausspäh-Verbot, zu genügen haben.
Ich bin ja kein Jurist, und schon gar kein ausgefuchster Völkerrechtler. Aber könnte ironischerweise nicht zum Vorteil gereichen, dass nahezu alle globalen Digital-Content-Konzerne ihre Zentralen (aus Steuer-Gründen) straff bündeln über EU-Zentralen in Luxemburg? Wie wäre es mit einer entsprechend strengen EU-Datenschutz-Verordnung für alle innerhalb der Union ansässigen Unternehmen, welche diesen Firmen eine einklagbare Verantwortlichkeit auferlegt, zum Schutze der europäischen Konsumenten gegenüber einer nicht überprüfbaren Weitergabe ihrer Kommunikations- und Transaktionsdaten an Dritte außerhalb der Europäischen Union?

In diesen Tagen sollen die Verhandlungen über ein US-EU Freihandelsabkommen starten. Das wäre doch, salopp gesprochen, eine gute Vorlage, aus demokratie-politischer Sicht.

Rüdiger Wischenbart