Vom Nachttisch geräumt

Der Puppenspieler von Wasserburg

Von Arno Widmann
19.03.2018. Hat das Ganze im Griff: Martin Walser im Gespräch mit Sohn Jakob Augstein
"Ein Gespräch" ist der Untertitel des Buches. Es wird so getan, als würden Gespräche wiedergegeben, die der neunzigjährige Martin Walser mit seinem fünfzigjährigen Sohn Jakob Augstein geführt hat. Vielleicht verhält es sich wirklich so. Aber es drängt sich doch der Eindruck auf, dass der alte Hexenmeister es wieder einmal geschafft hat, einen dicken Brocken hinzulegen, eine faszinierende Lebensgeschichte, ein immer wieder verblüffendes Raisonnement. Beide Gesprächspartner klingen wie Walser, nein wie von Walser erfunden.

Gesprächsbücher gibt es seit knapp zweieinhalbtausend Jahren. Dieses ist eines der ergreifendsten. Wie die meisten seiner Vorgänger ist auch dieses über weite Strecken ein Interview. Der Junge befragt den Vater. Der Reiz dieses Buches besteht einerseits in den verblüffenden Antworten, auch in dem immer wieder sich von beiden Seiten einschleichenden gereizten Ton, andererseits aber in den nicht seltenen Augenblicken, in denen der Leser Einblick in die Produktion dieses 'Gespräches' erhält. Ellenlange Zitate werden herangezogen. Zitate aus Walsers Büchern, aus Goethe und Jean Paul. Es wird nicht festgehalten, was den beiden in dem Moment des Gesprächs zur Verfügung stand, sondern es wird angeschleppt, was, wie sie finden, hinein muss. Der normale Reiz eines Gesprächsbandes - das Festhalten eines ganz bestimmten Augenblicks der Spontaneität - fehlt also?

Nein. Er wird in der Postproduktion nachgeliefert. So wie Walsers Monologe aufgebrochen werden mit nachträglich eingeschobenen Augstein-Fragen. Man lese das hoch spannende Geld-Kapitel daraufhin durch. "Verdienst Du jetzt gut?", "Schreibst Du, um Geld zu verdienen" - das sind Fragen, die gestellt werden, damit der Befragte die von ihm längst vorbereiteten Antworten loswerden kann. Der ganze Band lebt nicht von der Neugierde des Fragers, sondern von dem Mitteilungsbedürfnis des Befragten. Die Vater-Sohn-Konstellation erlaubt dem Erzähler, plausibel zu machen, dass der Befragte sich so weit hinauswagt. Der Sohn kann anders fragen, als ein beliebiger Journalist. Die Wahrheit ist aber: Das alles ist eine Fiktion. Es ist ein Walser-Roman, ein sehr schöner, ein sehr lesenswerter, ein komischer und der eines Autors, der wie ein alter Zauberer nicht mehr davor zurückschreckt, seine Tricks zu verraten.

Manchmal sieht man ihn wie einen Marionettenspieler die Fäden an seinen Protagonisten ziehen. Es gibt Menschen, die wollen das nicht sehen. Sie wollen betrogen sein. Das Buch kommt ihnen entgegen. Es wird ihnen nicht schwerfallen, sich wie die Kinder ganz auf die beiden Gesprächspartner zu konzentrieren und die langen Beine des Marionettenspielers oder seine über den Figuren ständig agierenden Hände zu übersehen. Aber es gibt auch Leser, die genießen gerne beides: die Vorstellung und den Regisseur. Zum Beispiel die Stelle, an der die beiden über Walsers Roman "Tod eines Kritikers" und sein Verhältnis zu Reich-Ranicki sprechen. An deren Ende stellt Jakob Augstein die Frage: "Bist du verbittert?" Walser antwortet: "Wenn man mich fragt, neige ich zu der Antwort, dass ich erfahrungsgesättigt bin." Das ist der Schlusssatz dieses Kapitels. Augsteins Frage ist der Knopf, auf den der Autor Walser drückt, um eine fertige Pointe loszuwerden, die er seiner Figur Martin Walser in den Mund legt. Wir sehen einem Dramatiker bei der Arbeit zu, wie er Szenen kreiert, in denen seine Figuren auf Ideen, auf Formulierungen kommen. Die in Wahrheit natürlich nicht in diesen Situationen entstanden, denn diese Situationen hat es nie gegeben. Sie sind die Erfindung des Autors.

Das zu beobachten, macht "Das Leben wortwörtlich" zu einer so interessanten Lektüre. Lesen Sie den Titel noch einmal: "Das Leben wortwörtlich". Was heißt das? Es heißt, aus der Nähe betrachtet, gerade nicht, was man beim flüchtigen Lesen zu lesen glaubt. Es heißt nicht, dass hier ein wirkliches, ein lebendiges Gespräch wörtlich wiedergegeben wird. "Leben wortwörtlich" heißt: Das hier ist das Leben in Wörtern. Man versteht es nicht, wenn man nicht den Stolz darin hört, den Spaß auch, den es macht, nicht nur sich selbst, sondern auch noch seinen Widerpart darstellen zu können. Wer das tut, hat das Ganze im Griff. Eine Illusion. Sicher. Aber eine Folge von Illusionen, von immer neuen Annäherungen an die Realität, wird der ähnlich bis ganz nahe an die Übereinstimmung. Wenn man das nun gar seit siebzig Jahren macht und immer noch machen kann, dann liegt der Hauptspaß nicht mehr in der Erzeugung der Illusion, sondern darin, ihre Fabrikation zu zeigen, ohne ihr Abbruch zu tun.

Martin Walser, Jakob Augstein: "Das Leben wortwörtlich - Ein Gespräch", Rowohlt, Reinbek 2017, 352 Seiten, 19,95 Euro.
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