Vom Nachttisch geräumt

Der schöne Aberglaube

Von Arno Widmann
22.12.2016. Kalendereinträge Sigmund Freuds von 1916 - 1918 zeigen: Betroffenheit war seine Sache gerade nicht.
Fast so etwas wie ein Kriegstagebuch Sigmund Freuds (1856 - 1939) sind diese Kalendereinträge der Jahre 1916 bis 1918. Rechts die Fotos der originalen Kalenderseite, links der transkribierte Text. Der würde uns freilich nicht viel weiterhelfen, wären da nicht die hervorragende Einführung von Michael Giefer und die die Kalendernotizen erst verständlich machenden ausführlichen Erläuterungen von Giefer und Christfried Tögel. Das sieht dann zum Beispiel so aus: Am 6. Mai lautet der erste Eintrag: "62 J.", also 62 Jahre. Dazu die Erläuterung der Herausgeber: "Seit seiner Freundschaft mit Wilhelm Fließ spielte Zahlenmystik in Freuds Leben immer wieder eine Rolle.

So brachte er z. B. in einem Brief von 16.4.1909 seine Überzeugung zum Ausdruck, dass er zwischen seinem 61. und 62. Geburtstag sterben würde. In der Analyse dieser Überzeugung habe er entdeckt, dass sie im Jahre 1899 entstanden sei, während er an der Traumdeutung schrieb und gleichzeitig eine neue Telefonnummer erhielt: 14362. Sein Alter sei damals 43 gewesen, was läge also näher, als dass die anderen Ziffern sein Lebensende bedeuten sollten. 'Der Aberglaube, dass ich zwischen 61 und 62 sterben werde, stellt sich äquivalent der Überzeugung heraus, dass ich mit der 'Traumdeutung' mein Lebenswerk vollendet habe, nichts mehr zu machen brauche und ruhig sterben kann.' Allerdings konnte er diese 'Überzeugung' auch ironisch relativieren. An Ferenczi  schrieb er: 'Der schöne Aberglaube mit den 62 muss jetzt endgültig aufgegeben werden. Es ist doch gar kein Verlass mehr auf die Übernatürlichkeit.'" So viel Bewusstes und Unbewusstes hinter "62 J."!


Sigmund Freud und seine Söhne Jean-Martin und Ernst 1916 während eines Fronturlaubs

Ich wusste nicht, dass Freuds Aufsatz "Trauer und Melancholie" im Jahre 1915 entstand. Ich hatte ihn als einen merkwürdig vorsichtigen, ja uninspirierten Text in Erinnerung. Jetzt, da ich weiß, wann Freud ihn schrieb, lese ich natürlich zum Beispiel diesen Satz ganz anders: "Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw." Die geliebte Person und das Vaterland - darum ging es Freud, als er diese Zeilen schrieb. Ich hatte nichts davon gespürt. Freuds drei Söhne waren im Krieg. Er war in Wien, 58 Jahre alt und hatte Angst. Und das Vaterland? Auf das war kaum noch zu setzen. Freud schrieb in einem andern Brief: "Es ist mir ganz unmöglich, etwas Vernünftiges zu machen. Ich lebe wie die übrigen von einem deutschen Sieg zum anderen und quäle mich inzwischen mit der Angst vor neuen Komplikationen, Neutralitätsbrüchen usw."

Das ist der Freud, der "Trauer und Melancholie" schrieb. Die kurzen Kalendereinträge und die ausführlichen Erläuterungen der Herausgeber helfen mir, die so trocken erscheinenden Kriegsarbeiten Freuds zu verstehen. Sie sind so, weil Freud mit allen Mitteln verhindern wollte, dass etwas zu Persönliches in seine Wissenschaft vom Persönlichen hinüberschwappt. "Betroffenheit" war seine Sache gerade nicht. Vielleicht konnte er sie darum analysieren wie kaum ein anderer vor ihm.

Der vorletzte Eintrag des Kalenders ist vom 5. Dezember 1918 und lautet: "Vorlesungen 2 Aufl u Sammlung IV. Heller 16,900 K". Freud notiert hier, dass die 2. Auflage der "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" bei Heller erschienen war und auch die vierte Folge "Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre". Das Honorar von 16 900 Kronen entspricht, so klären einen die Herausgeber auf, einem heutigen Betrag von 20 000 bis 28 000 Euro.  Der letzte Eintrag stammt vom 8. Dezember 1918 und hält die Geburt eines Enkels fest. Die Mutter stirbt im Januar 1920 und ihr Sohn, Freuds freudig begrüßter Enkel, schon 1923.

Sigmund Freud: Die Kalendereinträge von 1916 - 1918, herausgegeben und kommentiert von Michael Giefer und Christfried Tögel, Stroemfeld, Frankfurt/Main, Basel 2016, 275 Seiten, zahlreiche Fotos, 38 Euro.