Vom Nachttisch geräumt

Nirgendwo ein Liebesverrat

Von Arno Widmann
22.12.2016. In Wu Cheng'ens Roman- klassiker "Die Reise in den Westen" kommen die größten Weisheiten aus den ungewaschensten Mäulern.
Ohne Zweifel das wichtigste Buch, das dieses Jahr in Deutschland erschien: "Die Reise in den Westen" von Wu Cheng'en (etwa 1500 bis 1582). Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, die Bibel sei das erfolgreichste Buch der Weltliteratur. Ein großer Irrtum. "Die Reise in den Westen" hat in den letzten fünfhundert Jahren mächtig aufgeholt. Es ist die Geschichte vom Mönch Xuanzang, der sich nach Indien, ins Heimatland Buddhas aufmacht. Ihn begleiten ein schrecklich aussehender Halbdämon und eine Mischgestalt aus Schwein und Mensch sowie der eigentliche Held der Geschichte, der aufrührerische Affenkönig Sun Wukong. Eine schon sehr eigentümliche Reisegesellschaft.

Aber natürlich verfügt auch jeder von ihnen über Zauberkräfte. Keiner ist einfach der, der er ist. Jeder schleppt nicht nur - wie wir im Westen des Westens, von dem der Roman erzählt, glaubten, bis wir die Gene entdeckten - die eigene Vergangenheit mit sich herum, sondern die all seiner vergangenen Reinkarnationen. Da passiert natürlich jede Menge mehr als in einem bürgerlichen Roman, der sich zwischen Salon und Kontor abspielt und nichts liegt der "Reise in den Westen" ferner als den Liebesverrat als das Zentrum der Weltgeschichte zu betrachten.

Wu Cheng'en ist ein Zeitgenosse von Cervantes und Shakespeare. In diese Reihe gehört er. Auch ihm wird alles zum Stoff. Was er berührt, was er sieht, was er hört, wovon er träumt voller Angst und voller Glück, kommt in seine Erzählung. Nichts bleibt liegen, alles wird hineingestopft. Nicht in zierlichen Versen - an denen fehlt es natürlich auch nicht -, sondern wie der Eilige alles in seinen Koffer wirft und den Rest in eine riesige Plastiktasche, so sammelt Wu Cheng'en alles auf. Er will überwältigen. Mit immer neuen Einfällen, mit Überraschungen, mit grotesken Volten. Wir wissen heute, wie schön Langeweile sein kann. Von dieser Ästhetik aber hält Wu Cheng'en nichts. Er macht Fantasy. Aber das ist doch langweilig! Sagen Sie. Nicht bei Wu Cheng'en. Der liebt die Parodie. Die größten Weisheiten kommen bei ihm an den unvermutetsten Stellen und aus den ungewaschensten Mäulern. Der Plot selbst ist schon eine Riesengaudi.


Wie nach ihnen noch viele andere haben die Shaw Brothers im Hongkong der Sechziger "Journey to the West" in einer Serie verfilmt. Dieser umwerfende Trailer zeigt, wo die Reise damals lang ging.

Diesem Heidenspektakel von einem Roman liegt die wohl wahre Legende vom frommen Mönch Xuanzang zugrunde, der während der Tang-Dynastie (618 - 907) von China nach Indien reiste, um die Lehren des Buddhismus zu erforschen. Er brachte Handschriften mit, übersetzte sie und verbreitete Buddhas Lehren im konfuzianischen, daoistischen China. In der chinesischen buddhistischen Tradition ist Xuanzang so etwas wie der Heilige Bonifatius im christlichen Deutschland. Man stelle sich vor, jemand würde sich trauen, ähnlich profan mit dem Apostel der Deutschen umzuspringen.

