Vom Nachttisch geräumt

Spülen und abtrocknen

Von Arno Widmann
01.08.2018. Betsy Lerners "Der Bridge-Club meiner Mutter" erzählt die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung.
Es ist wohl mehr als ein Vierteljahrhundert her. Ich schäme mich noch immer, wenn ich daran denke und ich denke oft daran. Sie hatte mich eingeladen nach Mexiko, in ein wunderschönes Haus. Es stand auf einem Hügel. Wenn ich morgens aufwachte und zum Fenster ging, blickte ich hinaus auf zwei Meeresbuchten, die fünf Minuten Wegs unter mir lagen. Ich verbrachte die Tage mit Lesen und Schwimmen. Jeden Mittag gegen eins kam ich hoch, wir aßen zusammen, dann spülte sie das Geschirr, ich trocknete ab, wir unterhielten uns dabei. Danach gingen wir ins Wohnzimmer und spielten eine Stunde oder auch eineinhalb Rommé. Mal mit Spielsteinen, mal mit Karten. Eines Tages sagte mir meine Mutter, als wir in der Küche mit dem Geschirr beschäftigt waren: "Ich freue mich so, dass Du jeden Tag mit mir Karten spielst. Ich weiß, Du würdest lieber unten liegen und lesen. Aber ich genieße es so, wenn wir zusammen spielen. Du tust mir einen riesigen Gefallen." Ich schämte mich und ich schäme mich noch immer. Meine Mutter, die Jahre ihres Lebens darangegeben hatte, mich aufzuziehen, zerfloss vor Dankbarkeit, dass ich einen Monat lang jeden Tag eine Stunde mit ihr Karten spielte. Es geht nicht gerecht zu auf der Welt, und ich profitiere von dieser Ungerechtigkeit.

Dieses wahrscheinlich doch weit länger als ein Vierteljahrhundert zurückliegende Küchengespräch mit meiner Mutter hat mich nach "Der Bridge-Club meiner Mutter" von Betsy Lerner greifen lassen. Die Stunde, die ich mit meiner Mutter allein spielte, war ja nur eine von vielen Stunden, die sie am Kartentisch zubrachte. Am späteren Nachmittag kamen ihre mexikanischen Freundinnen aus den anderen Häusern und ein halbes Dutzend alter Damen - so kamen sie mir damals vor - spielte nicht Bridge, aber wohl Skat oder andere mir gänzlich unbekannte Kartenspiele. Nie wurde um Geld gespielt. Aber die Punkte wurden sorgsam in Hefte notiert, von denen ich viele im Nachlass meiner Mutter fand. Sie war Buchhalterin gewesen, protokollierte akribisch wohl jedes Spiel. Selbst die mit mir, obwohl da völlig klar war, dass ich jedes verlor. Ich fand im Nachlass übrigens auch Hefte, in denen sie Tag für Tag ihre Blutdruckwerte eingetragen hatte. Die hob ich auf.

Als meine Mutter wieder in Deutschland lebte, spielte sie jeden Tag Karten. Die Damen besuchten einander reihum. Nach und nach starben die Skatpartnerinnen. Am Ende blieb meiner Mutter nur eine Freundin. Sie besuchten einander. Sonntags bekam die Freundin Besuch von ihren nicht weit entfernt wohnenden Söhnen, da war meine Mutter allein und legte Patiencen. Manchmal, wenn ich zu Besuch kam, spielte ich ein, zwei Partien Rommé mit ihnen. Das Spiel langweilte sie, aber sie fanden es angenehm, einen 'jungen' Mann am Tisch zu haben. Schon darum war es ihnen lieber, mein Sohn war dabei. Der ja auch viel besser spielte.

Die Bridge Ladies Bea Phillips, Bette Horowitz, Betsys Mutter Roz Lerner, Jackie Podoloff und Rhoda Meyers


Sie finden, ich soll endlich über Betsy Lerners "Der Bridge-Club meiner Mutter" schreiben? Es gibt Bücher, die entführen ein nicht in ihre, sondern in die eigene Welt. Lerner hat lange als Lektorin gearbeitet. Seit 2005 ist sie Partnerin einer großen Literaturagentur, die unter vielen, vielen anderen Patti Smith und Neil deGrasse Tyson vertritt. Betsy Lerner hat eine Reihe erfolgreicher Bücher geschrieben und sie hat einen Blog: www.betsylerner.com. Jeder endet mit einer Frage. Auf den "Bridge-Club ihrer Mutter" hatte sie stets herabgeschaut. Sie war vor der biederen Welt in New Haven nach New York geflohen. Dort fand sie sex, drugs and rock'n roll. Von allem ein bisschen. Nichts, was ihr Leben wirklich hätte gefährden können. Der Feminismus bestärkte sie in ihrer Abwehr von ihrer Herkunft. All das spielt in dem Buch keine Rolle. Es ist aber das Hintergrundgeräusch, der ferne Klang. Jetzt nämlich lebt sie wieder in New Haven, nur ein paar Autominuten von ihrer Mutter entfernt.

Beide sind älter geworden. Betsy Lerner versteht immer noch nicht, wie ihre Mutter aufgehen konnte in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter. Ihre Mutter begreift nicht, was die Tochter so toll findet an ihrer Existenz. Dabei liest sie, weiß also den Unterschied zwischen gut und schlecht gebauten Sätzen zu schätzen. Der "Bridgeclub meiner Mutter" ist die Geschichte einer Annäherung, bei der man sich nicht über die Unterschiede hinweg mogelt. Betsy Lerner beginnt zu begreifen, dass Kartenspielen ein Weg ist, sich nahe zu kommen, ohne einander auf die Nerven zu gehen.

Betsy Lerner: "Der Bridgeclub meiner Mutter", aus dem Amerikanischen von Barbara von Bechtolsheim, btb, München 2016, 349 Seiten, 20 Euro.