Vom Nachttisch geräumt

Früchte der vollendeten Zivilisation

Von Arno Widmann
03.06.2015. Maximen und Reflexionen des Philosophen im Boudoir: Karl Lagerfeld über die Welt und das Leben.
Ein Buch wie aus den Anfängen der Überlieferung. Neutestamentler gehen davon aus, dass die Evangelisten Matthäus und Lukas neben dem Markus-Evangelium noch einen heute nicht mehr existierenden Text verwendet hätten. Er soll nur aus Äußerungen Christi bestanden haben. Logienquelle nennt die Wissenschaft ihn. Im Falle von Karl Lagerfeld kann ich sagen, ist die Logienquelle zu haben und in ihrer Buchhandlung zu bestellen. Dass sie neben und nach Lagerfeld-Biografien besteht, zeigt, dass Textproduktion nicht immer vom einfachen zum komplexen geht - wie die Neutestamentler sich das denken -, sondern dass auch aus ausformulierten Geschichten Sprüche (Logien) gepresst werden können.

Man findet dasselbe übrigens auch in der islamischen Überlieferung, wo es neben dem Sprachkunstwerk Koran die Hadithe gibt. Das sind Anekdoten mit Aussprüchen des Propheten. Im Buddhismus ist es nicht anders. Natürlich gibt es die französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, die ihre Gedanken demonstrativ unsystematisch, anekdotisch ausbreiteten. Sie wollten gerade keine Religion gründen, sondern bevorzugten die literarische Form der Bemerkung gerade darum, weil sie als Zwischenruf und nicht als Dekret daherkam. Aber der Zenbuddhismus zeigt, dass keine Bemerkung zu nebensächlich sein könnte, als dass sich nicht doch noch eine Lehre daraus zimmern ließe.

Das Schicksal der Logien des Karl Lagerfeld liegt also bei ihren Lesern. Sie sind nicht brillant formuliert, sondern hingeworfen. Aber gerade darin liegt ihr Reiz. Wie Lagerfeld zum Beispiel darauf hinweist, dass er selbst nie geraucht, nie getrunken, nie Drogen genommen habe, aber nur Leute mag, die kiffen und trinken, also all das tun, was er nicht tut. Der Leser glaubt Lagerfeld zunächst nicht seine Tugendhaftigkeit. Aber dann sieht er jemanden, der die Selbstzerstörung der anderen beobachtet und daraus den Genuss der Differenz saugt und denkt sich: So kann es sein. Zum Genre der Logienquelle gehört die Lust, sich zu widersprechen. So stehen untereinander diese beiden Sätze: "In meinem Alter brauche ich kein sexy Muskelpaket mehr zu sein, nein danke." Und: "Meine Muskeln sind alle wieder da und ich könnte zur Not den Bademeister spielen, aber das ist nicht mehr meine Rolle." Ich mag die Selbstverständlichkeit, mit der Lagerfeld hier nahezu ununterbrochen von nichts anderem spricht als von sich: "Wenn man kurzsichtig ist und die Brille abnimmt, sieht man in den ersten zehn Minuten aus wie ein Hund aus dem Tierheim, der adoptiert werden möchte. Und das ist wirklich nicht mein Look." Aber so schaut er aus. Will es aber ums Verplatzen nicht. Darum die Sonnenbrille. So genau sich selbst zu sehen und dann sich selbst entsprechend - oder besser widersprechend - umzugestalten, das ist eine große, beneidenswerte Begabung.


"Bücher sind eine harte Droge, mit der man keine Überdosis riskiert." "Ich bin in einer Hafenstadt geboren, in Hamburg, über die meine Mutter sagte: "Das ist das Tor zur Welt, aber eben nur das Tor. Also musst du hier raus!""

Lagerfeld hat "die Pflege des Selbst", eine antike Tugend und Lebenspraxis wiederbelebt und uns vorgeführt, wie viel Fantasie, Arbeitskraft und Disziplin dazu gehört, man selbst zu sein. "Wie kann man sich langweilen", sagt Lagerfeld, "bei allem, was es zu sehen, zu lesen, zu lernen und zu erfinden gibt?" Die Wahrheit ist: Wie kann man sich langweilen, wenn man mit Karl Lagerfeld zusammen und außerdem noch Karl Lagerfeld ist? "Ich mache nichts in Bezug auf andere. Ich mache alles nur in Bezug auf mich selbst." Genau so ist es. Und genau so ist es nicht. Der Satz bezieht seinen Reiz ja aus der - für Lagerfeld äußerst lukrativen - Tatsache, dass diese angeblich absolute Ichbezogenheit ihn zu einem der sozialsten Wesen der Epoche gemacht hat. Seit Jahrzehnten folgen Millionen Langerfelds angeblich ganz persönlichem Geschmack. In Wirklichkeit ist er ein Herdentier, das davon lebt, so zu tun, als habe es mit der Herde nichts zu tun.

Das ist eine Haltung, die viele der Gattung Homo sapiens gerne einnehmen würden. Mit dabei sein und sich doch unterscheiden. Anerkannt, belohnt, ja geliebt werden, nicht weil man eins mit den anderen ist, sondern um der Differenz willen. Aber Lagerfeld, der an anderer Stelle sagt, Ratschläge habe er weder angenommen noch ausgeteilt, warnt dann - wohl auch sich: "Wenn die Menschen für das, was sie gemacht haben, geliebt werden wollen, sollten sie lieber aufhören." Aber sie können nicht. Sie schieben immer noch eins nach. Sie wollen, dass man sie aus dem Tierheim ihres eigenen Selbst befreit, sie wollen von Außen adoptiert werden. Wem das sein Leben lang gelang, der kann leicht so tun, als legte er genau darauf keinen Wert. Das weiß Karl Lagerfeld: "Ob ich weiß, wie viel auf meinem Konto ist? Das ist eine Frage für arme Leute, möchte man darauf antworten." Zum Schluss noch Lagerfeld in zwei Sätzen: "Betrachten Sie das Leben durch die rosa Brille. Aber tragen Sie sie nicht!"

Karl: Über die Welt und das Leben, hrsg. von Jean Christophe Napias und Sandrine Gulbenkian, Edel Books, Hamburg 2014, mit einem Vorwort von Patrick Mauriès, Illustrationen von Charles Ameline, aus dem Englischen von Eva Plorin und Brita von Maydell, 176 Seiten, 50 s/w Abbildungen, 22 Euro.
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