Die europäische Aufklärung hat allenfalls mit Rabelais und zwei Handvoll inzwischen längst vergessener Humanisten etwas hervorgebracht, das wir Wu Cheng'en an die Seite stellen könnten. Keiner sitzt bei ihm herum und entmythologisiert. Nein: Der einen völlig verrückten Geschichte wird eine andere, noch verrücktere nachgeworfen. Es gibt Konservierungspillen, es wird über Meere gesprungen und kaum zehn Seiten, in denen nicht eine Prügelei stattfindet. Ein kannibalistischer Dämonenkönig scheint der Reise schon nach wenigen Tagen ein Ende machen zu wollen. Der Mönch wird von einem alten Mann gerettet, als er sich bei ihm bedanken will, verwandelt der sich in "einen lichten Windstoß" und steigt auf einen weißen Kranich. Er verschwindet in den Himmel. Aus dem aber fällt ein Zettel auf dem - in Versen - steht: "Ich bin Taibai, der Abendstern, vom Westhimmel kam ich her, denn die Rettung deiner Seele eigens hier mein Auftrag war. Auf der Reise werden euch Götter stets zur Seite stehen; auch in Nöten sollt ihr Buddhas heilige Schriften nie verschmähn."

Als sie vor einem Fluss stehen und nichts als Wasser sehen, springt der Affenkönig in die Lüfte und sagt: 800 Meilen breit ist er. "Woher willst Du das wissen?", fragt nicht Kant, sondern das Mischwesen aus Mensch und Schwein. Der Affenkönig erklärt ihm: "Mit meinen Augen kann ich bei Tageslicht alles erspähen, was innerhalb von tausend Meilen liegt. Zwar habe ich aus der Höhe nicht ermessen können, wie lang der Strom ist, doch die Breite wird an die achthundert Meilen betragen." Auch das Fantastische lässt sich höchst vernünftig vortragen. Wu Cheng'en spielt mit allen Registern. Er glaubt seine Geschichten und er glaubt sie nicht. Manchmal hat man den Eindruck, der Erzähler selbst sei verblüfft. Man sieht ihn, wie er sich amüsiert über das, was ihm ein- und zufällt. Der Klamauk, die Kämpfe, die Tode und die Wiedererweckungen sind aber, so sehr der hingerissene Leser dazu neigt, das in diesem fantastischen Taumel zu vergessen, nicht nur eine durch Groteskspiegel betrachtete Lebensreise, sondern gehören zu einer Geschichte, die durch tausendfache Verwicklungen auf die Erlösung der Pilger hinausläuft. Die ja eine Erlösung vom Rad der Wiedergeburten bedeutet, auf das die Protagonisten seit Jahrhunderttausenden gespannt sind. Heilsgeschichte als Nietzsches fröhliche Wissenschaft.

Jedes Kapitel endet mit einem Cliffhanger. Das ist ein in den Roman hinübergerettetes Element des mündlichen Erzählens. Und so durchquert man, hat man sich erst einmal auf das Buch eingelassen, womöglich auch diesen gewaltigen Ozean der Erzählungsströme irgendwann noch einmal in diesem Abschnitt des Lebensrades."Die Reise in den Westen" wurde unzählige Male in viele, viele Sprachen übersetzt. Ins Deutsche - soweit ich weiß - dreimal. Aber jetzt endlich einmal vollständig. Ich kann die Qualität der Übersetzung nicht beurteilen. Ich weiß nur: Sie säuft sich weg. Das Buch wurde immer und immer wieder verfilmt, vertheatert und veropert. Es wurde als Comic und Computerspiel unter die Leute gebracht. Es gibt 50-teilige Animationsfilme, die die Geschichte der Reise nach dem Westen erzählen. Fast ebenso umfangreiche Fernsehserien wurden produziert. Nun also endlich auch ungekürzt auf Deutsch. Niemand wird es ganz lesen. Aber darin stöbern sollte jeder. Viele werden dann nicht davon lassen können. Wu Cheng'en macht süchtig.

Wu Cheng'en: Die Reise in den Westen - Ein klassischer chinesischer Roman, mit 100 Holzschnitten nach alten Ausgaben, übersetzt und kommentiert von Eva Lüdi Kong, Reclam Verlag, Stuttgart 2016, 1320 Seiten, 88 Euro.