Vom Nachttisch geräumt

Ein Mann - ein Wort

Von Arno Widmann
11.05.2015. Dankeschön an den lieben Gott: Der Journalist Willi Winkler macht eine Fußwallfahrt von Hamburg nach Altötting
Seit Jahrzehnten nehme ich mir nichts mehr für das neue Jahr vor. Ich weiß, dass ich es eh nicht machen werde. Ich bewundere Menschen, die zu dem stehen, was sie sagen. Ich bewundere Willi Winkler. Vor fast zwanzig Jahren legte er das Gelübde ab, dass er, falls die FDP einmal aus dem Bundestag fliegen werde, eine Fußwallfahrt von Hamburg nach Altötting machen werde. Im Jahre 2013 war es soweit: Die FDP, in fast allen Regierungen der Bundesrepublik Deutschland vertreten, fiel unter die fünf Prozent. Willi Winkler zog in der Vorweihnachtszeit die Stiefel an und machte sich auf den Weg, dem Herrn des Universums dafür zu danken, dass er dem Journalisten der Süddeutschen Zeitung den Gefallen getan und die FDP aus dem Rennen genommen hatte. Glücklicherweise beließ es Winkler nicht beim Dank an den Schöpfer und Vernichter, sondern er machte aus seiner Wallfahrt ein Buch. Es heißt leider "Deutschland, eine Winterreise".

Warum leider? Der Titel sagt doch nur, worum es geht. Es werden aber vielleicht doch noch mal zweihundert Jahre vergehen müssen, bis eine Winterreise wieder einfach eine Winterreise sein kann und nicht mehr nach Schubert klingt. Winklers Buch funktioniert wie solche Fußgänger-Road-Stories eben funktionieren. Es gibt im Wesentlichen drei Dinge: die Straße, die Füße und die Vergangenheit. An Winklers Buch gefällt mir, dass die Straße immer wieder vorkommt. Wenn er ein paar Seiten in den Abgründen seiner historischen Kenntnisse verschwand, taucht der Erzähler plötzlich wieder auf auf der Landstraße "in der verlässlichen Begleitung des Feierabendverkehrs" auf. Den Großteil seiner Wallfahrt verbringt Winkler dort. Schon die Vorstellung, auch nur fünfhundert Meter auf glitschiger Straße gegen immer neue Lastwagen angehen zu müssen, treibt mir den Angstschweiß auf Nacken und Stirn. Willi Winkler macht das fast achthundert Kilometer lang. Es ist Dezember. Die Tage sind kurz. Immer wieder verläuft er sich - nicht auf den Landstraßen, aber in den Ortschaften, die seine Etappenziele sind. Eine falsche Abzweigung und er ist mit schmerzenden Füßen, kaputten Knien noch eine Stunde länger unterwegs. "Wie jeden Abend beim Auspacken und Umziehen kurz das Bedürfnis, sich zu kratzen, mit den Fingernägeln tief hineinzugraben ins geschwollene Muskelfleisch, den Druck unter der Haut zu lindern und vor allem die Schmerzen."

Diese Passagen mag ich besonders. Ich genieße sie. Sie geben mir recht. Winkler ist verrückt. Er martert sich. Ich brauche dieses Gefühl, im Recht zu sein in meinem Sesselfett, denn vor allem bin ich natürlich neidisch. Auf seinen Mut im Kampf gegen den Straßenverkehr, auf sein Durchhaltevermögen, auf seine Entschlossenheit und auf alles, das er sieht und erlebt auf dieser Reise. Es ist - denke ich - schade, dass er immer wieder von der Geschichte erzählt, von Arno Schmidt in Bargfeld oder vom kaiserlichen Feldmarschall von Tilly. Die Gegenwart wird merkwürdig eingeschränkt. Sie besteht fast nur aus Weihnachtsmärkten, Herbergsvätern, Joggern und Winklers Knie. Es gibt keine Industrie, allenfalls Gewerbeparks. Nirgends wird etwas produziert, keiner forscht. Deutschland lebt nicht mehr. Winklers Wallfahrtsbericht ist ein Nachruf. Von meinem Sessel aus, kann ich schlecht gegen Winklers Erfahrung argumentieren. Vielleicht hat er recht und wir Unbewanderten hängen noch einer Illusion nach. In Wahrheit sind wir doch wieder bei Schubert. Der starb allerdings - in Wien übrigens - 1828. Erst nach seiner Winterreise kam - gut oder schlecht - die industrielle Revolution.

Willi Winkler: Deutschland, eine Winterreise, Rowohlt - Berlin, Berlin 2014, 173 Seiten, 18,95 Euro.
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