Vom Nachttisch geräumt

Die ganz andere Lebenserfahrung des Vaters

Von Arno Widmann
14.05.2018. "Im Kreis treibt die Zeit" - Sigrid Damm reist zurück in ihre Geburtsstadt Gotha.
Die 1940 geborene Sigrid Damm umkreiste Jahrzehnte lang Johann Wolfgang Goethe. Sie schrieb über Jakob Michael Reinhold Lenz, über Caroline Schlegel-Schelling, über Cornelia, Ottilie und Christiane Goethe, über Schiller. Dann endlich auch über Goethe selbst. Ihre Bücher verbanden stets das Interesse am Intimen mit dem am Schreiben, mit dem Alltagsleben, ja mit der Ökonomie. Sigrid Damm ist eine unserer großen Erzählerinnen. Gerade in ihren Sachbüchern. Sie hat darum nicht nur Leser und Leserinnen. Sie hat eine Gemeinde. Ihr neuestes Buch vereint die Qualitäten von Sigrid Damm für die Darstellung eines Unbekannten. "Im Kreis treibt die Zeit" ist ein Porträt ihres Vaters, eine Geschichte Deutschlands, der DDR und der Gegenwart. Sie reist zurück nach Gotha, wo sie geboren wurde und siebzehn Jahre lang lebte. Sie reist mit ihrem "Liebsten", ihrem "Gefährten". Aus dieser Gegenwart fällt ein sanftes Abendlicht auf die schrecklichen Geschichten, die sie aus Kriegen und Bürgerkriegen erzählt.

Wir erfahren wieder einmal den Vorteil der Konzentration. Ich weiß nicht, ob irgendjemand wusste, dass in Gotha vor einhundert Jahren erst einmal die USPD regierte, bis dem die SPD 1919 ein Ende machte. Berlin marschierte in Gotha ein. In den Artikeln, die im November 2018 geschrieben werden, wird dieser kurze Abschnitt der Revolutionsgeschichte wahrscheinlich ausgespart werden. Die großen Erzählungen ersticken die kleinen, die aber erst das Leben ausmachen.


Panorama Gotha, Blick von der Margarethenkirche in Richtung Weststadt. Bild: Von muelli24, CC BY-SA 3.0, Link (Wikipedia)

Am Anfang des Buches wundert man sich, was alles noch so ist wie früher. Sigrid Damm ging den gleichen Schulweg wie ihr Vater, ihr Taufkleidchen ist auch das ihrer Enkelin. Das Restaurant, in dem sie mit ihrem Gefährten sitzt, ist dasselbe, in dem sie mit ihrem Vater saß. Hier ist so viel Kontinuität, so viel ist geblieben. Ganz spät im Buch wird der Leser aufgeklärt. Gotha hat es einem einzigen Mann zu verdanken, dass es nicht zerstört wurde. Der Mann hieß Josef von Gadolla, Oberstleutnant. Er war seit dem 1. Februar 1945 der Kampfkommandant des festen Platzes Gotha. Sein Amt und Auftrag war: "Kampf bis zum letzten Mann". Am 3. April 1945 näherten sich amerikanische Truppen. Gadolla befiehlt, als Zeichen der Kapitulation weiße Fahnen zu hissen. Er fährt nachmittags den Amerikanern entgegen. SS-Leute halten ihn auf. Sie wollen kämpfen. Als er es zwischen 19 und 20 Uhr noch einmal versucht, wird er von Wehrmachtsangehörigen des Landesverrats bezichtigt und nach Weimar gebracht. Die weißen Fahnen zu entfernen, gelingt den Hitlertreuen nicht. Das US-Geschwader, das am 4. April ausgeschwärmt war, um Gotha zu vernichten, sieht die weißen Fahnen und schwenkt um nach Nordhausen.

Sie erzählt vom Vater, der Angestellter eines jüdischen Bankhauses gewesen war und dem von den Nazis der Vorwurf gemacht wurde, er habe "die neue Zeit noch nicht verstanden". An dieser Stelle stehen zwei Sätze: "Die Indoktrinierung: die Minderwertigkeit der jüdischen Rasse. Die ganz andere Lebenserfahrung des Vaters." Man glaubt das zu wissen, aber hier - in dieser Gegenüberstellung - wird es erst wirklich klar, wozu Ideologie da ist. Sie soll Erfahrung zerstören. Sie ist nicht der Versuch, aus Gedanken ein System zu machen. Das ist sie auch. Aber ihr Kern ist: Vernichtung der Erfahrung. Was die Menschen gesehen, gerochen, in Händen gehalten, woraus sie sich einen Reim gemacht haben, soll keine Geltung mehr haben. Es zählt nur, was die herrschende Ideologie sagt.

Es gibt im Buch eine beeindruckende Passage, die zeigt, wie weit Sigrid Damm, die ja auch in den Fängen einer sehr massiv herrschenden Ideologie aufwuchs, sich davon entfernte. Es geht um Wasser, um die Versorgung der Stadt Gotha mit Wasser. Im 14. Jahrhundert wurde der Fluss Leina durch einen dreißig Kilometer langen Kanal nach Gotha umgeleitet. Innerhalb von zehn Jahren soll man das geschafft haben. Sigrid Damm erspart dem Leser ein Blinzeln über den Flughafen Schönefeld, das ich mir nicht verkneifen kann. Der Bau der Eisenbahnstrecke Ende des 19. Jahrhunderts machte eine Änderung erforderlich. Das Wasser wurde über ein Aquädukt geführt. Sigrid Damm hatte es als Schülerin gesehen. Ihr Gefährte fragt: Gibt es das noch? Sie suchen und finden es. Mit Mühe. Das ist der Erfahrungshunger, von dem die Bücher Sigrid Damms nicht nur erzählen. Sie leben von ihm.

Sigrid Damm: Im Kreis treibt die Zeit, Insel, 278 Seiten, 22 Euro
Stichwörter