Vom Nachttisch geräumt

Deine Feinde lieben wie dich selbst

Von Arno Widmann
24.04.2017. Hielten die Truppe kriegstüchtig, berichtet Dagmar Pöpping: "Kriegspfarrer an der Ostfront"
Die ersten Sätze des Buches sind ein großartiger, bewundernswert klarer Auftakt: "In der Nacht zum 22. Juni 1941 überschritten 3,3 Millionen Soldaten der deutschen Wehrmacht die Grenze zur Sowjetunion und begannen einen Krieg, der als erklärter Rasse- und Vernichtungskrieg geführt wurde. Am Ende dieses Krieges hatten ca. 18 Millionen sowjetische Zivilisten, 8,7 Millionen Soldaten der Roten Armee und 2,7 Millionen deutsche Soldaten ihr Leben verloren. Inmitten des Infernos von massenhaftem Mord und millionenfachem Sterben arbeiteten Geistliche beider Konfessionen und verkündeten den deutschen Soldaten im staatlichen Auftrag die christliche Botschaft." Dagmar Pöpping, Wissenschaftliche Angestellte bei der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte an der Ludwig Maximilian-Universität München, ist in ihrem Buch "Kriegspfarrer an der Ostfront" dieser Tätigkeit nachgegangen. Es ist ein sehr lehrreiches Buch. Nicht nur, was die Aufklärung über die Arbeit der evangelischen und der katholischen Wehrmachtseelsorge dieser Jahre angeht, sondern der Leser erfährt auch viel darüber, wie wir Menschen - womöglich auch er selbst - funktionieren.

Das Geschick, mit dem Pfarrer beider Konfessionen die Heilsbotschaft so lange zurechtbogen, bis sie genau auf diesen Vernichtungskrieg passte, wird selten so deutlich wie hier. "Über die Dimensionen des Völkermordes an den Juden machten sich die Geistlichen kaum Illusionen", er fand schließlich, so schreibt Pöpping, vor ihren Augen statt. "Wie gingen sie mit diesem Wissen um?" Pöpping stellt diese Frage und sie bekommt aus Tagebuchaufzeichnungen, aus Tätigkeitsberichten und Nachlässen unterschiedliche Antworten. Aber nirgends stößt sie auf Entsetzen, geschweige denn Widerstand. Stattdessen stimmten zum Beispiel "der evangelische Offizier, Pfarrer und Kriegspfarrervertreter, Heinz Rahe, und der katholische Divisionspfarrer Joseph Eickhoff darin überein, dass 'mancher Jude in Konsequenz seiner Volksschuld' gestorben sei. Tatsächlich gebe es dergleichen, und jeder müsse ihre Folgen mittragen, notierte Rahe." Es wird nicht klar, worin die Volksschuld bestanden haben könnte. Aber die Vermutung, dass der "Gottesmord", die Nichtanerkennung von Jesus als Sohn Gottes, gemeint ist, liegt nahe. Der evangelische Wehrmachtspfarrer Bernhard Bauerle berichtet nach dem Krieg über seine Einquartierung bei einer jüdischen Familie: "Die beiden Töchter, Abiturientinnen, wurden in unserem Kasino beschäftigt. Eines Tages saßen die beiden Mädels weinend auf der Treppe. 'Warum geht es uns Juden so schlecht?' Ich sagte darauf, ob sie einmal das Wort gehört hätten: 'Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!' Sie sahen mich starr an: 'Wir wissen, was Sie meinen', und haben keine Träne mehr vergossen."


Feldgottesdienst für deutsche Soldaten (Montag, 2. Juni 1941). Bild: Bundesarchiv/Wikipedia unter CC-Lizenz

Es gibt keinen Bericht eines Pfarrers, der selber zusammenbrach angesichts dieser Situation oder der jemandem beispringen musste, der zusammenbrach. Es gab Soldaten, die sich und die Geistlichen fragten, ob denn dieses Morden und Rauben, dieser ständige Verstoß gegen Gottes Gebote Gutes bringen könne. Genau für diese Männer waren die Geistlichen da. Ihre Aufgabe war, die Truppe kriegstüchtig zu halten. Sie waren Offiziere, unterstanden nicht ihren Bischöfen, sondern der Wehrmachtsführung. Wer das 5. Gebot - "Du sollst nicht töten" - wörtlich nahm, dem wurde erklärt, hier sei von Mord die Rede, nicht aber vom Krieg. Von dem werde in der Bibel immer wieder gesprochen. Das Wort Pazifismus dagegen komme in der Heiligen Schrift nicht vor. Auch das Jesus-Wort "Du sollst deine Feinde lieben wie dich selbst" handele vom persönlichen Feind, nicht aber vom Feindesvolk. Die Pfarrer beider Konfessionen sind da gleich behend. Dagmar Pöpping weist daraufhin, wie wichtig in der Arbeit evangelischer wie katholischer Seelsorge der Kampf gegen den Bolschewismus war. Die Vorstellung ein ins Heidentum geprügeltes Volk wieder für das Christentum zu gewinnen beflügelte Fromme und Stuckas gleichermaßen.

Sehr interessant ist die Darstellung Darstellung Dagmar Pöppings auch da, wo sie deutlich macht, dass ab 1942 die NSDAP die Wehrmachtseelsorge zu ersetzen beginnt. Hitler war im Laufe des Russlandfeldzuges, so schreibt Goebbels im Dezember 1941 in seinen Tagebüchern, zu der Auffassung gelangt, dass die Bolschewisten nicht fromm  seien und doch "tapfer und zäh" kämpften. Wie die SS. Mehr und mehr übernahmen jetzt Nationalsozialistische Führungsoffiziere die Funktion der Wehrmachtsgeistlichen. Man könnte auf die Idee kommen, Hitler und die Seinen hätten da etwas von der Sowjetunion gelernt und ihr deren Politkommissare abgeguckt. Wahrscheinlich gibt es darüber schon größere Arbeiten.

Dagmar Pöppings Skizze der Arbeit der kleinen Gruppe (insgesamt 1342 Wehrmachtspfarrer während des Zweiten Weltkrieges) an der Ostfront eröffnet immer wieder Perspektiven auf das Ganze nicht nur des Krieges, sondern auch auf die vielen Mittel und Wege, wie wir uns unser Versagen zurechtlügen und darauf, wie wenig uns unsere Überzeugungen helfen, wenn es darauf ankommt. Ich wüsste gerne, wie in Smolensk, Charkow oder vor Stalingrad über die Bergpredigt gesprochen wurde. Geschah das jemals?

Dagmar Pöpping: Kriegspfarrer an der Ostfront - Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941-1945, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 275 Seiten, 70 Euro.